YVAN GOLL
Siebensam
Warum bin ich so einsam
Und ist das Fenster zweisam
Und ist der Klee dreisam
Und ist der Wind viersam
Ach ich möchte allsam sein
So ehrsam wie ein Tisch
So grausam wie ein Knopf
So seltsam wie ein Pferd
Ich möchte die Berge umarmen
Ich möchte die Veilchen verführen
Ich möchte mich selbst vernichten
Und einmal siebensam sein
1928
aus: Yvan Goll: Die Lyrik. Bd. 2. Hrsg. v. Barbara Glauert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 1996
Als „Jean sans Terre“ und „Johann Ohneland“ hat er sich selbst gerne charakterisiert, um sein poetisches Dasein zwischen den Kulturen zu markieren: „Iwan Goll“, schrieb er 1919 in der legendären Expressionismus-Anthologie Menschheitsdämmerung, „hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ Nach diversen Aktivitäten in den avantgardistischen Zirkeln Zürichs ließ er sich 1919 mit seiner Frau Claire Goll in Paris nieder.
1920 verkündet Goll (1891–1950) in einer Art Dekret den „Überrealismus“ – das war die literarische Geburtsurkunde der surrealistischen Bewegung. In seiner wortspielerischen Litanei, die erstmals 1928 erschien, schöpft er aus der Verdrehung und schöpferischen Neukombination des Wortes „einsam“ eine kleine Wunschbiografie. Die kleinen Wendungen hin ins Absurde gehören mit zu den Antriebsstoffen der surrealistischen Schreibweise.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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