Getrauert

In einem kleinen Buch versucht George Steiner, der gern grosse, am liebsten ewige Fragen zur Diskussion stellt und dazu auch dezidierte Meinungen äussert, zu ergründen, «warum Denken traurig macht». Er nennt «zehn (mögliche) Gründe» für die Tatsache, dass der Mensch – gemeint sind «wir» oder «man» – als denkendes Wesen grundsätzlich ein von Trauer heimgesuchtes Wesen ist. «Wir sind», so heisst es gleich auf der ersten Seite, «sozusagen ‹traurig› erschaffen.» Danach müssten freilich keine weitren (und weshalb gerade zehn?) gute Gründe für «unsere» Traurigkeit angeführt werden. Steiner tut’s trotzdem; und manches geht und kommt dabei durcheinander.
Denn unterm Begriff des Denkens wird so gut wie alles subsumiert, was sich als gedankliche Regung – vom alltäglichen Ideengewimmel über Traumgedanken bis hin zum kreativen Einfall – «in uns» abspielt. So werden denn auch ganz unterschiedliche Modalitäten und Verläufe «unseres» Denkens zum Anlass von Traurigkeit, vorab die Tatsache, dass «unser» Denken von «unserm» Sein nicht zu trennen ist, dass es also keinen «Aussichtspunkt ausserhalb des Denkens» gibt, der es uns erlauben würde, das Denken beziehungsweise «unser» Denken zu objektivieren als etwas, das wir nicht sind. Ob aber deshalb, mit dem offenkundigen Hintergedanken ans verlorne Paradies, von «unserm» Denken gesagt werden muss, es trage «in sich eine Erbschaft der Schuld», bleibe dahingestellt.
George Steiner privilegiert, wie man aus manchen seiner Bücher weiss, derartige Extrapolationen ins grosse Ganze; sein quasireligiöser Hang zum Allgemeinen, zum Schönen, Guten und Wahren überwiegt bei weitem sein Interesse am klaren Begriff und am konkreten Detail.
Zu den Gründen, warum Denken traurig macht, gehören nach Steiner unter andern die folgenden: «Wir» werden niemals wissen, wie weit das Denken in Bezug auf «die Gesamtheit der Realität» reicht und ob es letztlich nicht bloss aus «infantilen Fiktionen» besteht. Das Denken bringt uns «an entscheidenden Fronten» nicht zu abschliessenden Antworten. Meist erweist sich «das gewöhnliche Denken» als ein nomadisches, dem Chaos entspringendes und ins Chaos mündendes Unterfangen, das demzufolge ohne Ziel und ohne Gewinn bleibt. Denken ist, nicht anders als Atmen oder Verdauen, ein unwillkürliches Geschehen, 
kann also nicht beherrscht werden. Denken ist entropisch, es erzeugt sich unentwegt selbst in Überfülle, bleibt aber grösstenteils ungenutzt oder unbrauchbar, ist deshalb vorab ein Prozess der Verausgabung und Verschleuderung. Gelingendes, auf die Lebenspraxis produktiv sich auswirkendes Denken bleibt auf wenige Ausnahmemomente und Ausnahmemenschen beschränkt.
Und weiter: «Mein» Denken eröffnet keinen Zugang zu «deinem» Denken – selbst in Augenblicken intimster Nähe (Steiner hat hier den «Geschlechtsverkehr» im Sinn) lassen sich die Gedanken des/der andern nicht erschliessen. Denken kann zwar Vergangenheit verwalten und Zukunft entwerfen, nie aber der Gegenwart entsprechen – es bleibt hinter der Realpräsenz zurück, verfehlt oder verfälscht das aktuelle Erleben. Denken ist «verborgen im tiefsten Innern unseres Seins», und doch ist es gleichzeitig jedermanns Sache, es ist «die gewöhnlichste, abgenutzteste, repetitivste aller Handlungen». Denken kann nie zum «ewigen Reich der Wahrheit» vorstossen. Und so fort – bis «man» sich als Leser fragt, wozu «unser» Denken denn überhaupt gut sein soll, da es weder unserm Erleben noch unsrer Lebenswelt gerecht wird und da es, besonders gravierend, Kommunikation eher behindert denn fördert. Und wenn dies denn so (und nicht doch ganz anders) ist, weshalb sollten «wir» darüber «traurig» sein?
Weshalb sollte der Homo sapiens ausgerechnet daran Anstoss nehmen, dass er sapiens ist, ein denk- und erkenntnisfähiges Wesen, das Wissen erwerben und anwenden kann? Steiners Gedanken über das Denken weiterdenkend, müsste «man» zum Schluss kommen, dass «wir», von Gedanken permanent gebeutelt und durch sie vom Wesentlichen abgehalten, nur deshalb so «traurig» sind, weil «uns» zwischen Gott (der alles gedacht, es denkend erdacht hat) und dem Tier (das von der Verheerung des Denkens wie auch von der Last des Wissens verschont bleibt) eine unhaltbare Position zugewiesen wurde, aus der es keine Befreiung geben kann. Niemals wird das menschliche Denken – ein andres gibt es nicht – den «primären Objekten» gerecht werden und die exis
tentiellen Grundfragen erfassen können. Dies wäre, meint Steiner, bestenfalls als Annäherung möglich vermittels der Musik, jenes «lockenden Mediums offenbarter Intuition jenseits der Worte, jenseits von Gut und Böse», das allein die Macht habe, das Denken zeitweise zu transzendieren und dessen Defizite auszugleichen.
