Hilde Domins Gedicht „Spätsommer“

HILDE DOMIN

Spätsommer

Da du die Zeitung liest
sehe ich das Gras an,
grünes neues Gras
unter dem gelben.

Wenn du sehr liebst,
werden die Haare wieder dunkel.
Wenn du sehr liebst,
werden die Haare weiß.

1959/60

aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987

 

Konnotation

Ein Spätsommertag, zwei Liebende im Gras. Allerdings auf Abstand. Die Sehnsucht des Ich nach Nähe findet zunächst keine Resonanz. Der Augenblick gelingt nicht. Denn das Du des Gedichts, der Geliebte, verbarrikadiert sich hinter einer Zeitung. So sind es die Naturzeichen, die sprechen: von Vergänglichkeit.
Hilde Domins (1909–2006) Gedicht ist um 1959/60 in Spanien entstanden, kurz bevor ihre lange Irrfahrt durch ganz Europa zu Ende ging und sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dichter und Philologen Erwin Walter Palm (1910–1988) nach Heidelberg zurückkehrte. 1932 hatte ihre gemeinsame Flucht vor den Nazis begonnen, die zunächst nach Italien und England und schließlich in die Dominikanische Republik führte – ein Dichterpaar in poetischer Symbiose. Die Vergänglichkeit, so will es diese lyrische Liebeserklärung Hilde Domins, kann der innigen Verbundenheit zwischen Ich und Du nichts anhaben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00