THEODOR DÄUBLER
Dämmerung
Am Himmel steht der erste Stern,
Die Wesen wähnen Gott den Herrn,
Und Boote laufen sprachlos aus,
Ein Licht erscheint bei mir zu Haus.
Die Wogen steigen weiß empor,
Es kommt mir alles heilig vor.
Was zieht in mich bedeutsam ein?
Du sollst nicht immer traurig sein.
1915
„Ich habe eine Anschauung des Daseins gelehrt, die endlich wieder nach allen Vernichtungspredigten hinaufführt.“ So charakterisierte der visionäre Expressionist Theodor Däubler (1876–1934) sein monumentales mythisches Weltgedicht Nordlicht (1910ff.), eine Generalmobilmachung romantischer Motive in 30.000 Versen, mit denen der Autor seine Zeitgenossen überforderte. Eins der bekannteren Gedichte Däublers, das er im Band Der sternhelle Tag (1915, erweitert 1919) gefunden hatte, vertonte Theodor W. Adorno 1923 zu einem Chor-Stück.
Die Motive des Sterns und des beseligenden Lichts, die Däubler sein Leben lang begleiten, dominieren in diesem frommen Poem. „Die Erde sehnt sich, wieder ein leuchtender Stern zu werden“, hatte Däubler in seiner „Selbstdeutung“ geschrieben. Sein Traum von der schöpferischen Verwandlung der Welt in den „heiligen“ Zustand illuminiert auch die „Dämmerung“. Aber lässt sich Traurigsein per Willensakt austreiben?
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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