GEORG TRAKL
Sommer
Am Abend schweigt die Klage
Des Kuckucks im Wald.
Tiefer neigt sich das Korn,
Der rote Mohn.
Schwarzes Gewitter droht
Über dem Hügel.
Das alte Lied der Grille
Erstirbt im Feld.
Nimmer regt sich das Laub
Der Kastanie.
Auf der Wendeltreppe
Rauscht dein Kleid.
Stille leuchtet die Kerze
Im dunklen Zimmer;
Eine silberne Hand
Löschte sie aus;
Windstille, sternlose Nacht.
nach 1910
Die Zeit steht still, die Geräusche des Tages verstummen und die Natur hält für einen Moment den Atem an – aber die Bedrohung weicht nicht. Bei Georg Trakl (1887–1914), dem prophetischen Dichter der Düsterkeiten und Höllenstürze, sammeln sich selbst in der hellen Jahreszeit die Zeichen des Untergangs. Sein Sommerbild zeigt das Schweigen der Natur als Vorbote eines größeren Unglücks.
In den Gedichten des 1915, nach Trakls Tod publizierten Bandes Sebastian im Traum findet sich im Kapitel „Gesang des Abgeschiedenen“ das „Sommer“-Gedicht. Es ist noch nicht ganz in jene alogisch-verrätselte Bildlichkeit hineingetrieben, in der die späten Gedichte Trakls ihre Topik der Verzweiflung entwerfen. Aber die für den lyrischen Zeitgenossen der Expressionisten typischen Naturzeichen und Farbkompositionen sind präsent: das „schwarze Gewitter“, der „rote Mohn“, die „silberne Hand“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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