WOLFGANG HILDESHEIMER
Antwort
Ganz recht, ich sagte,
es sei nicht fünf vor
zwölf, es sei vielmehr halb
drei. Das war um halb
drei. Inzwischen ist es vier. Nur
merkt ihr es nicht. Ihr lest ein Buch
über Kassandra, aber ihre Schreie
habt ihr nicht gehört. Das war
um fünf vor zwölf. Bald ist es
fünf, und wenn ihr Schreie hört,
sind es die euren.
1983/84
aus: Wolfgang Hildesheimer: Gesammelte Werke Bd. 7. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991
In einem spektakulären Interview erklärte der deutsche jüdische Schriftsteller und Maler Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) im Jahr 1983 seinen Abschied von der Literatur. Er sehe sich außerstande, so Hildesheimer damals, auf das „reale Grauen unserer Tage“ mit traditionellen literarischen Mitteln zu reagieren. Er versage sich das Weiterschreiben nicht nur angesichts der heraufziehenden planetarischen Katastrophe, sondern auch aufgrund der Gewissheit, dass die Literatur schon lange „das Ende der Fiktionen“ erreicht habe.
Nach seinem Rückzug von der Literatur beschränkte sich Hildesheimer auf die Arbeit an Collagen und anderen bildkünstlerischen Arbeiten – und auf einige wenige Texte und Gedichte, die wie das hier vorgestellte sein geschichtsphilosophisches Endzeitbewusstsein sehr lakonisch resümieren. Aus der alarmistischen Redewendung „Es ist fünf vor zwölf’“ entwickelt Hildesheimer ein lyrisches Kabinettstück mit apokalyptischer Pointe.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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