RAINER MARIA RILKE
Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
1923
Das Kunstschöne triumphiert immer über das Vergängliche. Mögen alle weltlichen Anstrengungen sich verflüchtigen wie „Wolkengestalten“, unerschütterbar und wirkmächtig bleibt „das Lied“ des „Gottes mit der Leier“. Diese Verherrlichung des Dichtertums, inkarniert in der Figur des mythischen Dichterkönigs Orpheus, hat Rainer Maria Rilke (1875–1926) ins XIX. Sonett seiner Sonette an Orpheus (1923) eingeschrieben, eines seiner Hauptwerke.
Aber im ersten Terzett, das fast ausschließlich aus Negationen besteht, geraten die fließende Rede und die Rühmung ins Stocken. War das Gedicht mit seiner Betonung der hellen A-Vokale soeben noch auf vorbehaltlose Bejahung des Poetischen gestimmt, stauen sich plötzlich ernüchternde Befunde. Die Conditio humana, so konstatiert das lyrische Wir, bleibt auf das Leiden fixiert, die Liebe scheint unerreichbar. Da helfen dann auch die Schlusszeilen kaum weiter, die sich auf das lyrische Feiern des Daseins verpflichten.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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