Alles und noch viel mehr

Sex − das heisst: Natur (und keineswegs:) Liebe − bestimmt den Lauf aller Dinge, den unaufhaltsamen Fortschritt zur Entropie, zum Ende hin. Die autopoetische Dämonie der Geschlechtlichkeit, ihrerseits ein Wunder von Ingeniosität und Selbsterfüllung, begründet das fatale Prinzip, stets alles und noch viel mehr zu wollen − alles machen und haben zu wollen, nur weil’s möglich und lustvoll ist, ungeachtet des Fluchs der qualvollen Geburt, ungeachtet auch dessen, dass niemand seine Zeugung und sein Zur-Welt-Kommen jemals gewünscht haben könnte.
Man stelle sich statt dessen vor: Der Akt der Zeugung, der Empfängnis wäre ab morgen (oder ab nächstem Jahr) für jedermann mit schlimmer körperlicher Qual verbunden, die Geburt hingegen – ein einziger Orgasmus über Stunden, über Tage hin. Das würde die Nachwuchsrate naturgemäss drastisch reduzieren, hätte zur Folge, dass Sex nur noch aus triftigen Gründen und Wünschen, nicht mehr aus Zufall oder Willkür stattfinden würde. Ob das aber ausreichte zur Überlebenssicherung der Menschheit?
Und übrigens: Wie würde sich die Weltbevölkerung unter dieser Prämisse entwickeln? Die Weltwirtschaft? Die internationale Politik? Das Gesellschaftsleben? Die Menschenrechtslage? Religion, Ethik, Kunst? − Wie sähe die Literatur, die Dichtung aus, wenn das Schreiben mit physischem Schmerz, allenfalls sogar mit Lebensgefahr verbunden wäre?
Vielleicht also doch lieber dem Interesse der Natur unterworfen bleiben!

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Die Natur ist auf Kultur, auf Zivilisation nicht angewiesen, sie ist. Zivilisation und Kultur sind gemacht, sind „naturgemäss“ verzichtbar.
Überdauern wird zuletzt − nach letzten Katastrophen und Kriegen − eine Natur mit ohne Menschen, sich zurückverwandelnd in urweltliche Wälder und Wüsten.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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