WALTER HELMUT FRITZ
Atemzüge
Bring die Spiegelungen von dem,
was war und was sein wird,
den Körper und sein Gedächtnis,
Atemzüge, tiefe, mühsame, rasche,
die freien und die gepreßten
bring die Gesichter, durchsichtig
geworden von Schmerz und von Glück,
die Bilder, die unaufhörlich sich
mischen, unsere Geschichte,
die wir immer anders verstehen
bring den Knäuel,
zu dem die Jahre geworden sind,
und alle Vergänglichkeit, merkwürdige
Speise, bring sie herbei.
noch einmal, zur Sprache.
um 1985
aus: Walter Helmut Fritz: Immer einfacher, immer schwieriger. Gedichte und Prosagedichte 1983–1986. Hoffmann und Campe, Hamburg 1987
Seit seinem Debüt Achtsam sein (1956), schreibt der Lyriker Walter Helmut Fritz (geb. 1929) Gedichte, die dem flüchtigen Lebensaugenblick mit hellem Staunen begegnen und ihm für die knappe Strecke des Gedichts den schönen Schein der Ewigkeit verleihen. Das poetische Grundgesetz dieser Poesie ist über ein halbes Jahrhundert konstant geblieben: In ruhiger Gelassenheit verweilt der Autor beim geduldigen Anschauen der Dinge, bis im Betrachten der Phänomene ihre ursprüngliche Leuchtkraft wieder aufscheint.
Fritz zeigt den Dichter bei seiner elementarsten Arbeit: Bei der Erkundung der individuellen Lebensgeschichte, bei der Vergewisserung der eigenen Lebendigkeit, der geistigen und körperlichen Potenzen. Der wichtigste Lebensbegleiter ist stets die Erfahrung der Vergänglichkeit. Nur im Medium des Gedichts scheint es zu gelingen, in der unübersichtlich zu einem „Knäuel“ verflochtenen Lebenszeit wieder die einzelnen Erfahrungskerne freizulegen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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