Theodor Kramers Gedicht „Genesen – verhaftet“

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THEODOR KRAMER

Genesen – verhaftet

Spät im November – die Straße lag kahl –
wankte genesen ich aus dem Spital.
Hatte nicht Mantel und hatte nicht Schuh,
hatte nur Hunger und Kälte dazu.

Ging ich zum Paßamt: Ihr Leute, ein Wort.
Waren die hundert Beamten schon fort.
Sprach ich slowakisch von Haus mich zu Haus:
jagte man mich in das Dunkel hinaus.

Hielt ich mich müd an die gute Latern.
Blinkte schon frostig der Wachmann von fern.
Einem, der kam, schlug ich in sein Gesicht.
Geht nun, ihr Herren, mit mir ins Gericht.

nach 1940

aus: Theodor Kramer: Orgel aus Staub. Hrsg. von Erwin Chvojka. Europa Verlag, Wien-Zürich 1991

 

Konnotation

Der staatenlose Vagabund, der unter Hunger und Kälte leidet und von den Sachwaltern der Macht davongejagt wird: So hat sich Theodor Kramer (1898–1958), der unbehauste Dichter aus der österreichischen Provinz, in einem seiner späten Gedichte selbst porträtiert. Nach seinem erfolgreichen Debütband Die Gaunerzinke (1929) hatte der Sohn eines jüdischen Landarztes und bekennende Sozialdemokrat eine Existenz als freier Schriftsteller begonnen; 1933 geriet der plebejische Volksdichter, von den Nazis als „Hofpoet der Demokratie“ verspottet, sofort auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.
Das Ausgesetztsein des Staatenlosen, der schließlich zu einem Akt der Notwehr greift, ist ein sinnfälliges Bild für Kramers Schicksal: Nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938 erteilte man Kramer Berufsverbot. Der Verlust der Wohnung und eine zunehmende Aussichtslosigkeit führten im August 1938 zu einem psychischen Zusammenbruch. Im Juli 1939 gelang Kramer dank einer Intervention Thomas Manns die Ausreise nach Großbritannien; die späte Rückkehr nach Wien im Herbst 1957 überlebte er nur kurz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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