UNBEKANNTER DICHTER
Tabakslied
Wach auf! Wach auf, der Steuermann kömmt,
Er hat sein großes Licht schon angezündt.
Hat ers angezündt, so gibts einen Schein,
Damit so fahren wir ins Bergwerk ein.
Der Eine gräbt Silber, der Andre gräbt Gold,
Dem schwarzbraunen Mägdlein sind wir hold.
Tabak! Tabak! echtadliges Kraut!
Tabak! Tabak! du stinkendes Kraut.
Wer dich erfand, ist wohl lobenswert,
Wer dich erfand, ist wohl prügelnswert.
18. Jahrhundert
Die schöne Suggestion, die romantische Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–08) sei eine Dokumentation von einzig durch mündliche Tradition überlieferten Volksliedern, haben die Herausgeber Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) gerne durch die häufig genannte Quellenangabe „mündlich“ verstärkt. Diese Herkunftsbezeichnung „mündlich“ fungiert jedoch meistens als Lizenz für besonders weitreichende Texteingriffe.
Das „Tabakslied“ ist letztlich eine Transformation eines alten Bergmannslieds aus dem 18. Jahrhundert. Der Eingangsvers „Glück auf! Glück auf! Der Steiger kommt“ wurde einfach modifiziert zu „Wach auf! Wach auf, der Steuermann kömmt“. Die wesentlichste Veränderung machten die Wunderhorn-Herausgeber durch den Titel „Tabakslied“ kenntlich. Das Bergmannslied wird schlichtweg um vier Verszeilen erweitert, die in bewusst gesetztem Widerspruch den Tabak zugleich loben und schmähen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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