JUSTINUS KERNER
Der Einsame
Wohl gehest du an Liebeshand,
Ein überselger Mann;
Ich geh allein, doch mit mir geht,
Was mich beglücken kann.
Es ist des Himmels heilig Blau,
Der Auen Blumenpracht,
Einsamer Nachtigallen Schlag
In alter Wälder Nacht.
Es ist der Wolke stiller Lauf,
Lebendger Wasser Zug,
Der grünen Saaten wogend Meer
Und leichter Vögel Flug.
Du ruhst im zarten Frauenarm,
Am Rosenmund voll Duft;
Einsam geh ich, im Mantel spielt
Die kühle Abendluft.
Es kommt kein Wandrer mehr des Wegs,
Der Vogel ruht im Baum;
Ich schreite durch die düstre Nacht,
In mir den hellsten Traum.
1826
Mit der ihm eigenen „helldunklen Mischung der Empfindung“ (Wilhelm Müller), einer Melange aus Daseinszugewandtheit und zarter Wehmut, beeindruckte der schwäbische Dichterarzt, Naturforscher und Okkultist Justinus Kerner (1786–1862) seine Zeitgenossen ganz enorm. Der Protagonist der schwäbischen Romantik favorisierte volkstümliche Formen, Romanzen und Balladen. In legendenartigen Märchen und Sagen besang er elementare Erfahrungen wie Liebe und Tod und zog sich im biedermeierlichen Geiste meist auf das Gottvertrauen und die Demut zurück.
Das harmonische Ineinander von Subjekt und Natur vermag keine Intervention von außen zu stören. Der sich hier in „zarte Liebeshand“ begibt, ist unbeirrt in seiner Hoffnung auf „Beglückung“. Und selbst die hereinfallende Nacht bringt keine Unruhe. Denn „der Einsame“, der hier in romantischer Waldumgebung dahingeht, wird durch den „hellsten Traum“ der drohenden Melancholie entrückt. Das Gedicht erschien 1826 in der ersten Sammlung von Kerners Poesie.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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