HELMUT HEISSENBÜTTEL
Heimweh
nach den Wolken über dem Garten in Papenburg
nach dem kleinen Jungen der ich gewesen bin
nach den schwarzen Torfschuppen im Moor
nach dem Geruch der Landstraßen als ich 17 war
nach dem Geruch der Kommißspinde als ich Soldat war
nach der Fahrt mit meiner Mutter in die Stadt Leer
nach den Frühlingsnachmittagen auf den Bahnsteigen der Kleinstädte
nach den Spaziergängen mit Lilo Ahlendorf in Dresden
nach dem Himmel eines Schneetages im November
nach dem Gesicht Jeanne d’Arcs in dem Film von Dreyer
nach den umgeschlagenen Kalenderblättern
nach dem Geschrei der Möwen
nach den schlaflosen Nächten
nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte
nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte
1951/52
aus: Helmut Heißenbüttel: Kombinationen. topographien. Lyrikedition 2000, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2000
Fast scheint es, als würde Helmut Heißenbüttel (1921–1996), der Großmeister der experimentellen Literatur, in diesem frühen Gedicht von 1951/1952 vorsätzlich gegen sein Programm der „antigrammatischen Phantastik“ verstoßen. Als Theoretiker hatte der Autor stets eine Dichtkunst gefordert, in der „vielfach die grammatische Logik gegen sich selbst gekehrt“ wird. Als Dichter riskierte er dann manch privatistische Notiz, in der autobiographische Realitätspartikel inventarisiert werden.
In der Art einer leisen Litanei werden die Impressionen aus der versunkenen Kinderzeit, aus Jugend und frühem Erwachsenenleben heraufgerufen. Das Ich sammelt Gerüche der Kindheit, Empfindungen von Landschaften und Jahreszeiten, aber auch ästhetische Eindrücke. Am Ende stehen dann ganz leise, stille Momente. Die sinnliche Welt ist dem Ich zuletzt fast völlig entzogen, um so weiter öffnet sich dem Schlaflosen der Raum der Sehnsucht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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