JAKOB HARINGER
Beim Eingraben
Und bin ich tot, nur eines ist mir leid:
Die viele bittre ungelebte Zeit.
Zum Leben hab ich doch die schöne Zeit bekommen…
Und doch hat sie der Tod vorweg genommen.
O du mein totes, ungelebtes Leben!
Wird mir der Tod dafür ein Leben geben?
nach 1930
Privatdruck
Zur Verzweiflung hatte der ruhelose Vaganten-Poet Jakob Harinqer (1898–1948) allen Grund. Seit den frühen 1920er Jahren irrte er durch Österreich; seine Schriften, die er nur im Selbstverlag publizieren konnte, schickte er, verbunden mit Bettelbriefen, an Kollegen und potentielle Geldgeber. So hielt er sich dank prominenter Unterstützer wie Arnold Schönberg und Alfred Döblin einige Jahre über Wasser, bis ihn die nationalsozialistische Kulturpolitik zum Volksfeind erklärte und Haringer in die Schweiz fliehen musste. Dort starb er 1948 in bitterer Armut.
Haringers Ich wählt hier die post-mortale Perspektive, um eine ganz finstere Lebensbilanz zu ziehen. Das hier entworfene Dasein steht ganz im Zeichen des Verlustes, des ungelebten Lebens. In bitterem Sarkasmus wird der Tod als einzige Sphäre der Hoffnung benannt; die mögliche Grenzüberschreitung in einen neuen Zustand nach dem Tod war für den Verzweiflungspoeten Haringer nur eine lächerliche Illusion.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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