– Miroslav Holub und sein Gedicht „Oxydation“. –
MIROSLAV HOLUB1
Oxydation
Unsichtbare Flamme erhebt sich über Tischen.
Gierige Verbindung der Elemente
von etwas mit nichts,
von etwas, das man nicht ausspricht,
mit etwas, das man ausspricht,
verborgener endothermer Unrat.
Der Prozeß verläuft
zu dem einen Ohr hinein,
zum anderen hinaus,
das Gehirn mahlt vergiftete Körner,
und die große Wanderratte hinter der Glaswand
gedeiht wie der rosige Patron der Bader;
sanfter, anhaltender Aderlaß.
Wir gedeihen ins Aschgrau.
Und in den Wimpern, Monotypen
der Fremdheit im Eigenen,
setzen sich die Oxyde des Schweigens ab
und die Hydroxyde der Resignation.
Sei’s drum.
Es wird kein Gold geben. Der Stein der Weisen
ist nicht eingeplant.
Rauch aus Schulheften und Zeichnungen sinkt in die Münder.
Fehlen uns Worte, applaudieren wir.
Und innen,
innen in dieser Retorte aus Menschenhaut
setzt sich eine hohe Aschenstatue ab,
mit tränigen Augen,
mit weißen, zittrigen Lippen,
sie wiederholen in Nächten, wenn
die Wurzeln tanzen und der Stern pfeift,
das leere, aschige Urwort
Dann Dann Dann Dann.
nicht extrovertiert bin, ist meine Schreibart doch eher nach außen als nach innen gerichtet. Von dem Augenblick an, da es mir gelang, so etwas wie einen eigenen Ausdruck zu finden – mit beträchtlicher Mühe und sukzessiver Hilfe von Prévert, Różewicz, Herbert und Sandburg, nicht gerechnet meine heimischen Generationsgenossen –, hielt ich es für glücklicher und zeitgerechter, mich mehr der umliegenden Realität als dem inneren Festland zuzuwenden: ungefähr auf die Weise, die Alain gemeint hat, als er sagte:
Der Geist findet keine Erlösung, wenn er seine Aufmerksamkeit bloß auf sich selbst richtet, was schließlich nur Verfolgung des eigenen Schattens ist, er findet die Erlösung erst, wenn er einen bestimmten Gegenstand sucht und auf diesem weiterbaut.
Anfang des Gedichtes ist für mich die Sehnsucht oder der Wille, ein Stück Welt einzufangen und zu fixieren, in einem bestimmten Augenblick, mit maximaler Authentizität und – soweit möglich – mit maximalem Mitteilungswert. Motor des Gedichts ist für mich eine Art Gedanke, und zwar ein einziger Gedanke, weil Vielheit und Überdruck von Phantasie und Sinnbedeutung nicht mein Fach sind und nicht in meinen Kräften liegen. Gedanke –: damit meine ich nicht den philosophischen Ausspruch, denn Philosophie läßt sich mit Poesie ebenso schwer mischen wie mit Molekularbiologie. Gedanke –: damit meine ich eher den gestaltungsfähigen Einfall, verbunden mit einer gewissen menschlichen, in der Regel moralischen Botschaft.
Man könnte glauben, im Gedicht „Oxydation“ gehe es gerade ums Innere, um einen eng-subjektiven Prozeß; doch dem ist nicht so: es geht um einen allgemein subjektiven Prozeß, um einen Prozeß vieler, sehr vieler Menschen und Gemüter. Vom Standpunkt des Autors ist es nicht weniger ein Gedicht objektiver Realität als das Gedicht über die Ermordung des Archimedes.
Das ganze Gedicht „Oxydation“ basiert auf einer grundlegenden Metapher, auf dem Vergleich des psychologischen und moralischen Prozesses im Menschen mit der chemischen Reaktion. In dieser Metapher sind a priori Sinn und Aussage enthalten: der Prozeß menschlicher Aussöhnung und geistiger Erweiterung ist kein aktiver, gestalterischer und offensiver Prozeß, sondern ein passiver wie das Glimmen, ein natürlicher wie das Holzhacken und ein schützender wie das Schließen der Tür bei Zugluft. Das freundliche Wort von der geistigen Erweiterung ist Ausdruck des Bemühens, aus der Not eine Tugend zu machen.
