Die einzige formbildende Geste, die ich einigermassen beherrsche, ist ausser der Schrift die Photographie, die ja ihrerseits, dem griechischen Begriff nach, Lichtschrift ist. Wenn ich photographiere, habe ich allerdings nicht das Gefühl und komme auch nicht auf den Gedanken, mit Licht zu schreiben.
Photographie – ich arbeite am liebsten mit ganz einfachen Geräten, mit Einweg- oder Kinderkameras – hat für mich zwei hauptsächliche Funktionen oder Aufgaben. Die eine, erste Aufgabe besteht darin, aus dem sich darbietenden Gesichtsfeld einen Ausschnitt zu wählen, der seinerseits ein eigenständiges kontextfreies Bild abgibt – nicht primär ein Bild von etwas, sondern ein Bild als etwas, nämlich als solches, als es selbst. Diese Eigenständigkeit oder Selbstgenügsamkeit ist nur dann zu erreichen, wenn das photographische Bild, statt technisches Abbild eines konkret vorhandnen Vorbilds zu sein, in einer Weise strukturiert wird, die es von seinem Gegenstand abhebt.
Die zweite Aufgabe besteht darin, einen unsichtbaren, möglichst einfachen Raster zu wählen, durch den ein wie immer gearteter Realitätsausschnitt in eine neue bildnerische Ordnung gebracht wird und autonome Gestalt gewinnt. Die Rasterung ergibt sich, noch während ich – meist in frontaler An- oder Aufsicht des Objekts – den Ausschnitt wähle, aus elementaren Lineaturen wie Symmetrieachsen (senkrecht/waagrecht), Diagonalen, Parallelen, die nach Möglichkeit rechtwinklig aufeinander oder auf den Bildrand bezogen werden.
Das so entstehende, von der Realität abstrahierte Lichtbild ist schliesslich kaum noch als Ausschnitt erkennbar, vielmehr zeigt es sich als das Bild, das ich mir mache, indem ich es tatsächlich ausschneide und abziehe von dem, was sich innerhalb meines Gesichtsfelds insgesamt darbietet.
So entstehen, zumeist im Hinblick auf Alltagsgegenstände, Architektur oder Landschaft, Bilder von ausgeprägt ornamentalem, flächenhaftem, statischem Charakter – Bilder, die man sich durchaus auch gemalt vorstellen könnte. Kurven und Rundformen haben in meinen Aufnahmen keine merkliche strukturbildende Funktion, Menschen und Tiere kommen als Sujets nicht vor. Es gibt keine Schnappschüsse, es werden keine Bewegungsabläufe, keine Szenen festgehalten. Festgehalten werden – ohne jedes Arrangement, ohne jede Änderung – Konstellationen von Formen und Farben, aus denen sich, unabhängig von motivischen Realitätsbezügen, das Bild aufbaut. Massgebend ist der Ausschnitt, den ich – meine einzige autonome Geste! – wähle, um in seinem vorgegebnen Rahmen vorgegebne Formen zur Geltung zu bringen, indem ich sie zueinander und gleichzeitig in Bezug auf die Bildränder in ein gespanntes Verhältnis bringe. Diese Spannung hat ausschliesslich mit formalen Proportionen und farblichen Relationen zu schaffen, die ich bei der Wahl des jeweiligen Ausschnitts selbst festlege, ohne dafür objektive Kriterien angeben zu können. Das Bild wird also aufgrund irgendwelcher Gegenständlichkeiten aufgenommen, nicht aber um diese Gegenständlichkeiten als solche festzuhalten, sondern um, von ihnen ausgehend, ein Bild zu gewinnen, das für sich besteht, das «gegenständlich» nur noch der Spur nach ist, das aber anderseits einen Weltausschnitt sichtbar werden lässt, dessen Wirklichkeit erst im Bild und nur als Bild wahrgenommen wird.
So wie ich beim Photographieren mit den bildnerischen Formalien verfahre, tu ich’s – der Vergleich ist riskant, aber tauglich – beim Schreiben von Gedichten; auch hier geht es mir darum, bereits vorhandne (in diesem Fall sprachliche) Formen auf knappem Raum in immer wieder neuen Konstellationen vorzuführen, sie mithin durch immer wieder neue Wechselbeziehungen auch immer wieder neu hörbar, sichtbar, lesbar zu machen.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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