GOTTFRIED BENN
Letzter Frühling
Nimm die Forsythien tief in dich hinein
und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen
mit deinem Blut und Glück und Elendsein,
dem dunklen Grund, auf den du angewiesen.
Langsame Tage. Alles überwunden.
Und fragst du nicht, ob Ende, ob Beginn,
dann tragen dich vielleicht die Stunden
noch bis zum Juni mit den Rosen hin.
1955
aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte 1. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. von G. Schuster. Klett-Cotta. Stuttgart 1986
Hier registriert ein Ich das Herannahen des Lebensendes. Der Dichter Gottfried Benn (1886–1956), der in vielen seiner späten Gedichte auf den „dunklen Grund“ aller Existenz verweist, singt ein ergreifendes Abschiedslied – das motivisch mit dem Wachstumsgeschehen von Blumen verbunden wird. In den 327 Gedichten der Gesammelten Werke, so haben Benn-Exegeten ausgerechnet, halten 634 Nennungen Blumen, Bäume und Gärten fest. Sie sind fast alle eingebunden in einen melancholischen Kontext: in das Erlebnis der Trauer des Daseins, des taedium vitae.
Seit Goethe gilt die Natur als klassisches Mittel zur Beschwichtigung für die moderne Seele, die stets in Aufruhr ist wegen einschneidender Verlusterfahrungen. Benns Blumen-Vermischungsphantasie knüpft hier an. Das 1955 im Gedichtband Aprèslude erstmals veröffentlichte Gedicht ist Teil des pathetisch aufgeladenen „Nachspiels“, das Benn um sein „spätzeitliches“ Ich herum inszeniert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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