Raoul Schrotts Gedicht „(nach) Samuel Ha-Nagid Ibn Nagrila“

RAOUL SCHROTT

(nach) Samuel Ha-Nagid Ibn Nagrila

Mein leben würd ich geben für das reh
das nachts von harfe und flöte erwachte
in meiner hand den becher sah und sagte:
trink mir das blut der trauben von den lippen!

Und wie mit goldner tinte auf das gewand
der nacht geschrieben war der mond ein C

11. Jahrhundert

aus: Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1997

 

Konnotation

Raoul Schrott (geb. 1964) ist ein Dichter, Reisender und Universalgelehrter, der sich in seinen frühen Jahren intensiv mit dem Dadaismus beschäftigte und zuletzt durch seine Neuübersetzung von Homers Ilias einiges Aufsehen erregte. Seine von ihm in dem Buch „Homers Heimat“ aufgestellte These, der griechische Dichter müsse im assyrischen Kulturraum gelebt haben, wurde in der Fachwelt zwiespältig bis spöttisch aufgenommen. Schrott hat es immer in die Ferne gezogen, etwa auf die Insel Tristan da Cunha, wo auch die Handlung eines seiner Romane spielt.
Das in seiner Bildkraft so schlichte wie betörende Gedicht, das den Namen des sephardischen Juden Samuel ibn Naghrela im Titel trägt, der im 11. Jahrhundert als Diplomat in die Dienste des Emirs Habbus von Granada trat, kommt mit nur sechs Zeilen aus. Versteht man das geheimnisvolle Reh und das Gewand als eine Person, nämlich die Geliebte des Dichters, der sein Leben für sie geben würde, findet man rasch Zugang zu diesem kleinen Meisterwerk, schillernd von Pathos und stiller Magie.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00