Franz Grillparzers Gedicht „Kuß“

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FRANZ GRILLPARZER

Kuß

Auf die Hände küßt die Achtung,
Freundschaft auf die offne Stirn,
Auf die Wange Wohlgefallen,
Sel’ge Liebe auf den Mund;
Aufs geschloßne Aug die Sehnsucht,
In die hohle Hand Verlangen,
Arm und Nacken die Begierde;
überall sonst die Raserei.

um 1850

 

Konnotation

In seiner „Selbstbiographie“ hatte der österreichische Dramatiker und Dichter Franz Grillparzer (1791–1872) dereinst vermerkt, dass in ihm „zwei völlig abgesonderte Wesen (leben). Ein Dichter von der übergreifendsten, ja sich überstürzenden Phantasie und ein Verstandesmensch der kältesten und zähesten Art.“ Der Sohn eines Advokaten mochte in seinen Dramen noch so oft die Balance zwischen Gewissen und Handeln durchspielen und der Rationalität den Vorrang geben – in seinen Gedichten gelangen ihm einige meisterhafte Szenen der Liebe.
Dieser kleine lyrische Traktat ist über 150 Jahre nach seiner Entstehung noch immer die knappste und treffendste Kulturgeschichte der erotischen Zeichenhaftigkeit des Küssens geblieben. Ausgerechnet Grillparzer, der zeit seines Lebens fast nur Verluste geliebter Menschen erlitt – seine Mutter und sein jüngster Bruder starben durch Selbstmord –, hat hier die Differenzen zwischen dem freundschaftlichen Kuss und den symbolischen Formen von „Begierde“ und „Raserei“ exakt benannt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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