MARTIN WALSER
23.
Ich bin ein Baum mit bösen Ästen
und keinem Himmel über mir.
Ich niste in bemalten Resten
und spiele das Unschuldstier.
nach 2000
aus: Martin Walser: Das geschundene Tier. Neununddreißig Balladen. Zeichnungen von Alissa Walser. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007
Von Beginn seiner literarischen Karriere an exponierte sich Martin Walser (geb. 1927) als streitbarer Autor und Bürger. Dabei scheute er nicht die Rolle des Renegaten. Die Außenseiterfiguren seiner Romane bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle und dem persönlichen Anspruch, dem sie folgen wollen. In einer Art Realismus zweiten Grades tritt die Handlung hinter dieses Wechselspiel zurück, um den eigenen Motiven und als äußerlich angenommenen Forderungen die volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Als „Geschundenes Tier“ stilisiert sich Walser im gleichnamigen Buch, das 39 als Balladen ausgegebene Gedichte und Notate versammelt. In diesem Vierzeiler kleidet sich der Autor in die Rolle eines vermeintlichen Unschuldstieres, das, als „Baum mit bösen Ästen“ und ebensolchen Wurzeln keinen Himmel über sich duldet. Dieser Vierzeiler markiert ein poetologisches Statement, dessen holpernder vierter Vers rhythmisch bewusst einen Widerspruch anzeigt.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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