MAX HERMANN-NEISSE
Nacht in der Emigration
Nachts bin ich ganz allein im Weltenraum,
fern allen Freunden, die mich längst vergaßen.
Die sieben Stock hoch über Londons Straßen
verlocken leicht zu manchem Selbstmord – Traum.
Die Katze mir zu Füßen hat die Ruh
als ihr Gehäus. Die Frau an meiner Seite
schloss sich im Schlaf wie eine Blume zu,
ihr Atem nur gibt sanft mir das Geleite.
Da draußen sind die Sterne und der Mond
und werden unser Leben überdauern.
Nachtwandlerisch umschleicht mein Wunsch die Mauern,
dem Frieden fremd, der hinter ihnen wohnt.
Und alle Leute, die das Dunkel haucht,
verwandeln jäh sich in ein kurzes Schweigen.
Dann taumle ich benommen und verbraucht
ins Frühlicht, dessen Züge bleich sich zeigen.
1936
aus: Max Hermann-Neiße: Heimat fern. Gedichte. Aufbau Verlag, Berlin 1985
Max Hermann-Neiße (1886–1941) hat einige der bewegendsten Exil-Gedichte der deutschen Literaturgeschichte geschrieben. Der Sohn eines oberschlesischen Gastwirts und einer Bauersfrau debütierte 1911, im Aufbruchsjahr des literarischen Expressionismus, mit Gedichten in der legendären Zeitschrift Die Aktion und nahm bald Kontakt auf mit linksanarchistischen Kreisen in Berlin. 1933 floh der politisch exponierte Dichter vor den Nazis nach England, wo seine großen Gedichte entstanden.
Die lyrische Selbstvergewisserung eines Emigranten, der vor nächtlichem Himmel sein Verlorensein besingt, entstand 1936. Im gleichen Jahr hatte der Exil-Schriftsteller Ernst Toller (1893–1939) seinem Freund eine Geburtstagsfeier arrangiert, die den Einsamen einige Augenblicke lang aus seinem Weltgefühl des Verlassenseins befreite. Die Schlaflosigkeit ist Max Hermann-Neiße dennoch nicht losgeworden. 1941 erlag er in London einem Herzschlag.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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