Johann Gottfried Herders Gedicht „Der Augenblick“

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JOHANN GOTTFRIED HERDER

Der Augenblick

Warum denn währt des Lebens Glück
Nur einen Augenblick?
Die zarteste der Freuden
Stirbt wie der Schmetterling,
Der, hangend an der Blume,
Verging, verging.

Wir ahnen, wir genießen kaum
Des Lebens kurzen Traum.
Nur im unselgen Leiden
Wird unser Herzeleid
In einer bangen Stunde
Zur Ewigkeit.

um 1780

 

Konnotation

Mit seiner international ausgerichteten Sammlung volksliedhafter Poesie, den Stimmen der Völker in Liedern, hat der Dichter, Prediger, Polyhistor und Sprachforscher Johann Gottfried Herder (1744–1807) um 1778 die erste bedeutende Anthologie im Sinne einer Weltliteratur angeregt. Als Dichter stand er stets aber im Schatten seiner schwierigen Freunde Goethe und Schiller. Dass er poetisch mit ihnen durchaus konkurrieren kann, zeigt sein melancholisches Denkbild über den Augenblick und die Vergänglichkeit.
Von der Anschaulichkeit und Sinnlichkeit der von ihm gesammelten und übersetzten Volkslieder hat Herder in seinen eigenen Gedichten profitiert. Als poeta doctus, der eine berühmte Abhandlung über den Ursprung der Sprache verfasst hatte (1770), arbeitete Herder mit den stärksten Lockmitteln der Poesie: mit dem Reim und der Wiedererkennbarkeit der Motive. Die wehmütige Klage über das vergängliche Sekundenglück verschärft sich in der zweiten Strophe zur Ahnung ewigen Leidens.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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