Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Das Ei“

Beitragsbild rechts für Lyrikkalender reloaded

JOACHIM RINGELNATZ

Das Ei

Es fiel einmal ein Kuckucksei
Vom Baum herab und ging entzwei.

Im Ei da war ein Krokodil;
Am ersten Tag war’s im April.

1912

 

Konnotation

Der Dichter, Zeichner und Kabarettist Joachim Ringelnatz (1883–1934) wurde bekannt für seinen frechen Umgang mit der Gedichttradition. In seinen Versen treiben grelle Farben; es wird eine Welt gemalt, die auf Höhepunkte zufliegt und an Absurdität kaum zu übertreffen ist. Doch weit davon entfernt, deswegen Unsinnspoesie zu sein, zeigt sich, dass ein Ringelnatz-Gedicht raffiniert mit dem realen Nonsens der Gesellschaft spielt, die ihm Unsinn unterstellt.
Von Anfang bis Ende durchzieht ein Widerspruch diese zwei mal zwei Zeilen. So entpuppt sich das vorn Baum gefallene Ei sprichwörtlich als Kuckucksei, dem statt eines Vogelkükens ein Krokodiljunges entschlüpft. Die Groteske wird auf die Spitze getrieben, wo es um die Datierung des Geschehens geht. „Am ersten Tag war’s im April“: Fiel also das Ei während des ersten Aprils vom Baum oder brauchte es mehrere Tage, bis es auf dem Boden aufschlug? Am Ende steht eine absurde Verballhornung der Schöpfungsgeschichte, an deren Anfang der Fall eines Kuckuckseis steht und nicht die Erschaffung von Himmel und Erde.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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