Denken an frischer Luft, Meditieren und Reflektieren beim Schreiten, Steigen, Klettern am Berg! − Friedrich Nietzsches ebenso ironische wie ernsthafte Empfehlung ist von der Schulphilosophie über Jahrhunderte hin kaum beachtet und noch weniger genutzt worden. Arthur Schopenhauer als notorischer Lustwandler, Lew Schestow als Alpinist, Walter Benjamin als grossstädtischer Flaneur, Martin Heidegger beim Ausschreiten von Holzwegen und Lichtungen − sie repräsentieren einen Denkertypus, der seine Einsichten und seine Produktivität nicht allein aus Büchern gewinnt, sondern auch, vielleicht mehr noch, aus der eigenen körperlichen Konstitution, aus der Schritt- und Reichweite seiner Extremitäten, aus Atem und Herzrhythmus. Sören Kierkegaard scheint beides, Denken und Schreiten, enggeführt zu haben, indem er stunden-, nächtelang in seiner Wohnung wippend auf und ab ging; fehlte nur die frische Luft.
Demgegenüber hält sich nach wie vor das vom Heiligen Hieronymos geprägte Image des Denkers „im Gehäus“, der sich kaum von der Stelle rührt, nur hin und wieder in der Mähne seines Löwen krault − als Zeuge einstiger Wildheit und Freiheit liegt das domestizierte Raubtier friedfertig zu seinen Füssen.
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Auch wenn heute für manch einen zünftigen Philosophen (wie für Geisteswissenschaftler generell) das Flugzeug zum mobilen „Gehäus“ oder „Gestell“ zwischen interkontinentalen Kongressdestinationen wird, bleiben sie − und grade auch die Grössten unter ihnen − für das ausseruniversitäre Publikum weiterhin mit dem Makel der „Weltfremdheit“ behaftet. Kann man sich einen Luhmann, einen Blumenberg, einen Habermas als Sportler, als Bergsteiger oder auch bloss als Spaziergänger vorstellen! Und wenn sie sich doch einmal der frischen Luft ausgesetzt hätten? Dann würden sie sofort erkennbar als Repräsentanten jener mehrheitlichen Denker, die schon nach ein paar Schritten in eine Grube stürzen, auch wenn sich diese unmittelbar vor ihnen auftut; doch sie übersehen sie (und mit ihr die widerständige und abgründige Welt) weil ihr Geist immer schon anderweitig zugang ist, ihr Kopf suchend zum Himmel gereckt oder resigniert auf die Brust gesenkt.
Im Hintergrund lacht, Hände in die Hüften gestemmt, die getreue thrakische Magd, die ohne Schulweisheiten auskommt: Vor dem Fall in die Grube ist sie jederzeit durch realistische Umsicht und gesunden Menschenverstand gefeit.
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Erasmus von Rotterdam hat sich in seinem fulminanten Lob der Torheit (geschrieben „auf dem Lande“ um 1508) über die Erdabgewandtheit und die Lebensferne der Weisen amüsiert; und mehr als das − er hat ihre abgehobene Intelligenz als eine besondere Form von Dummheit angeprangert, als eitle, unergiebige, ausserdem qualvolle Wahrheitssuche ohne jeden Realitätsbezug und Alltagsnutzen. Gleichzeitig belobigte er die „Weisheit“ der Toren, der pragmatischen Tatmenschen, der gedankenlosen Träumer und spontanen Lebenskünstler, die sich diesseits von abstrakter Begrifflichkeit, von Normen und Gesetzen, von Moral und gutem Geschmack sorglos ihrer aperspektivischen Existenz erfreuen.
Wo der angeblich höhere „Geist“ sich erhebe und sich durchsetze, werde der „Natur“ Unrecht getan, moniert Erasmus, der den Philosophen pauschal zum Vorwurf macht, entgegen ihrem Wahrheitsanspruch „nicht die geringste sichere Kenntnis zu besitzen“, derweil sie unentwegt ihre Vorstellungen, Konjekturen, Abstraktionen und Spekulationen als real gegeben auszuweisen suchen: „Verstandesbegriffe, Verhältnisse, Momente, Formalitäten, Quidditäten, Ecceitäten − reine Phantasiegeburten, die niemand zu sehen noch zu erkennen imstande ist, er müsste denn gerade so scharfe Augen haben, dass er durch die schwärzeste Finsternis hindurch Dinge zu unterscheiden vermag, die nirgends existieren.“
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Vermutlich hat sich der − hochgebildete − Erasmus durch die Kyniker (Diogenes, Menippos, Bion, Teles, auch noch Epiktet) zu seiner Professorenschelte inspirieren lassen. Schon zu Platons Zeiten und weit darüber hinaus gab es ambulante Denker, denen sinnliche Erkenntnis − abschätzig: die „Weisheit der Hunde“ − mehr bedeutete denn schulisches Wissen und akademische Bildung. Gleichwohl erlaubten sie sich, überall mitzureden und ihre Meinung auch in manchen Problembereichen kundzutun, in denen sie keineswegs als kundig gelten konnten: Nicht anders als die sprichwörtlich gewordene Thrakerin hielten sich auch die „hündischen“ Weisen lieber an praktische Erfahrung als an angelernte Wissensdaten. Der antike Geschichts- und Geschichtenschreiber Plutarch hat in solchem Verständnis eine Philosophie angemahnt, die „unentwegt in Taten praktiziert“ werden müsste und deren Einsichten man auch „im Alltag jederzeit vor Augen“ hätte.
