HERTA MÜLLER
Es gibt Tage, schwer wie Erde leer,
wie Wasser – manche Leute saufen
sich den Kapitän schön andere ziehen
auf dem Boulevard in der Innenstadt
den Hut im Quadrat ich stelle
manche Tage meinen Wecker auf
die Küchenwaage
wir wohnen hier im zehnten Stock – nur
gehört unser Wohnblock schon ab Schulterhöhe zur
himmlischen Monokultur sagt Zacherl der Herr
Veterinär vom Hippodrom er sitzt schräg
und richtet sich mit dem Teelöffel die Haare,
wenn ich ihn zu lang im Spiegel seiner
Tasse reden lasse obendrein zieht er
ein Stück extrafeinen Draht aus seinem Jackett
sehr zu empfehlen gegen die Nervosität
meint er wirklich sehr
2000
aus: Herta Müller: Im Haarknoten wohnt eine Dame. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000
Es ist ein eigentümlich schwarzer Surrealismus, mit dem sich die Dichterin und Erzählerin Herta Müller (geb. 1953) an die verstörenden Urszenen und Traumata aus ihrer rumänien-deutschen Herkunftswelt herantastet. Traumfragmente, Zufallsfunde aus Zeitungen, Alltagsrede oder Kinderreime werden in einer makabren Collagen-Poesie zusammengeführt. Eine bizarre Traumlogik diktiert die Verse – in denen ständig gefährliche Überraschungen lauern.
Zwischen „Wohnblock“ und „Boulevard“ wird das Ich von rätselhaften Vorkommnissen heimgesucht – diese Ereignisse fügen sich nirgendwo zu einer überschaubaren Ordnung, die ein logisches Ganzes ergäbe. Der Wecker auf der Küchenwaage findet zum „Herrn Veterinär vom Hippodrom“ wie in jener legendären, vom Surrealisten Lautréamont (1846–1870) geschilderten Begegnung „zwischen einem Regenschirm und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“. Stets tauchen in diesen Collage-Gedichten Zeichen des Unheimlichen auf – in diesem Fall ein „extrafeiner Draht“. Ist er nicht ein grausiges Tötungsinstrument?
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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