LIOBA HAPPEL
ICH HABE EINEN APFEL GEGESSEN
Er war makellos giftig und rund
Ich habe ein stilles Tier verschluckt
In der Farbe eines mythos-verwobenen Morgen
Ich war böse gewesen und jetzt lächle ich
Ich war zornig
Und jetzt danke ich Gott
Für einen letzten glücklichen Tag
nach 2000
aus: Park. Zeitschrift für Literatur, Heft 59/60. Berlin 2005
Der Apfel ist ein berühmtes mythisches Objekt. Antike Erzählungen berichten, dass Dionysos, der Gott der Fruchtbarkeit, die Apfelbäume schuf und Aphrodite, der Göttin der Liebe, die Liebesfrucht schenkte. Die biblische Genesis erzählt vom Fehlgriff Evas zur verbotenen Frucht, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte. Im „Schneewittchen“-Märchen der Gebrüder Grimm spielt der vergiftete Apfel eine zentrale Rolle. In diese Motivgeschichte des Apfels taucht auch das Gedicht der 1957 geborenen Lioba Happel ein.
Bereits in Lioba Rappels Band Der Schlaf überm Eis (1995) dominierten Verzweiflungsbilder der Kälte, Vereisung, Entfremdung und Erstarrung. Das lyrische Ich des nach 2000 entstandenen Gedichts nimmt nun auf vielfache Weise Abschied von der Welt und schickt noch eine bittere Danksagung an Gott. Märchenmotive wehen heran, mit ihnen auch naive Redegesten, die dann wieder mit ebenso emphatischem wie irritierendem Ernst vertrieben werden. Hier spricht ein Ich, das erkennt, dass die Zeit des Glücks unwiderruflich vorbei ist.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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