Und wie heutige Jet-Philosophen, die unentwegt zwischen Workshops, Gast- und Firmenseminaren oder TV-Talks zugange sind, waren sich die Kyniker nicht zu schlecht, um an irgendeiner Strassenecke, in einem Wirtshaus, bei öffentlichen Festivitäten das Wort zu ergreifen und ganz einfach, ganz spontan, ganz ohne Wahrheitsanspruch ihre „Meinung“ zu sagen über alles, was gerade als Problem oder als Skandal in der Luft lag. Dem gelehrten Diskurs zogen sie die provokante Rhetorik der Satire, der Persiflage, der bewussten Provokation vor, oft begleitet von parodistischen oder obszönen Gesten.
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Alles beim Namen zu nennen und damit die Redefreiheit konsequent auszureizen, war die Leitdevise des Kynismus, abgesehen von seiner grundsätzlichen Gegnerschaft zu wissenschaftlichen wie zu gesellschaftlichen und politischen Institutionen, Konventionen, Verordnungen, Verboten. Einzig das ist für den Kyniker von Interesse, was ihn persönlich angeht, was ihm direkt begegnet, was sich in seiner Erfahrungswelt positiv oder negativ manifestiert. Von daher erklärt sich auch die pauschale kynische Ablehnung von Jurisprudenz, formaler Logik, normativer Ästhetik, Grammatik oder Geschichtsforschung. „Hisse deine Segel“, soll in solch wissenschaftskritischem Verständnis Epikur gefordert haben: „… und fliehe vor jeglicher Art von Bildung!“
Mit andern Worten (und ohne die Kyniker insgesamt für vorbildlich und zeitgemäss zu halten) könnte man mit Blick auf die aktuelle Universitätsphilosophie durchaus sagen, es fehle dem institutionalisierten Denken an frischer Luft ebenso wie an Realitätsnähe und Alltagsrelevanz. Der namhafte französische Kunst- und Medienphilosoph Georges Didi-Huberman rügt eben dafür manche seiner Kollegen mit dem Vorwurf (in Aperçues, 2018), sie „versteckten sich hinter ihren Fussnoten und beharrten auf ihrem Expertenwissen, um sich das Denken zu ersparen.“
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Diesem Defizit versuchen neuerdings, in der Nachfolge eines Umberto Eco oder Vilém Flusser, weltgewandte Geistesgrössen wie Žižek, Badiou, Sloterdijk, Bruckner, Han, Liessmann, Agamben, Precht, Gumbrecht und viele andere abzuhelfen, indem sie ihr Interessen- und Beobachtungsfeld über den Campus hinaus auf die Sport- und Drogenszene, auf Gentechnologie und Robotik, auf neue Medien und Computerspiele, auf Gender- und Transgenderfragen erweitern, mithin (notwendigerweise) auch auf Wissensbereiche, in denen sie lediglich als Amateure, als Dilettanten gelten können.
„Eigentlich geht es durchweg darum, ein umgreifendes Denken für unsere Zeit zu bewerkstelligen“, unterstreicht der französische Plauderphilosoph Alain Badiou (in L’immanence des vérités, 2018): „Ein Denken, das wie bei Platon, bei Descartes oder Hegel sich aus zeitgenössischen rationellen Materialien [sic] speist, aus Mathematik, Poetik, Erotik und Politik“, um solchermassen „unter den Bedingungen unserer Zeit das Wissen der existentiellen Möglichkeit des Wahren [sic] zu schaffen.“ Auch auf diesem unbedarften Niveau lässt sich heute die „Immanenz der Wahrheiten“ behaupten.
Dabei scheint die schlichte Prämisse zu gelten, dass es beim Philosophieren weniger auf die Expertise, vielmehr auf das Experiment ankommt; nicht auf ein konstatierendes, vielmehr auf ein riskantes, unentwegt nomadisierendes, nicht immer schon zielgerichtetes Denken, sondern eins, das Grenzen aufsucht, erkundet, strapaziert. „Man sollte den autobiographischen Fundus jeglichen Gedankens, jeglichen Wissens ins Werk einbringen, freilich ohne dass das Ich zu einer von sich selbst faszinierten Zentralinstanz wird.“
Dass sich der kühne, der experimentelle Gedanke keineswegs automatisch als originell und innovativ erweist, dass er oftmals in erhöhtem Mass fehleranfällig ist, gehört zu seinen erwartbaren Schwächen. Doch gerade via Schwächen und Fehler ist schon manche staunenswerte Einsicht gewonnen worden. Für Francis Ponge, den man als poetischen Denker bezeichnen könnte, war der vollkommene Gott ein fehlbarer, fehlerhafter Gott und dessen Schöpfung eine einzige wundersame Fehlleistung.
So eröffnen sich immer wieder neue Perspektiven, die gewiss auch in Sackgassen enden oder zu Umwegen verleiten können, die aber oft den Vorzug haben, dass sie (gerade dann, wenn sie falsch liegen) gewisse Dinge, Probleme, Phänomene unter ungewöhnlichem Gesichtspunkt vor Augen führen.
Der heutige „Weise“ ist bemüht, sich bei stetiger medialer Präsenz als Gewährsmann „für alles und noch viel mehr“ zu empfehlen: Das Generalistentum ist zu einer Spezialität philosophischen Denkens geworden. Mag ja sein, dass daraus ein Revival kynischer Weisheit erwächst.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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