JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Rastlose Liebe
Dem Schnee, dem Regen,
Dem Wind entgegen,
Im Dampf der Klüfte,
Durch Nebeldüfte,
Immer zu! Immer zu!
Ohne Rast und Ruh!
Lieber durch Leiden
Möcht’ ich mich schlagen,
Als so viel Freuden
Des Lebens ertragen.
Alle das Neigen
Von Herzen zu Herzen,
Ach wie so eigen
Schaffet das Schmerzen!
Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens!
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh,
Liebe, bist du!
1776
Die Goethe-Forschung begreift dieses Gedicht als frühes Zeugnis seiner Liebe zu Charlotte von Stein, einer verheirateten und streng nach den Konventionen lebenden Frau, die den jungen Dichterkönig (1749–1832) bewunderte und förderte, ihn aber auch in seine Schranken wies.
Es gibt eine Abschrift dieses Gedichts durch Johann Gottfried Herder, nach der man seine Entstehung auf April oder Mai 1776 datieren kann. Goethes Ode weist der Liebe die Attribute der Rast- und Ruhelosigkeit zu. In der ersten Strophe sieht sich das Ich den wilden Naturmächten gegenüber, in der zweiten werden die Lust am Leiden und der Schmerz mit der Liebe verknüpft. Die Schluss-Strophe erhebt die Liebe von einer profanen zu einer religiösen Instanz: zur „Krone des Lebens“. Die Verheißung des Eros bezahlt man aber mit lebenslanger Ruhelosigkeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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