RAINER KIRSCH
2005
Unsre Enkel werden uns dann fragen:
Habt ihr damals gut genug gehaßt?
Habt ihr eure Schlachten selbst geschlagen
Oder euch den Zeiten angepaßt?
Mit den Versen, die wir heute schrieben
Werden wir dann kahl vor ihnen stehn:
Hatten wir den Mut, genau zu lieben
Und den Spiegeln ins Gesicht zu sehn?
Und sie werden jede Zeile lesen
Ob in vielen Worten eines ist
Das noch gilt, und das sich nicht vergißt.
Und sie werden sich die Zeile zeigen
Freundlich sagen: ,Es ist so gewesen.‘
Oder sanft und unnachsichtig schweigen.
1980
aus: Rainer Kirsch: Werke Band 1 – Gedichte & Lieder. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004
Der 1934 in Döbeln geborene Rainer Kirsch wird mit Karl Mickel, Volker Braun und seiner Ex-Frau Sarah Kirsch der Sächsischen Dichterschule der DDR zugerechnet. Diese Dichter hatten sich in den 1960er Jahren am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig um die Figur Georg Maurers geschart und versucht in Gedichten deutlich eine Haltung zum gesellschaftlichen Leben im Staat zu entwickeln. Nicht selten gerieten die Protagonisten dabei in Widerspruch zur offiziellen Linie und wurden mit Publikationsverbot belegt.
Deutlich schwingt in diesem 1980 im Band Ausflug machen erschienenen Sonett Bert Brechts „An die Nachgeborenen“ mit. Konnte Brecht aber noch dichten „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ und damit als Individuum deutlich Position beziehen, muss Kirschs Gedichtsubjekt seine Aussagen über die Zeit spekulativ und verschlüsselt in die Köpfe einer späteren Generation verlegen, letztlich in ein anderes Jahrhundert.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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