Die einzelnen Absätze des Gedichtes haben die grundlegende Metapher und die Aussage lediglich näher zu qualifizieren, die konklusive Ausmündung vorzubereiten, in einem gewissen Maß sogar die Konklusion hinauszuschieben, nicht wegen des Zeilenhonorars, sondern um die notwendige Zeit zum Reifen der Neugier und zum Reifen des Unbekannten zu gewinnen; ist doch nach Shelley das ein Gedicht, wodurch Bekanntes die Möglichkeit erhält, in der Gestalt des Unbekannten zu erscheinen.
Das Reifen der Neugier und des Unbekannten ist für den Autor ebenso notwendig wie für den Leser, denn bei allem Apriorischen des grundlegenden Bauprinzips wird der Textfluß durch Augenblicksempfindungen und durch kritische Bewußtwerdung modifiziert; wiewohl das Gedicht im voraus abgeschlossen ist, gewinnen Umfang und Verlauf der Kurve von Zeile zu Zeile neue Logik und neue Koordinaten.
In diesem Gedicht hat sich nach der Umsetzung einzelner Charakteristika der Aussöhnung des Eigenen mit dem Fremden, der Wahrheit mit der Lüge, der unbedingten mit der bedingten Moral folgendes ereignet: dem Bild unseres Ich in Form einer mit Asche gefüllten Statue gesellte sich unerwartet das Wort „Dann, Dann“ hinzu, als letzter Rest einer radikalen und authentischen, wenngleich schon unerreichbaren Menschlichkeit.
Die illusorische Hoffnung, die im Wort „Dann“ enthalten ist, wurde zur zweiten ausdrücklichen Pointe des Gedichtes, sie läuft parallel zur grundlegenden Metapher und hebt die Gewißheit hervor, die wir durch die Kunst gewinnen bzw. gewinnen sollen.
Eine traurige Gewißheit, allerdings.
Darum auch ein trauriges Gedicht.
Aber Gedichte sind meistens traurig.
Überlegen wir einmal, warum.
Heinrich Böll hat gesagt, die Poesie sei frei, organisiert und unerfreulich. Als wissenschaftlich Arbeitender, als Biologe kann ich hinzufügen, daß auch die Wissenschaft frei, organisiert und unerfreulich ist. Ich fürchte zwar, daß beispielsweise die Zucht von Nelken ebenso frei, organisiert und unerfreulich ist, aber das würde die Sache nur unnütz komplizieren. Übrigens –: Freiheit, Organisiertheit und Unerfreulichkeit sind immanente und wesentliche Eigenschaften von Poesie und Wissenschaft, keine zufällig vorhandenen oder von außen herangetragenen.
Die Freiheit von Poesie und Wissenschaft beruht in der subjektiv absoluten Wahl der Zeit und des Raumes, des Stoffes und des Ausdrucks. Die Organisiertheit von Wissenschaft und Poesie beruht im maximalen und bis zur Selbstvernichtung ehrlichen Bestreben, die Wirklichkeit mit den Termini menschlichen Begreifens, der Logik menschlichen Denkens sowie im Einklang mit dem menschlichen Habitus und dem menschlichen Interesse zu interpretieren. Die Unerfreulichkeit von Poesie und Wissenschaft beruht in der Begrenztheit, der das menschliche Subjekt unterworfen ist, der Begrenztheit seiner Fähigkeiten und seiner Mittel. Beide – Poesie und Wissenschaft – haben ihren Wahrheitswert, den Wert erreichter und nicht erreichter Wahrheit, der ganzen Wahrheit in diesem und der armselig fragmentarischen im nächsten Augenblick.
Die größte aktuelle – moralische und heuristische – Kraft der beiden aber beruht in dem Umstand, daß sie sich, zum Unterschied von allen anderen menschlichen Leistungen und Tätigkeiten, dauerhaft und unteilbar ihrer Freiheit und ihrer Unerfreulichkeit bewußt und daß sie fähig sind, in ihnen zu leben und zu handeln. Beide sind Äußerung maximaler menschlicher Toleranz und Kühnheit, maximalen Wissens um das Wissen.
Dennoch bestehen meines Erachtens Unterschiede, und zwar zwischen der Genugtuung und Drangsal des Wissenschafts- und jener des Poesie-Täters: als wissenschaftlich Arbeitender bin ich – trotz aller Freiheit der Wahl – eingereiht, hineingezogen, gebunden in die unendlich vielförmige Abfolge von Gedanken und Taten anderer. Als Lyriker bin ich maßlos einsam und will es in gewissem Sinn auch bleiben. Der Wissenschaftler hofft, daß er „wiederholt“ wird und daß alle sehen, was er sieht. Der Dichter hofft, daß er „unwiederholt“ und seine Entdeckung unsichtbar bleibt, es sei denn, er selbst macht sie sichtbar.
Die Genugtuung wissenschaftlicher Tätigkeit liegt im Zusammenhang und in der Stafettenübergabe. Die Genugtuung des Dichters liegt in der eigenen Integrität und im Feuer seiner Hand, und zwar allein darin.
Die Ewigkeit des Wissenschaftlers wird durch den Zeitstrom meßbar. Die Ewigkeit des Gedichtes auch, außerdem aber durch die Tiefe und Höhe des Augenblicks, durch die vertikale Dimension, durch die Dimension der Gegenwart.
Für mich persönlich ist wissenschaftliche Arbeit die erste und Poesie die zweite Tätigkeit; nämlich im folgenden Sinn: Wenn ich das Mikroskoplicht lösche, bleibt mir noch die (freilich selten realisierte) Möglichkeit, über das Arbeitsergebnis oder über irgend etwas anderes zu schreiben. Habe ich ein Gedicht fertiggeschrieben, bleibt nichts, es ist zu Ende. Nicht nur gegenüber der Wissenschaft, sondern auch gegenüber dem sogenannten Leben ist das Gedicht für mich das, was übrigbleibt, was kurz vorm Ende der Zeit und der Kraft steht.
Die Poesie ist der letzte (wahrscheinlich auch der erste, hauptsächlich aber der letzte) Versuch der Eingliederung von Zeit und Raum, von Schicksal und Welt in die Ordnung des Denkens. Ein letzter, schwacher, unerfreulicher Versuch.
Poesie entsteht dann, wenn nichts anderes mehr übrigbleibt, und ich glaube, das gilt nicht bloß für mich, es gilt für die Poesie überhaupt, für die Poesie als persönliches Faktum und als zwischenmenschlichen Faktor. Poesie ist der letzte Schritt im Menschen und zum Menschen und zu den Menschen, ultimum refugium jenes Funken Hoffnung, den wir in den Kopf genausogut wie anderswohin lokalisieren können, ist doch die Unterteilung der Poesie in intellektuelle und in sinnenhafte vermutlich genauso richtig und wahr wie die Unterteilung der Grillen als solche, die man gerade hört, und in solche, die man gerade nicht hört.
Wenn Poesie, diese keine Instrumente, keine Behelfe, nur Heiligkeit des Wortes verlangende Tätigkeit, eine letzte Zufluchtsstätte darstellt, dann versteht man, daß sich ihr Menschen zuwenden (und es sind meist die besten), denen nichts anderes mehr blieb. Ja ganze Generationen, wenn ihnen nichts anderes mehr blieb. Sie ist das Werk von Lazarus-Typen; wobei ich freilich nicht meine, daß jemand verstoßen und verdammt wurde, weil er Dichter war, sondern im Gegenteil, daß er Dichter wurde, weil man ihn ausgestoßen und verdammt hatte. Die Poesie, wie übrigens auch andere der besten Resultate des Menschseins, ist eine Krisenerscheinung. Ich kann mir keinen Dichter vorstellen, dem es gut geht. Aber ich kann mir den Weltmann vorstellen, der Dichter wird, wenn es ihm nicht mehr gut geht.
