GEORG HEYM
Der Regen ist vorbei. Die Bäume rücken ferne
Und werfen sich in ihren grauen Schatten,
[Und] langsam gehn herauf die ,blassen‘ Sterne.
Ein weißer Rauch hüllt alles in den Wiesen.
Die weißen Wege sind wie Haar verschlungen,
Und suchen sich in fernen Dämmerungen.
Die Menschen stehen um die Teiche oben,
Und sehen schwankend sich im Grunde wieder,
Mit Köpfen schwach und lächerlich verschoben.
1911
Eine danteske Szenerie zeigt dieser im Oktober 1911 von Georg Heym verfasste lyrische Entwurf. Durch die Reduktion landschaftlicher Motive entsteht vor dem Auge des Lesers eine eisige Ödnis, in der jede räumliche Zuordenbarkeit sich auf ein optisches Spiel reduziert: Die auf dem eingefrorenen Teich stehenden Menschen können wie durch ein Fenster auf sich selbst herunterblicken, als befänden sie sich mit ihrem, auf dem Eis gespiegelten Bild, gleichsam unter Wasser.
Dieser Entwurf zeigt ein für Heym typisches Motiv. Unter anderen unheimlichen Traumgeschehen beschäftigt Heym der Tod durch Wasser in mehreren seiner Gedichte, besonders prominent in seinen Ophelia-Gedichten. Eine ähnliche Szenerie beschrieb der Dichter in einer Traumaufzeichnung, in der dem Sturz durch die Eisdecke jedoch die wundersame Ankunft in einer sandigen, sonnigen Bucht folgt. Im wahren Leben hatte Heym nicht so viel Glück, der 1887 im heute polnischen Jelenia Góra (zu Deutsch Hirschberg) geborene Dichter ertrank 1912 beim Schlittschuhlaufen auf der Havel.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar