WALTER HASENCLEVER
Kehr mir zurück, mein Geist
Kehr mir zurück, mein Geist, im Blut verrieben;
Was du gelöst, das sammle wieder fest
Und halte mir das Gleichgewicht beim Lieben,
Sonst sterb ich am Gefühl, wie an der Pest.
Ich will jetzt mit dir sein und mit dir reisen;
Wir wollen wie zwei Kugeln uns umkreisen,
Aus einem hellen Raum ins Dunkel wehn.
Wenn je dich ein Genuß verzehrt, den töte!
Verkauf dein Weib, du wirst es überstehn.
Gleichviel ob Ekel oder Liebesnöte –
Am Himmel eilen Wind und Morgenröte,
Die Scheiben klirren, und die Züge gehn.
1912
aus: Walter Hasenclever: Gedichte. Dramen. Prosa. Rowohlt Verlag, Hamburg 1963
Wer in Krisenlagen aus dem Gleichgewicht gerät, braucht ein Rettungsproramm. Das lyrische Ich des Dichters Walter Hasenclever (1890–1940), der im expressionistischen Jahrzehnt 1910–1920 zu den meistgespielten deutschen Dramatikern gehörte, appelliert in diesem Fall an den eigenen „Geist“, der zur Stabilisierung des schwankenden Subjekts beitragen soll. Es sind wohl nicht nur „Liebesnöte“, die das Ich plagen – es ist von solch existenzieller Wucht getroffen, dass nur noch eine gewisse Gewaltsamkeit die Befreiung aus dem Dilemma verheißt.
Im Zentrum des Gedichts scheint wieder Zuversicht für das Ich einzukehren, wird doch, entgegen der modernen Erfahrung einer tiefen Bewusstseinsspaltung die Wiedervereinigung mit dem „Geist“ in Aussicht gestellt. Gleichwohl scheint es kaum möglich zu sein, dem beschädigten Leben zu entkommen, drängt sich doch die Phantasie vor, in einem „dunklen Raum“ zu landen. Es folgen zwanghafte Handlungsappelle, geboren aus Bedrückung. Das 1912 entstandene Gedicht wurde in die Gedichtsammlung Der Jüngling aufgenommen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
Schreibe einen Kommentar