MEINEM BRUDER
schreibe ich Briefe er lebt
in einer andern Stadt und hat
ein freundliches Gesicht. Oft
antwortet er. Seine Worte sind
Kinder und bärtige Greise an Stöcken.
Die wandern von ihm zu mir.
Einen Tee bereite ich ihnen, sie sehen
müde aus vom langen Weg.
Dann setzten wir uns in den Regen und singen.
Mit den Kindern spiel ich Versteck und die Alten
blicken mich nachdenklich an.
Morgens sind sie wieder auf der Straße zurück
und winken. Mein Bruder lebt
in einer andern Stadt und hat
ein freundliches Gesicht und gute Worte.
EINS, ZWEI, DREI: KALTE SCHWARZE PLATTEN
Would you like to go with me
Down my dead end street
Would you like to come with me
To village ghetto land…
(Stevie Wonder)
Thomas Brasch bin ich im Ganzen nur einmal persönlich begegnet, die Begegnung verlief problematisch. Die Details sind nicht interessant, auch wenn es uns um das Gleiche gegangen sein wird. Selten nur können zwei über eines, das Gleiche, auch gleichwertig reden. Wie sich bald herausstellen sollte, war der Zeitpunkt für unser Zusammentreffen in seinem Leben schon spät; auch in meinem, denn begonnen hatte meine Beziehung zu ihm und seiner Arbeit schon viel früher und unter vielleicht mitteilenswerten Bedingungen.
Damals, am Anfang der achtziger Jahre, war es mir geglückt, einen Job in der Herstellungsabteilung des Deutschen Verlages der Wissenschaften zu ergattern, was nicht ganz leicht und nicht ganz regulär vonstatten ging, wenn man beispielsweise keine Adresse in der Stadt nachweisen konnte. Ich war neunzehn Jahre alt und mit so viel Hab und Gut nach Berlin gekommen, wie in eine Reisetasche passt. Mein eigentliches Unterfangen aber bestand darin, ein Dichter zu werden, ein deutscher Dichter. Die Zerrissenheit der deutschen Welt war mir demnach willkommen.
In diesem Hause, besonders aber in seiner Herstellungsabteilung, hatte damals eine illustre Mischung ziemlich solitärer Menschen zusammengefunden, darunter Leute, die das Land verlassen wollten, andere, die aus dunklen Gründen nirgendwo sonst eine Anstellung fanden, jemand, der aus dem Westen in den Osten übergesiedelt war, jemand, der unter Verdacht stand, ein Stasi-Zuträger gewesen und dann in Ungnade gefallen zu sein… Wir tranken alle viel und liebten oder mochten uns in unserer Nische, umbrandet von der weltgeschichtlichen Republik, auf die wir den Umständen nach höchst unterschiedlich zu sprechen waren. In diesem Kreis, der eher einer nachlässig-genialen Schüttung unverwertbar strahlenden Materials glich, erschien eines Tages eine junge Frau, die mit ihrem unglaublich langen schwarzen Haar aussah wie Joan Baez in den frühen sechziger Jahren und zu ihrer sagenhaft teuren Gitarre aus Texas so singen konnte wie Judy (oder war es nicht doch eher Shirley…?) Collins. Sie und ich wurden Arbeitszimmernachbarn, lediglich durch eine stets geöffnete Schiebetür voneinander getrennt, begannen miteinander zu reden, führten ein Transistorradio in den Betrieb ein und erlebten so die Weltpremiere des Songs „Do You Really Want To Hurt Me“ mit der Ergriffenheit sehr junger, startbereiter Menschen, die sich einer an Erstarrung grenzenden gesellschaftlichen Lähmung gegenüber sahen. Die neue Mitarbeiterin hieß Marion, und mit ihr tauchte der Name einer Familie in meiner unmittelbaren Nähe auf, an der das deutsche zwanzigste Jahrhundert einiges an nachweltkrieglicher Abstraktion verliert. Zwar hatte ich inzwischen schon vom Freitod des filmberühmten Schauspielers Klaus Brasch gehört und war dem unveröffentlichten Schriftsteller Peter Brasch einmal sturzbetrunken im Posthorn begegnet, doch war mir Thomas Brasch bis dahin nur ein Name gewesen, einer von denen, die, wie für viele aus meiner Generation (Biermann, Havemann, Fuchs, Pannach…), Dissidenten gewesen waren, Kritiker, Regimegegner, die ein paar Jahre zuvor noch da und dort um die Häuser gezogen sein mussten, wo man selbst inzwischen Bier und Gin bestellte, die mittlerweile aber alle im Westen waren, so sie nicht unter Hausarrest starben oder sich anderweitig verdünnisiert hatten. Rückblickend wird immer klarer, dass es sich bei der DDR um eines der trockensten Staatengebilde Mitteleuropas gehandelt haben muss. Man erfrischte sich ständig von innen.
Was will ich, will ich überhaupt erzählen? Damals begann ich damit, mich für die Möglichkeit zu interessieren, etwas fürs Theater zu schreiben. Wenn man zu dieser Zeit im Osten Deutschlands lebte und nicht bereit war, alles gleich wieder aufzugeben, noch ehe es begonnen hatte, geriet man schnell in das Kraftfeld Heiner Müllers, der sich zu einer Art Fuchs im Schafspelz gemausert hatte und gerade dazu anschickte, weltberühmt zu werden. Das hatte vor allem etwas mit seinem Stück Der Auftrag zu tun, das vielleicht eines Tages ein Generationsstück, das heißt ein jugendliches Stück sein wird, wie Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert. Dass dieses Stück als Buch (es war eine Broschüre) erschien und an einer Nebenspielstätte der Volksbühne (im dritten Stock) unter seiner Regie sogar aufgeführt wurde, war eine Sensation gewesen. Ich, der ich damals immer älter sein wollte und dementsprechend heute lieber etwas jünger wäre, als ich jemals war, hatte sozusagen nur noch die Wellenbewegung dieses Steinwurfs in einen stillen See nahe der Wohnsiedlung des Politbüros registrieren können. Aber wahrscheinlich beginnen alle später noch lesbaren Spuren üblicher Verdächtiger auf diese Weise. Im Grunde ist man froh, an bestimmten Ereignissen nicht teilgenommen zu haben. Ich wüsste wirklich nicht zu sagen, in welchem Winkel dieses prismatisch vereinfachten Vielecks ich „1968“ verschwunden wäre; ich weiß allein, dass ich in diesem Jahr in die Grundschule kam. Was aber hatten die vielen Männer und wenigen Frauen, unerreichbar geschwisterlich, zwischen unseren Eltern und uns da verzapft? Wohin hatten sie ihre Vorwürfe entwickelt? Welche Anmaßung hatte von ihrem Denken und ihrem Widerspruch zum Lauf der Dinge Besitz ergriffen? Würde ich wirklich zurückdenken, müsste ich anders, ausführlicher schreiben. Wenn ich es aber tatsächlich tun sollte, müsste ich den Kugelschreiber aus dem Fenster werfen und eine Reihe noch lebender und bereits verstorbener Personen besuchen, mit denen dann nicht immer freundlich verlaufende Gespräche zu führen mir auferlegt wäre.
Das Fenster vor dem Tisch, an dem ich gerade sitze, liegt rez-de-cheussée, ich würde riskieren, mein Schreibgerät wiederzufinden. Auch wird man mit den Jahren bekanntlich bescheidener, und die Gegenlachfalten um die Mundwinkel vertiefen sich. Der Mythos verschlingt seine Aufklärer, die ihrerseits, im Gegenzug, auch keine Kostverächter gewesen sein dürften und durften.
Marion erzählte mir, dem Neugierigen, oft und manchmal viel über ihre Brüder, den Vater, das Exil, die Staatsbürgerschaften, die Entwicklungen innerhalb der kommunistischen Parteien und Staaten und Wege und das ganze Elend. Damals war gerade Lieber Georg bei Suhrkamp erschienen, einem Verlag, dessen Name den fernen Klang geistiger Heimat zu atmen schien. Inzwischen ist viel Regenwasser den Main hinunter geflossen, doch weiß ich noch, dass mich bereits der Titel dieses ungewöhnlichen Theaterstücks in atemlose Spannung versetzte. Oder sollte ich sagen mich entzückte? Ein Brief, ein später, aber was ist spät, ein Brief an Georg Heym, den ich in den trüben Jahren meiner poetischen Jugend bis dahin wie kaum einen anderen verehrt hatte…?
Sie überließ mir das wertvolle Büchlein, und ich konnte endlich etwas von diesem Fantomas lesen, von dem es in der DDR nur ein vergriffenes Poesiealbum gegeben hatte, welches ich hier und da bei Leuten einsehen durfte, notwendig immer sehr flüchtig, da Bibliotheken Verbotener und schwierig Aufzufindender sowohl von der Macht als auch von ihrer Kehrseite gehütet wurden wie der sprichwörtliche Augapfel. Von dieser Lektüre habe ich unmittelbar die Figur des Ballonfahrers und die Erinnerung an einen Befreiungsschlag behalten, wie ich ihn in meiner damaligen Lage zweifellos brauchte. Wie kann man Heym, Brecht, Borchert, Müller so in sich bekämpfen, dass man seine Liebe zu ihnen nicht veräußern muss? Wie kann man seiner Liebe begegnen, ohne sich ihr angleichen zu müssen; nur in der Erwartung, sie zu verstehen und von ihr verstanden zu werden? Wie kann man schreiben, ohne denen, die noch nichts gelesen haben, Unrecht anzutun? Und außerdem gab es noch die, die meinten, Thomas Brasch sähe aus wie Adriano Celentano…
Die Zeit kocht auch während der Abschrift meiner unter fünfundvierzig Grad Celsius im südlichen Hof mit dem Blumenrondell um den Pfirsichbaum so hingerotzten Aufzeichnungen weiter. Genügt es nicht, in Thomas Brasch einen veritablen Achtundsechziger des Ostens zu erkennen? Schließlich hat ihn sein Vater, Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend im britischen Exil, dafür ins Gefängnis werfen lassen, dass er nach dem Scheitern Svobodas und Dubčeks in der tschechoslowakischen Botschaft kondolierte. Erich Honecker soll ihn nach seiner Haftentlassung unter vier Augen danach gefragt haben, wie es inzwischen in den Anstalten zuginge… Eine unbekannte Geschichte ist eine, die weder leuchtet noch glänzt. Der älteste Bruder, die älteste Schwester müssen alles durchleiden, was an Unbereitetem in den Köpfen ihrer Vorgänger übrig geblieben ist, und noch ihren Nachfolgern bleibt nichts erspart.
Irgendwann, vielleicht hatte ich mir ein Lied von ihm aus ihrer Kehle gewünscht, schenkte mir Marion Brasch eine Schallplatte aus schwarzem Vinyl, ein Doppelalbum, dem zeitbedingt die eine Hälfte bereits fehlte, mit Bob Dylan’s Greatest Hits, die für die folgenden Jahre im Osten eine Hauptrolle in meinem und dem Leben anderer spielen sollte. Es findet sich darauf ein Lied, das auf keiner anderen Veröffentlichung Dylans zu finden ist; ich habe es Jahre später nur von Elvis Presley gehört, für den es höchstwahrscheinlich auch geschrieben wurde, einmal sogar von Rod Stewart, aber Rod Stewart hat leider auch eine Reihe von Liedern gesungen, die nicht ausdrücklich für ihn geschrieben wurden. Diese Schallplatte stammte aus dem einstigen Besitz von Thomas Brasch und war schon tausendmal gelaufen, abgespielt, wenn nicht die ganze Zeit über gehört worden. Ich sollte meinen Text „Staub“ nennen, „Kratzer“, „Spuren von Sprüngen“, halte aber an mich, so wie es Vorzüge des Wenigen und Vorzüge der Fülle gibt. Freilich lebt in diesem Lande keine Ethik des Erkennens, nur die Neigung zu Phänomenologie und Hermeneutik.
Es gab noch eine Begegnung mit dem Mann, von dem wir hier scheinbar so grabsüchtig sprechen, als ich sein Gedicht „Village Ghetto Land“ zum ersten Mal las, in der Erstausgabe mit Bauchbinde von Marcel Reich-Ranicki, und den Song wieder hörte, der mir, seit ich dreizehn oder vierzehn war, stets der außergewöhnlichste im umfangreichen Schaffen jenes Sängers geblieben ist, der ihn schrieb, sang und weiträumig ausstreute. Auch der mutigste im Übrigen, auch ein Klagegesang Jeremias, auch ein Witz.
Georg Heym (Wolfgang Borchert), Bob Dylan (Bertolt Brecht), Heiner Müller (Stevie Wonder) verbinden mich auf meiner höchstselbsten Abreise aus einer Epoche ohne Sprache der Verständigung mit Thomas Brasch. Über Blah-blah-blah-Shakespeare dürfen wir alle nicht reden, nur von ihm. Da ist eine Königin zwischen. Die Menschheit ist dümmer geworden, das kann man nicht dulden, sie hätte schon lange viel klüger sein müssen. Aber Deutschland hat Eichen und Pappeln, die einen sind silbern und zittern, die anderen, grün oder schwarz, scheinen nur ihresgleichen zu kennen. Es braucht keine Dichter, verbraucht es sie doch. Darauf hat Thomas Brasch in einem Fernsehinterview hingewiesen, das ich erst sah, als er schon nicht mehr lebte. Der Interviewer hieß Nägelein. Deutschland zeichnet seine Dichter für eine Zukunft auf, die geradewegs in die Vergangenheit stürzt. Halbe Liter…!
Man kann weinen und lachen darüber, dass es Thomas Brasch nicht mehr gibt, Peter Brasch, Klaus Brasch, Horst Brasch und viele, über die man nichts anderes zu sagen hätte, aus den Zeiten heraus für die Zeiten. Wer spricht von den Müttern, und wer spricht mit ihnen? Mit wem eigentlich sprechen sie:
Bitte konfrontiere mich nicht mit meinen Fehlschlägen, ich habe sie nicht vergessen.
Es hat Tage gegeben, und Tage sind noch nicht gekommen. Der Tanz der sich gänzlich entleerenden Leere wird einem Augenblick der Selbstvergessenheit gehören. Besser freilich wäre es, auch diesem Augenblick gehörte nichts.
für Jackson Browne, Marion Brasch und Petra Schramm
Ulrich Zieger
DAS THEMA „FAMILIE“
Aus einem Gespräch zwischen Marion Brasch und Martina Hanf / Kristin Schulz am 27. November 2003
Martina Hanf / Kristin Schulz: Können Sie uns sagen, wo der Familienname Brasch herkommt und was er bedeutet?
Marion Brasch: Ein Namensforscher hat mir zwei Möglichkeiten genannt. Es gäbe sowohl eine niederdeutsche als auch eine jüdische Deutung. Im Mittelniederdeutschen bedeute „brasch“ Krach, Geschrei, und beziehe sich demnach auf einen lauten, lärmenden Menschen. Was die jüdische Herkunft betrifft, gehe der Name Brasch auf Brosch oder Berosch zurück, was wiederum eine Entwicklung aus Ben reb Schlomoh, also Sohn des Rabbi Schlomoh (Salomon) sei.
Hanf / Schulz: Von vier Geschwistern in der Familie Brasch sind Sie die Jüngste. Zwischen Thomas und Ihnen gab es den beträchtlichen Altersunterschied von 15 Jahren. Wie haben Sie Ihren Bruder Thomas wahrgenommen?
Brasch: Als Gast. Als ich ungefähr drei war, hat er schon nicht mehr zu Hause gewohnt. Am Wochenende kam er manchmal vorbei. Natürlich war er immer mein „großer Bruder“, und als ich ein bisschen älter wurde, wollte ich ihn unbedingt heiraten, was er mir auch versprochen hat. Er war liebevoll und sehr aufmerksam zu mir. Wenn Thomas kam, war das etwas Besonderes für mich. Als Bruder war er mir vertraut, aber irgendwie doch sehr weit weg. Klaus habe ich viel intensiver wahrgenommen, Peter sowieso.
Ich glaube, Thomas war sehr verletzlich, verwundbar und sehr einsam und zugleich jemand, der sich selber nicht lieb hatte. Sehr warm, sehr kalt, ja sehr klug… Unberechenbar, sodass ich manchmal Angst hatte, wenn ich ihm begegnete.
Hanf / Schulz: Und wann wurde er für Sie der Schriftsteller und Künstler?
Brasch: Wenn er nach Hause kam, hat die Familie zusammen gegessen, und dann gab es regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern und ihm. Es ging natürlich um Politik, aber auch um sein Schreiben und seine „fixen“ Ideen. Da hab ich das erste Mal, vielleicht mit 7 Jahren, mitbekommen, dass er schreibt, dass er Künstler ist, dass er etwas Besonderes macht und zwar etwas, das meine Eltern, speziell mein Vater, eigentlich nicht so toll fanden. Richtig bewusst mit dem beschäftigt, was er macht, habe ich mich erst später. Seine Gedichte im Poesiealbum von 1975 waren das Erste, was ich von ihm las, da war ich 14. Ich war stolz auf meinen Bruder und auf seine Gedichte, auch wenn ich sie erst viel später verstanden habe.
Hanf / Schulz: Hat Ihr Bruder von den Schwierigkeiten, seine Texte veröffentlichen zu können, in der Familie gesprochen?
Brasch: Bestimmt, aber das habe ich nicht mitbekommen. An solche Gespräche in der Familie kann ich mich nicht erinnern, nur an den permanenten Krieg, der da manchmal im Stillen und manchmal laut ausgetragen wurde, und dass da Türen geschmissen wurden und Thomas gegangen ist. Worum es bei diesen Auseinandersetzungen ging, habe ich damals nicht begriffen. Aber ich habe mich immer sehr unglücklich dabei gefühlt.
Hanf / Schulz: Gibt es für Sie Gedichte, Stücke, Prosatexte Ihres Bruders, die Ihnen besonders nah sind?
Brasch: Das Erste, was ich richtig gelesen habe, war Vor den Vätern sterben die Söhne. Da habe ich vor allem die Sprache wahrgenommen und dachte: Das ist stark, er kann so wichtige Sachen in so wenigen Sätzen sagen. Aber es gab auch Erzählungen, die ich nicht verstand, weil sie mit meiner „Welt“ nichts zu tun zu haben schienen. Dass es in diesen Texten um seine eigene Geschichte und den Konflikt mit unserem Vater ging, wurde mir erst sehr viel später klar.
Hanf / Schulz: Vor den Vätern sterben die Söhne ist 1977 zunächst nur im Westen erschienen. Wie ist das Buch in Ihre Hände gekommen?
Brasch: Ich glaube, er hat es mir gegeben, als wir uns 1978 in Ungarn getroffen haben. Ich war dort mit Freunden trampen und setzte mich irgendwann nach Budapest ab, um ihn zu sehen. Mein Vater hat davon nichts gewusst, er hätte es mir wohl verboten.
Hanf / Schulz: Hat Ihr Vater das Buch gelesen, und wie hat er sich dazu geäußert?
Brasch: Ja, er hat es gelesen. Er hatte es im Regal stehen und sagte immer: „Versteh ich nicht.“ Irgendwann, als Thomas’ Film Der Passagier mit Tony Gurtis herauskam, da habe ich das erste Mal so etwas wie Stolz bei ihm gespürt: „Guck mal an, der Thomas, der hat es offenbar geschafft, mit den Sachen, die ich nicht verstehe.“ Da war plötzlich Respekt. Damals hat er sich das Buch wieder vorgenommen, es gelesen, dann aber gesagt: „Das versteh ich trotzdem nicht.“
Hanf / Schulz: Könnten Sie benennen, was das Problem zwischen Ihrem Vater und Ihrem Bruder war?
Brasch: Es ist wahrscheinlich ziemlich komplex. Man kann es vielleicht ganz einfach sagen, aber man darf dabei nicht die Biographie meines Vaters vergessen. Mein Vater wurde irgendwie von einer Religion zur nächsten mehr oder weniger gedrängt. Geboren als Kind jüdischer Eltern, kam er dann zum Katholizismus, ging in die Emigration – plötzlich die Konfrontation mit dem Marxismus, Kommunismus. Er hat immer eine Religion gebraucht, einen Glauben. Thomas war hingegen jemand, der alles hinterfragte und in Frage stellte. Da fühlte sich mein Vater in seinem Glauben betrogen. Thomas hat alle Grundfesten eingerissen, die für meinen Vater existierten. Er hat permanent daran gerüttelt, gar nicht, um seinen Vater ständig anzugreifen, sondern um seiner selbst willen. Für meinen Vater ergab sich daraus das Problem, Thomas so zu akzeptieren und vor allem zu lieben. Sicher war es auch der typische Generationskonflikt: Die Söhne müssen gegen die Väter rebellieren.
Hanf / Schulz: Thomas Brasch hat sich immer wieder mit der Biographie seiner Eltern und der Geschichte seiner Familie auseinander gesetzt. Inwieweit ist die Emigration im Kreis der Familie thematisiert worden?
Brasch: Meine Eltern haben sich nie in eine Opferrolle begeben, was ich sehr gut fand. Sie haben aus dieser Zeit erzählt, dass es sehr schwer war, klarzukommen, dieses Leben zu führen, gleichzeitig aber auch weiterzudenken in eine Zukunft nach dem Krieg. Mein Vater hat davon gesprochen, was die Emigration aus ihm gemacht hat, wie sie ihn verändert hat. Das Judentum wurde permanent verdrängt, gerade von meinem Vater. Er hat immer behauptet, er sei kein Jude und habe nicht deswegen Deutschland verlassen müssen, sondern weil er Antifaschist war. Dabei war er gerade 16 Jahre alt und an einem katholischen Gymnasium… Thomas hat nie begreifen können, warum mein Vater sein Judentum verleugnete.
Hanf / Schulz: Wie konnte Ihre Großmutter, Margot Thesing, die – obwohl zum Katholizismus konvertiert – nach den Rassengesetzen der Nazis als Jüdin galt, in Deutschland überleben?
Brasch: Gurt Thesing, ihr Mann und der Stiefvater meines Vaters, war offenbar sehr einflussreich. Er war ein liberaler Katholik, ein Intellektueller, ein weltgewandter Mann. Er hat sie letztlich vor allem bewahrt, was hätte kommen können, auch vor dem Konzentrationslager. Unsere Großmutter hatte eine Schwester, eine Tänzerin, die mit der Frau von Hermann Göring eng befreundet war. Es gab offenbar bestimmte Kreise, die verschont blieben, die unantastbar waren.
Hanf / Schulz: In seinen unveröffentlichten Memoiren beschreibt Ihr Vater, dass er ab 1936 ein Internat des Institutes der Benediktinerabtei in Ettal besuchte und dass der Katholizismus auch noch in der Zeit der Emigration bis 1940 für ihn eine wesentliche Rolle spielte. Er äußerte in einem Brief aus dem Internierungslager in Kanada, dass er die Absicht habe, Priester zu werden. Hat er Ihnen davon erzählt?
Brasch: Nein. Mir hat er von der Begegnung mit einem Kommunisten in Kanada erzählt, der ihm Das Kapital zu lesen gab, was ihn dann von heute auf morgen bekehrt habe. Wahrscheinlich wollte er es mir besonders einfach erklären.
Hanf / Schulz: Gab es so etwas wie Traditionen in Ihrer Familie? Pflegte Ihre Mutter jüdische Traditionen?
Brasch: Nein. Es gab eine Zeit, als wir in Karl-Marx-Stadt wohnten, da hat sich meine Mutter Weihnachten im Schlafzimmer eingeschlossen und erklärt, sie hätte mit diesem Fest nichts zu tun, das sei nicht ihr Fest. Nach zwei Stunden kam sie wieder raus und dann wurde sozialistisches Weihnachten gefeiert, mit Bescherung usw. Tradition hat überhaupt keine Rolle gespielt. Dass ich aus einer jüdischen Familie komme, habe ich erst sehr, sehr spät mitbekommen. Es hat mich auch nicht interessiert. Ich glaube, meiner Mutter ist es manchmal sehr schwer gefallen, ihr Selbstbewusstsein als Jüdin ad acta zu legen. Aber sie hat es getan.
Hanf / Schulz: Im August 1968 wurde Thomas Brasch wegen des Verteilens von Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR verhaftet. Wie haben sich Ihre Eltern in dieser Situation verhalten?
Brasch: Ich kann mich an diesen Tag überhaupt nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nicht da war oder ob ich weggesperrt wurde. Ich kenne diese Geschichte nur aus Erzählungen von Thomas. Mein Vater wollte darüber nicht sprechen. Auch als ich ihn später fragte, was 1968 passiert sei, antwortete er, dass er darüber nicht reden wolle. Solche Gespräche hat er immer abgeblockt.
Hanf / Schulz: Was hat Ihnen Thomas über seine Verhaftung und diese Zeit berichtet?
Brasch: Thomas und Sanda Weigl erzählten, dass Thomas richtig Manschetten gehabt hätte. Beide hatten sich versteckt, und Thomas habe dann gesagt: „Ich geh jetzt zu meinem Vater, und der wird mir helfen.“ Er sei dann hingegangen, und es hätte diese Absage gegeben. Mein Vater hätte gesagt, er gehe Zigaretten holen, und hätte von unterwegs angerufen und ihn angezeigt.
Hanf / Schulz: Haben Ihre Eltern Thomas im Gefängnis besucht?
Brasch: Mein Vater nicht, aber meine Mutter. Das hat mir jedoch auch nur Thomas erzählt. Sie hat ihn wohl heimlich besucht, ohne dass mein Vater davon wusste.
Hanf / Schulz: Ist es richtig, dass sich Ihr Vater auch gegen die vorzeitige Entlassung auf Bewährung gewandt hat?
Brasch: Das weiß ich nur von Thomas. Es ging danach auch darum, dass er bei Helene Weigel im Brecht-Archiv arbeiten konnte und mein Vater gesagt hätte, er solle mal schön weiter im Transformatorenwerk bleiben.
Hanf / Schulz: Wie haben Sie Ende 1976 den Weggang Ihres Bruders aus der DDR erlebt?
Brasch: Den Fakt selbst habe ich komischerweise erst mitbekommen, nachdem es passiert war. Ich habe nicht erfahren, dass er weggehen wird. Er hat mit mir darüber nicht gesprochen. Mein Vater sagte mir plötzlich, dass mein Bruder im Westen sei, und ich bin aus allen Wolken gefallen: Wieso, warum, was ist los, und warum erfahre ich das erst jetzt? An das Gespräch mit meinem Vater kann ich mich genau erinnern. Er erklärte in verächtlichem Ton, dass Thomas nicht mehr in der DDR leben wolle. Danach war ich völlig niedergeschlagen und habe ewig nichts von Thomas gehört, wie auch.
Hanf / Schulz: Welche Kontakte gab es in der Zeit, bis die Mauer fiel?
Brasch: Ich habe Thomas Briefe geschrieben, die ich mich teilweise nicht traute abzuschicken, weil ich dachte, das darf ich nicht, wenn das jemand mitkriegt und mein Vater…! Telefoniert haben wir ganz selten, das ging nur von Peter aus. 1981 war er hier in Berlin zum deutsch-deutschen Schriftstellertreffen. Da habe ich ihn das erste Mal wiedergesehen. Es war auch sein erstes Mal wieder im Osten, und er wurde ganz sentimental und sprach von seiner Liebe zu diesem Land. Er wohnte bei mir, und als er nachts, etwas angesoffen, zu mir kam, sagte er: „Ich habe noch in einer Bar gesessen, da stand so eine wunderschöne Frau, in die habe ich mich verliebt, das war die DDR.“ Einerseits war er ganz sehnsüchtig, andererseits kam er sich völlig verloren vor.
Hanf / Schulz: Gab es auch Begegnungen mit den Eltern?
Brasch: Meine Mutter war ja schon tot. Mit unserem Vater gab es später eine Begegnung, da hat Thomas seinen DDR-Pass verlängern lassen. Ich habe ihn am Checkpoint abgeholt und zu meinem Vater gefahren. Dort gab es ein Gespräch zwischen den beiden, bei dem Thomas noch mal nach Antworten suchte. Er wollte wissen, warum er auf die Kadettenschule geschickt wurde, warum sein Vater ihn ’68 angezeigt hatte… Mein Vater guckte Thomas nicht an, er guckte immer irgendwo anders hin und erklärte, dass alles gesagt sei, dass es nichts mehr zu sagen gäbe. Es dauerte zwei Stunden, Thomas hat geredet und geredet, hat ihm erzählt, was er denkt und fühlt und was er nicht versteht, was er aber verstehen wolle, dass er meinen Vater nicht anklagen oder schuldig sprechen wolle… Von meinem Vater kam nichts, gar nichts. Thomas ist aufgestanden und gegangen. Ich habe ihn zum Checkpoint zurückgefahren und gesehen, wie unglücklich er war, und mein Vater rief mich dann an und fragte, auf wessen Seite ich eigentlich stünde.
Hanf / Schulz: Sind Ihre und die Begabungen Ihrer Geschwister durch Ihre Eltern gefördert worden?
Brasch: Nein. Die musische Begabung, die alle meine Brüder hatten, oder diese Begabung, sich auszudrücken, das kam von meiner Mutter, die ja Schauspielerin oder Sängerin werden wollte. Mein Vater war ein absolut unmusischer Mensch. Nicht, dass er keine Sensibilität gehabt hätte, er hat Musik auch geliebt, aber eher passiv. Was Sprache betrifft, war mein Vater wirklich gänzlich untalentiert. Ich weiß nicht, ob seine Sprache durch das blöde Funktionärsdeutsch so heruntergekommen ist. Er war ein sehr rationaler und pragmatischer Mensch. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. Ich glaube, sie war hochsensibel, emotional und sehr begabt. Auch wenn sie all das mit den Jahren immer mehr versteckt oder verdrängt hat – diese Seite hat sich bei den Kindern durchgesetzt.
Hanf / Schulz: Der Wunsch Ihres Bruders, 1954 die Kadettenanstalt der NVA zu verlassen, weil er Schriftsteller werden wollte, wurde von Ihrem Vater abgelehnt. Wie hat sich Ihre Mutter dazu verhalten?
Brasch: Die Rolle, die meine Mutter an der Seite dieses Mannes und in dieser Familie eingenommen hat, war sehr zwiespältig. Ich weiß nicht, ob sie zu feige war, sich zu wehren und das zu tun, was sie eigentlich wollte. Sie hat sich eben arrangiert. Sie war nicht nur diese weiche Frau. Sie ist mit der Zeit ziemlich verhärtet. Teilweise konnte sie richtig zynisch werden, was sicher mit ihrer eigenen Biographie zu tun hat, mit dem Scheitern an ihren Wünschen. Sie hat sich, glaube ich, für Thomas nie wirklich eingesetzt. Sie hat ja dann auch an der Seite von Horst Brasch Karriere gemacht. Dass sie glücklich dabei geworden ist, glaube ich nicht, aber sie hat sich irgendwie abgefunden.
Hanf / Schulz: Immerhin hat Ihre Mutter, als die Familie in Cottbus lebte und sie bei der Lausitzer Rundschau arbeitete, vermutlich Thomas’ erste Veröffentlichung, das „Märchen vom Fuchs, Adler und Nilpferd“, das 1956 in dieser Zeitung erschien, vermittelt.
Brasch: Das sind so Geschichten, von denen ich gar nichts weiß. Ich komme mir ohnehin wie ein Anhängsel vor. Das meine ich nicht böse oder tragisch, das ist ja auch mein großes Glück wahrscheinlich. Aber solche Sachen muss ich mir immer erzählen lassen und habe mitunter das Gefühl, dass alle anderen mehr über diese Familie wissen als ich selbst.
Hanf / Schulz: Was für ein Geschichtsbild wurde Ihnen durch Ihre Eltern vermittelt? Thomas Brasch hatte ein sehr eigenes, anarchistisch subversives, das sich in seinen Werken widerspiegelt. Könnte man sagen, dass dieses Macht-Abgewandte bei ihm auch mit der Nähe Ihres Vaters zur Macht zu tun hatte?
Brasch: Kann ich mir vorstellen, es wäre eine Möglichkeit. Was mich betrifft, lief das, was mir zu Hause vermittelt wurde, parallel zu dem Geschichtsbild, das ich in der Schule gelernt hatte. Thomas hat sich sicher am Anfang auch mit diesem Geschichtsbild identifiziert. Wodurch sein Blick sich verändert hat, durch wen und was da eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Sich mit der Gesellschaft zu beschäftigen und Dinge anders wahrzunehmen, als sie einem vermittelt werden, ist ein Prozess – bei mir hat der viel später eingesetzt.
Hanf / Schulz: Gab es nach dem Tod Ihres Vaters 1989 enge Verbindungen zu Ihren Brüdern Peter und Thomas?
Brasch: Jas war sehr unterschiedlich. Zu Peter hatte ich natürlich ein viel innigeres Verhältnis als zu Thomas, mit Peter bin ich aufgewachsen. Nach dem Tod unseres Vaters hatten beide immer mal wieder solche sentimentalen Anwandlungen: Wir sind doch eine Familie, und wir müssen zusammenhalten. Aber so was kam nie von beiden gleichzeitig und meistens auch nur, wenn sie einen in der Krone hatten und der eine mit dem anderen mal wieder ein Problem austrug. Das Thema „Familie“ hatte sich da für mich schon lange erledigt. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Jüngste und ja auch Letzte bin, die die Familie hat zerbrechen sehn.
– Vorwort
I
– Thomas Brasch: „Alles müßte sich lösen, der Winter im Herzen, das ewige Schneetreiben im Kopf…“
– Thomas Brasch: Am Lenin-Platz
– Christoph Hein: Und bald ist es vorbei
– Thomas Brasch: Trennung oder eine Konjugation
– Thomas Brasch: Der Traum von den Tannen
– Ursula Andermatt: Liebe ist Arbeit
– Thomas Brasch: Kinski
– Josef Bierbichler: Brasch (1945–Nov. 3.2001)
– Thomas Brasch: Schuhgröße 65
– Günter Grass: Herz ohne Vier
– Jürgen Miermeister: Der Adler der Anarchie
– Thomas Brasch: Neujahrslied
– Thomas Brasch: In den Köpfen Gedanken zersägend
– Marion Brasch: Das Thema „Familie“
– Thomas Brasch: Meinem Bruder
II
– Thomas Brasch: Jenseits von Herzogenbusch
– Thomas Brasch: Drei Vermutungen
– Thomas Brasch: Leoncegeschichte
– Thomas Brasch: Valeriogeschichte
– Alexander Polzin Horst / Gerda / Thomas / Klaus / Peter / Marion
– Thomas Brasch: „Ach, ein Haus bauen wäre schön“
– Thomas Brasch: Marathon
– Bernd Jentzsch: Nichts Provokanteres
– Friedrich Christian Delius: „Für meinen ersten Verleger“
– Thomas Brasch: Schlimmes Erwachen
– Thomas Brasch: Selbstkritik 36
– Thomas Brasch: Ich weiß, wer ich bin.
– Peter Handke: Ein Brief
– Peter Schneider: Unordentliche Notizen
– Ulrich Zieger: Eins, zwei, drei: Kalte schwarze Platten
III
– Thomas Brasch: Das Fest der Besiegten
– Thomas Brasch: Der Liebesfall
– Thomas Brasch: Liebe oder Polizei
– Thomas Brasch: Nathans Wiederkehr
– Anatol Erdmann Arbeiten
– Thomas Brasch: Die Herzausreißer
– Thomas Brasch: Hör mein verflucht und zugenähtes Herz
– Thomas Brasch: Fräulein Kuckuck
– Christian Kuno Kunert: Show down
– Joachim von Vietinghoff: Zweifellos ein Visionär
– Katharina Thalbach: Mein kleines Stücklein blass
– Hanns Zischler: Going West
– Thomas Brasch: Brunke hat Angst
IV
– Thomas Brasch: Prolog vor dem Theater
– Thomas Brasch: Die Pest Das Herz Die Wahl Das Wort
– Thomas Brasch: Rot oder Jetzt
– Anna Thalbach: Thomas, ich habe von Dir geträumt. Deine Stimme am Telefon. Weit weg.
– Peter Brombacher: „Westwärts, ho!“
– Klaus Pohl: Unüberhörbar schweigen
– Stephan Suschke: Wie es bleibt ist es nicht
– Thomas Brasch: Wenn man woanders wär –
– Angela Winkler: „Mögest du nie vergessen dass ich an dich glaube“
– Klaus Völker: Dylan, Shakespeare und andere
– Hermann Beil und Jutta Ferbers: Eine glückhafte Begegnung
– Anhang
– Biographie Thomas Brasch
– Biographie Bernd Heyden
– Zu den Autorinnen und Autoren
Das Buch lädt ein, bisher unbekannte und unveröffentlichte Texte und Dokumente aus dem Nachlass von Thomas Brasch, einem der bedeutendsten Autoren und Filmemacher der deutschen Nachkriegsgeneration, zu entdecken. Biographische Aufzeichnungen, dramatische Texte, Gedichte und Prosaarbeiten über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren geben Einblick in die spezifische Arbeitsweise und Ideenwelt des Autors.
Anliegen der Herausgeberinnen war es, den oftmals verborgenen Weg künstlerischer Produktion aufzuspüren, noch arbeitendes Material, im eigentlichen Sinne eines „Arbeitsbuches“, zu publizieren. Zwischen den veröffentlichten und bisher unveröffentlichten Texten ergibt sich ein dichtes Netz an Bezügen. So erweitern beispielsweise die ausgewählten Filmexposés nicht realisierter Projekte den Blick auf Geschichte in panoramahafter Weise, wenn zu dem Schauplatz Nachkriegsberlin (ENGEL AUS EISEN), Westberlin (DOMINO) nun plötzlich der Osten Berlins der 90er Jahre tritt (LIEBE ODER POLIZEI).
Einige Schaffensgeheimnisse reflektieren und erinnern zugleich die hier zusammengestellten Texte von Wegbegleitern. Sie geben Zeugnis von der Energie und der Intensität, die dem Schreiben und Denken, dem Fühlen und Urteilen von Thomas Brasch eigen waren. Sie heben die Besonderheit und Dichte des Augenblicks der Zusammenarbeit hervor, denen der Autor keine Grenzen, nichts Festes und Bestehendes als endgültig zugestehen wollte. In ihnen wird – wie wir meinen – im Rückblick noch einmal deutlich, dass ein Zusammen-Arbeiten mit ihm an seiner Person, an seinem Persönlichstem nicht vorbeikommen konnte und umgekehrt, dass ein Zusammen-Leben mit ihm nicht ohne Lebens-Kunst, nicht ohne künstlerische Produktivität denkbar schien. Manche der von den Herausgeberinnen angeschriebenen Autoren, Schauspieler und Freunde waren wegen der nachhaltigen Nähe seines Todes noch nicht in der Lage, sich äußern zu können.
Sowohl die Texte des Autors als auch die Beiträge bezeugen auf unterschiedliche Weise und in verschiedener Perspektive einen der Wesenszüge des Autors: Er war auf sehr besondere Weise den Widersprüchen des Seins in der Zeit ausgesetzt – eine Utopie zu finden in einer unvollkommenen, manchmal zerstörerischen, geschichtlichen Realität. Sie machen seinen verzweifelten und oft erfolgreichen Versuch deutlich, eine andere Perspektive auf das Leben zu finden als die überkommene und bestehende. Die Grenzen zu sprengen – auch die eigenen – war Programm und Arbeitsweise zugleich. Das ergoss sich in Experimenten mit anderen Formen, in einem ungeheuren Einfallsreichtum und in den Anforderungen auch an alle, die hier über ihre gemeinsame Zeit mit ihm berichten. Geduld war nicht seine Sache. Die Verwirklichung der Ideen konnte nicht warten, bis die Bedingungen sie gefügig machten. Die Sucht nach Perfektion konnte dabei ein Mittel sein, sich der bequemen Verfügung zu entziehen.
Viele der Texte Thomas Braschs künden vom zunehmenden Verlust eines inneren Ortes, der Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einer Gesellschaft, einem Gemeinwesen. Mehrfach ging der Mensch und Künstler dieser inneren und äußeren Orte, die er suchte, verlustig. Als Sohn einer jüdischen Emigrantenfamilie wuchs er im kommunistischen Elternhaus zu höherer Funktionärsberufung auf. Aber bereits zwölfjährig formulierte er den Wunsch, Schriftsteller zu werden und erbat einen Schulwechsel, ein Wunsch, dem der Vater nicht stattgab. Vier Jahre verblieb er im Griff militärischer Disziplin, in einem Internat an der Kadettenanstalt der Nationalen Volksarmee in Naumburg, der einzigen Anstalt dieser Art in der DDR. Als sie 1960 aufgelöst wurde, hatte seine Seele bereits einen Riss, eine Fuge, die sich nie wieder schließen sollte. Später folgten Gefängnisaufenthalt wegen „staatsfeindlicher Hetze“, Landwechsel von Ost nach West ohne Annahme der bundesdeutschen Staatsbürgerschaft und schließlich die Rückkehr an den Schiffbauerdamm, das Berliner Ensemble im Rücken und den Bahnhof Friedrichstraße über die Spree im Blick. Dass diese Momente in den meisten Beiträgen eine wesentliche Rolle spielen, ist nicht verwunderlich, prägten sie doch wesentlich das Muster von Begegnungen und Erfahrungen.
Strukturiert ist das Buch in vier Teile: Der erste bildet den biographischen Schwerpunkt mit dem Tagebuch aus den Jahren 1969/70, im zweiten sind vorwiegend Prosatexte versammelt, darunter Auszüge aus dem Brunke-Roman-Konvolut, anschließend eröffnen unbekannte Filmexposés den Blick auf den Filmregisseur Brasch, und im letzten steht das Theater im Mittelpunkt. Sämtliche Texte, handschriftliche Aufzeichnungen und Dokumente, wenn nicht anders angegeben, entstammen dem Thomas-Brasch-Nachlass in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin.
Die Orthographie folgt in den Texten von Thomas Brasch seinen teils eigenwilligen Vorgaben, offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Alle Angaben in eckigen Klammern sind Hinzufügungen der Herausgeberinnen.
Erweitert wurde der Band durch Fotos von Bernd Heyden aus dem Ostberlin der 70er Jahre und Werke der Kunst, um den bildhaften Bezug auf Zeitgenössisches, auf Umgebendes, den Autor Anregendes im nahen und weiten Sinn herzustellen.
Sämtliche Beiträge aller anderen Autoren sind, sofern nicht anders ausgewiesen, für dieses Buch entstanden. An dieser Stelle möchten wir allen Beteiligten für ihr Engagement und ihr Interesse, für Anregungen und Gespräche ausdrücklich danken.
Martina Hanf und Kristin Schulz, Vorwort
In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.
Christoph Rüter: Brasch – Das Wünschen und das Fürchten
Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.
Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
„Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.
Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.
Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will
Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders
Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch
Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015
Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020
Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020
Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021
Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021
Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021
Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021
Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021
Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).
Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.
Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.
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