WOLFGANG HILBIG
träum dir
träum den traum daß der herbst bleibt und drinnen
meine hand mein mund voller herbst daß der sand
nichts sagt daß es nicht geregnet hat
aber träum nicht den traum daß ich dich nehme
träum von meinem mund meiner hand so schwer
wie ein schatten in deinem schoß
träum von einem dach da unsre schultern
ein dunkel niederduckt und schwärze träum dir
in die redende nässe des sandes
kurze zeit nur träum von dieser herbst-liebe
meine liebe ist wie luft die der wind
trägt mit blättern –
1970er Jahre
aus: Wolfgang Hilbig: Werke I. Gedichte. Hrsg. v. Jürgen Hosemann, Jörg Bong und Oliver Vogel. S. Fischer Verlag, 2008
Wolfgang Hilbig (1941–2007) war der seltene Fall eines Lyrikers und Erzählers, der nicht aus akademischen Kontexten in die Literatur geriet, sondern viele Jahre als Tagebauarbeiter und Heizer in den Braunkohlerevieren Sachsens gearbeitet hatte. Als Dichter nahm er noch einmal den hymnischen Tonfall seiner Vorbilder Rimbaud, Novalis und Hölderlin auf – und beschwor als „ungestalter gast aus dem schwarzen / und schimmernden landmeer“ die vergifteten Landschaften des Ostens.
Eine immerwährende Inspirationsquelle und zugleich ein unerschöpfliches Bilder-Depot von Hilbigs Poesie ist der Traum. In einer flutenden Phantasmagorie, in der sich das lyrische Ich gleichsam somnambul fortbewegt, wird hier der Augenblick einer sinnlichen Verschmelzung mit einem „Du“ evoziert. Die Repetitionen des Verbs „träum“ erzeugen in diesem sanft surrealistischen Herbst- und Liebes-Gedicht sofort eine große Suggestion, die den Leser in ihren Bann zieht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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