ROLF DIETER BRINKMANN
Über das einzelne Weggehen
Als sie weinte, ging ich
weg, den schmalen Lehmweg
hinunter in den Ort. Eine
Wut, die still ist, trocknet
aus. Jedes Haus war aus
getrocknet, und darüber die
Milchstrasse, die ausgetrocknet
war, für mich viel zu weit
weg, um dorthin zu gehen, bis
sie ging, den einen Schuh
lose am Fuß schlenkernd, weil
der Lederriemen gerissen
war, den Berg hinunter, in
das Zimmer, wo sie stand
und wir uns anschauten.
1975
aus: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, erweiterte Neuausgabe 2005
Unter den weit verzweigten „Collagen des alltäglichen langsamen Irrsinns“, die der wilde Poet Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) in seinem letzten Gedichtband Westwärts 1 & 2 (1975) zusammenstellte, bildet das auf eine scharf umrissene Abschiedsszene konzentrierte Gedicht vom „Weggehen“ eine Ausnahme. Hier dominiert nicht die offen-assoziative, in wuchernde Langzeilen aufgefächerte Versbewegung, sondern – wie in den frühen Gedichten des Autors – ein hyperrealistischer, die Details gleichsam filmender Blick auf die Trennung zweier Liebender.
Das Gedicht mit seiner eigentümlich gleitenden Bewegung spielt mit eigenwilligen Variationen des Verbs „austrocknen“, das die realistische Gebärde des Gedichts reizvoll konterkariert. Für sein lyrisches Verfahren hat Brinkmann in einer Notiz zum Gedichtband Die Piloten (1968) eine prägnante Formel gefunden: „Ich denke, dass das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich zeigende Empfindlichkeit konkret als „snap-shot“ festzuhalten.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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