HILDE DOMIN
Schöner
Schöner sind die Gedichte des Glücks.
Wie die Blüte schöner ist als der Stengel
der sie doch treibt
sind schöner die Gedichte des Glücks.
Wie der Vogel schöner ist als das Ei
wie es schön ist wenn Licht wird
ist schöner das Glück.
Und sind schöner die Gedichte
die ich nicht schreiben werde.
1970
aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987
Die Beschwörung der Schönheit und glückseliger Zustände hat die Lyrik der Moderne oft mit skeptischem Vorbehalt versehen oder vollständig durch radikalen Zweifel zersetzt. Wenn Hilde Domin (1909–2006) in ihrem dritten Gedichtband Hier (1970) diese Zustände unversehrter Schönheit und Glückseligkeit herbeizitiert, dann klingt das zunächst wie eine Vision der Befreiung, wie eine heilgeschichtliche Suggestion. Aber in die Zuversicht mischt sich eine Negation.
Die beiden Schlussverse irritieren. Denn es sind die ungeschriebenen Gedichte, die vom lyrischen Ich als „schöner“ empfunden werden – nicht die geschriebenen. Die „Gedichte des Glücks“ – sie sind nicht einholbar durch die Schrift des lyrischen Subjekts. So wird man durch die Negation zurückverwiesen auf die dunkle Rückseite der „Schönheit“ – auf die Poesie, die, belehrt durch geschichtliche Erfahrung, vom Unglück spricht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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