RICHARD LEISING
Esse
Kletter ich den heißen Schornstein hoch
Stieg um Stiege eisern an den Ziegeln
Klimm ich auf zum Tode mich zu werfen
In Fabrikhof runter und zerstieben
Krieg zu tun hier oben mit der Angst ich
Ruf um Hilfe wimmernd mit Sirenen
Kommt die Feuerwehr auf schräger Leiter
Steig ich rückwärts wieder ab ins Leben.
nach 1970
aus: Richard Leising: Gebrochen deutsch. Gedichte. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 1990
Die Bekanntheit bei einem größeren Lesepublikum ist dem als Arbeiterkind im sächsischen Chemnitz aufgewachsenen Richard Leising (1934–1997) verwehrt geblieben. Seine Dichterkollegin Inge Müller hat ihn einmal vortrefflich porträtiert: „Du kannst dich selber nicht ertragen / Du hast alles satt / Trägst dein Kindergesicht wie ein König / Der alle Reiche verloren hat…“. Leising, der als Dramaturg am Theater arbeitete, mußte viele Schicksalsschläge ertragen. Als seine Frau Melitta starb, verfiel er immer mehr dem Alkohol. Sein Werk ist schmal, gerade fünfzig Gedichte umfasst es, in zwei Bänden erschienen.
Dieses Gedicht kann man insofern als autobiographisch ansehen, als das Ich hier in seiner latenten Gefährdung gezeigt wird. Jemand klettert einen „heißen Schornstein hoch“ und kriegt es in der Höhe schließlich mit der Angst zu tun – so sehr, daß er um Hilfe ruft. Was ist ein Selbstmord anderes als ein Hilferuf? Der Rufende will nichts als „zurück ins Leben“ steigen. Leising schreibt hier diese dramatische Seelenbewegung nach, indem er sie von Innen nach Außen verlegt.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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