HARALD HARTUNG
Kandis
Mich zogs ins abgedunkelte Zimmer wo
Großmutter lag und lächelte wenn ich kam
Ihr Lächeln fein und altmodisch sagte mir
Du darfst vom Kandis nehmen bediene dich!
Dann wies sie auf die Lade und hüstelte
als wäre sie des Kandis bedürftig und
beglückt von meiner Zartheit. Ich griff beherzt
nach jenen braunen Bröckchen und gab ihr ab
Sie nahm nur wenig lächelte fein und matt
Ihr Lächeln wurde matter von Tag zu Tag
Vom Foto blickte Opa als Hindenburg
auf sie herab, ich schlich wie ein Dieb hinaus
2003
aus: Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004. Wallstein Verlag, Göttingen 2005
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, hat schon Jean Paul (1763–1825) festgestellt. In diesem Paradies haben auch die Gedichte des Lyrikers und Literaturkritikers Harald Hartung (geb. 1932) ihren Ort gefunden. Sein an angelsächsischen Vorbildern geschulter Realismus nährt sich von einer berückenden Fähigkeit zur lakonischen Vergegenwärtigung des Vergangenen.
Hartungs poetische Momentaufnahmen vermeiden jedes Pathos zugunsten einer poetischen Verhaltenheit, die mitunter ans Understatement grenzt. Die kleinen unspektakulären Dinge, in diesem Fall die farbigen Zuckerkristalle, werden hier zum stillen Träger der Erinnerung. Im „Kandis“ ist Geschichte gespeichert – und hinter dem Familienidyll lugt auch schon der Schrecken der großen Geschichte hervor. Die kleine Kindheits-Szene verbirgt den Niedergang eines ganzen Zeitalters, in der ein Feldmarschall noch als Held gelten konnte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar