MICHAEL KRÜGER
Über Schatten
Ich kannte die guten und die schlimmen Schatten,
die raumlosen Schatten der Träume, in denen Theologen
um einen Zankapfel streiten, und den Schatten,
den Fische werfen und eilige Fliegen.
Mein Großvater mischte Schatten in die Saat,
damit etwas wächst, was nicht umsonst ist
und die Spreu sich vom Weizen nicht trennt.
Und einmal sah ich den Schatten von Vögeln,
der hing an den Steinen wie Wolle am Strauch.
Ab heute wirft auch mein Schlaf einen Schatten
in die immer lichtloser werdende Welt.
2008
aus: Michael Krüger: Schritte, Schatten, Tage. Grenzen. Gedichte 1976–2008. Hrsg. von Hans Jürgen Balmes und Jörg Bong. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2008
Der Schatten, in der antiken Vorstellungswelt die Gestalt der Toten, später dann Abbild und dunkler Umriss von etwas Realem, hat seit Adelbert von Chamissos (1781–1838) legendärer Geschichte von Peter Schlemihl eine erstaunliche Karriere durchlaufen. Ohne Schattenwurf so suggeriert Chamissos Geschichte, verliert das Reale seine Kontur und seine Seele. Der Erzähler, Lyriker und Verleger Michael Krüger (geb. 1943) hat nun in seinem Gedicht ganz überraschende Differenzierungen der Schatten-Präsenz vorgenommen.
Hier geht es eben nicht um die Umrisse klar konturierter Gegenstände oder Naturphänomene, sondern eher um Schatten immaterieller Erscheinungen (Träume, Schlaf) oder um flüchtigste, kaum fixierbare Schattenwürfe (von Fischen oder Fliegen). Krügers schönes Gedicht beschwört die Schatten als Zeichen der Hoffnung – gegen eine mehr und mehr zweckrationale, eindimensionale Welt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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