Schon des öftern hat George Steiner die «Verlockungen» der Musik wortreich als kompensatorischen Gegenzug zu den Defiziten des Denkens empfohlen; seine diesbezüglichen Ausführun
gen liessen sich demnach zurückbuchstabieren auf die schlichte Formel: Musik macht froh, Denken macht traurig. Das hohe Lob der Musik als «offenbarter Intuition» mag berechtigt sein, entschieden ungerecht ist die pauschale Qualifikation «unseres» Denkens als eines lautlos rotierenden Motors von Täuschung und Enttäuschung, der «uns» unweigerlich in die Depression drängt.
Denn nicht das Denken als solches macht «traurig» und schon gar nicht das Denken als «Erblast der Schuld», sondern die Tatsache, dass «wir» das Denken niemals adäquat, niemals ohne Verlust in Worte zu fassen vermögen; dass «uns» sprachliche Kompetenz abgeht und dass der Sprache selbst die notwendigen (musikalischen?) Register fehlen, um «unser» Denken unverfälscht und gültig auf den Punkt zu bringen. Nicht dass wir denkfähig, sondern dass wir sprachbegabt und dennoch in vielerlei Hinsicht sprachlos sind, ist Grund zum Trauern. Aber auch diese Traurigkeit – man hat sie geadelt unterm Begriff der Melancholie – ist keineswegs ein generelles Signum menschlicher Befindlichkeit. Nur eine minimale, mehr und mehr verschwindende Minderheit von «uns» ist ihr ausgesetzt und hat an ihr zu leiden. Kein Friseur, keine Verkäuferin, kein Bankangestellter, keine Krankenpflegerin kennt das erhabene Malaise der Melancholie.
Melancholie ist so etwas wie eine intellektuelle Berufskrankheit, an der namentlich Literaten, Philosophen, Historiker – nicht selten zum Tod hin – leiden, Menschen somit, deren Geschäft ganz und gar sprachbezogen, ganz und gar sprachbedingt ist. 
Auch der Friseur, die Krankenpflegerin wird hin und wieder auf philosophisch relevante Gedanken kommen, jedoch ohne das Bedürfnis oder gar den Zwang zu verspüren, diese Gedanken sprachlich festzuhalten, sie in artikulierter Form weiterzuleiten und damit irgendetwas bewirken zu wollen – ihr Denken bleibt latent.
Sich «ohne Worte» zu erklären, war und wäre anderseits der Wunsch so manch eines Dichters, und manch einer beharrte denn auch darauf, der bedeutendere Teil seines Werks sei der ungeschriebne – für Melancholie gewiss ein valabler Grund. Die radikalsten unter den Autoren haben sich, um die Lücke zwischen Denken, Anschauung, Imagination und sprachlichem Ausdruck gar nicht erst entstehen zu lassen, entweder ins Schweigen zurückgezogen oder haben eigens eine referenzfreie Kunstsprache geschaffen, die als solche sollte bestehen können, ohne Bezug also zur aussersprachlichen Wirklichkeit, jedoch stets in Bezug auf sich selbst. Nicht nur Dichter, auch Mystiker, Sektierer, Geisteskranke und nicht zuletzt Kinder sind dazu disponiert, die Wörter selbst zum Sprechen zu bringen, das heisst ihre sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten herauszustellen, statt sie – um medial mit ihnen zu kommunizieren – als Gedankenträger, mithin als Vehikel einer vorgefassten Bedeutung einzusetzen.
Versuche dieser Art hat es wohl schon immer gegeben, sie lassen sich verfolgen von den antiken Orakelsprüchen via mittelalterliche Zauber- oder Rätseltexte, barocke und romantische Sprachspiele bis zur Wortkunst der inzwischen als «klassisch» rubrizierten Avantgarde. Futurismus, Dadaismus, Surrealismus, später auch die konkrete Poesie haben durch eigene «transmentale» Sprachschöpfungen oder serielle beziehungsweise automatische Schreibweisen das Wort von seiner konventionellen Bedeutungsfunktion zu befreien versucht, um eben dadurch die fatale Nachträglichkeit kommunikativen Sprechens aufzuheben. Zwischen Chlebnikow und Pastior gibt es dafür in vielen Sprachen fast beliebig viele Beispiele.
«Heraus kamen dabei», stellt George Steiner dazu abschätzig fest, «mehr oder minder verständliche Trivialitäten.» Und: «Wenn Sprach- und Sprechformen neu sind, wer kann sie da verstehen?» Die rhetorische Frage macht erneut klar, dass Steiner im Wort lediglich einen Bedeutungsträger zu erkennen vermag, dessen kommunikative Funktion vorab Verständigung, mithin richtiges oder adäquates Verstehen ermöglichen soll, klar auch, dass er anderseits der «Sprache als solcher» keinerlei Kredit einräumen mag, obwohl doch gerade sie der Musik am nächsten käme, von der er meint, ihr allein sei es gegeben, ganz gegenwärtig zu sein und «unserm» Denken vollkommen zu entsprechen. Also ist abzusehn, dass ihn dieses Denken auch weiterhin – und aus mehr als «zehn (möglichen) Gründen» – traurig machen wird.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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