Dass eine Achmatowa zur wortführenden Galionsfigur der russischen literarischen Moderne geworden ist, hat eher mit ihrer Allgemeinverständlichkeit und formalen Schlichtheit zu tun als mit ihrem künstlerischen Rang und ihrer Innovationskraft. Aleksandr Blok müsste weit vor und über ihr zu stehen kommen; noch weiter und höher − Pasternak, Mandelstam, die Zwetajewa.
Marina Zwetajewa ist zu einer Kultautorin geworden, nicht populär, aber weltweit bekannt bei einer kennerschaftlichen Minderheit von Lesern, vorab von Leserinnen. Jeder ihrer Verse ist im Internet einzeln eruierbar, ebenso jede ihrer singulären Worfindungen. Der durchweg hohe, höchste Schwierigkeitsgrad beim Entziffern und Verstehen ihrer Dichtung insgesamt befestigt ihren Status einsamer Genialität.
Die Sekundärliteratur übersteigt umfangmässig das Werk der Zwetajewa um ein Mehrfaches. Das Interesse, das sie weltweit weckt und auch wachhält, ist Beleg dafür, dass Qualität noch heute ein Kriterium für Ruhm sein kann, wo doch gleichzeitig ein Literaturbegriff dominiert, der den Autor − selbst den Lyriker − als unterhaltsamen Plauderer ausweist. Mitläufertum und saisonale Anpassung werden höher honoriert als originäres, zugleich fortführendes und erneuerndes künstlerisches Tun.
Überdauern kann aber nur die von der Epoche unabhängige Qualität. Quantitäten verwehen.
Quantitäten haben diesen oder jenen unsteten Wert, derweil Qualität keinen Wert hat, aber ein Wert ist.
Starke Literatur wird, allem Unverständnis und jedem Unwillen zum Trotz, nie verhindert oder abgeschrieben werden können. Nie wird es nicht einen zumindest kleinen Kreis (eine „Gemeinde“) von Zugewandten geben, denen solche Werke, jenseits vordergründiger Verständigung, unentbehrlich sind, Leser, Kritiker, Übersetzer, Hermeneuten, die sich gerade von schwierigen Autoren angesprochen, nur von solchen sich ernstgenommen fühlen. Marina Zwetajewa ist ein seltenes Beispiel dafür − eine Dichterin, die zu Lebzeiten niemandes Zeitgenossin war, es auch gar nicht sein wollte, aber auch vielfach − durch Verfolgung, Flucht, Exil, materielle Not, literarische Verkennung − daran gehindert wurde und die dennoch für alle Zeiten aktuell bleiben wird.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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