Das waren einige große Worte über Poesie. Ich liebe große Worte nicht sehr, auch wenn manchmal ein großes Wort zehn kleine zu ersetzen vermag, so daß man Platz oder Sendezeit spart.
Vor allem aber habe ich Angst vor großen Worten, wenn es um den Übergang aus der Subjektivität in den objektiven Raum geht. Hier ist die Rede von der Poesie als subjektivem Faktum, als subjektivem Faktum sowohl des Autors als auch des Lesers. Sobald ein Autor oder eine Autorengruppe oder eine Generation das private Fegefeuer und die private Erlösung zu objektivieren beginnen, sobald sie aus ihrer Symbolik, aus ihrer Intuition und aus ihren inspirativen Quellen, seien es psychologische, seien es pharmakologische, am grünen Tisch gesellschaftliche Programme zu machen beginnen, sobald sie mit Allheilmitteln und geoffenbarten Wahrheiten kommen, hört die Poesie auf und fängt die Prophetie an. Außer der Schönheit des ehrlichen Irrtums verschafft nichts dem Propheten Daseinsberechtigung in dieser spezialisierten Welt. Meines Erachtens befindet sich der Prophet in einem größeren Irrtum als jemand, der von der Poesie Dienstbarkeit und Engagierbarkeit verlangt: denn dieser verlangt sie in Grenzen, die ihm seine – größere oder kleinere – Qualifikation zuweist; jener aber kennt keine Grenzen. Die Qualifikation der Poesie ist die Poesie. Nicht eine Summe von Erkenntnissen und Ausübungen.
T.S. Eliot stellte fest, der Sinn eines Gedichtes sei stets nur vorgetäuscht. Ein Gedicht erbringt stets noch etwas anderes. Nämlich das, was auf dem Weg vom Autor zum Leser und vom Leser zum Leser und aus der Zeit in die Zeit auftaucht, soweit ein Gedicht überlebt. Das Gedicht ist ein Virus, der verschiedenste Krankheiten – oder Heilungen hervorruft, je nach Beschaffenheit des Terrains. Das Gedicht ist somit doppelt subjektiv. Darin liegt das Mysterium begründet, darin liegt die Übernatürlichkeit begründet, darin liegt aber auch die Grenze begründet: man kann nicht zweimal in denselben Fluß und in dasselbe Gedicht steigen. Das Gedicht ist eine Entdeckung, die jeder auf eigene Faust machen muß. Dem Gedicht ist nicht gegeben, universelles Kriterium für alles zu sein, zum Beispiel für die Wahrheit, für die allgemeine Befreiung oder für die allgemeine Transformation der Existenz. Das ist nur den Illusionen gegeben.
Wir sind gegen Illusionen jedweder Art.
Nach meiner Auffassung ist das Gedicht – und dann nur noch Schweigen.
Miroslav Holub, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
wo er prominentes Mitglied der Pilsener Fußballmannschaft war, in Prag beheimatet, aber für den Berliner Lyrikabend aus New York gekommen, wo er vorübergehend als tschechoslowakischer Gastwissenschaftler arbeitete, und zwar als Lymphozytologe: der Lyriker und Essayist Miroslav Holub.
Er liebt kritische Einsichten in Paradoxien, oder in scheinbare Paradoxien. Er läßt die Skepsis gegenüber simplen Lösungen nicht einschläfern. Sein Doppelberuf, Biologe und Dichter, ist ihm dabei förderlich. Holub hat, bezeichnend für die mittlere Dichtergeneration in der Tschechoslowakei, eine sachlich-ironische Tonart gefunden. Der Mensch ist ihm eine „Retorte aus Menschenhaut“, mit Vorgängen, aus denen sich die literarische, aus denen sich die gesellschaftliche Lage ablesen läßt. „Wissenschaft und Dichtkunst“, beide haben, nach Holub, ihren Wahrheitswert, „den Wert erreichter und nicht erreichter Wahrheit, der ganzen Wahrheit in diesem und der armselig-fragmentarischen im nächsten Augenblick“. Holub gibt sich nicht mit dem alten Bildungsbegriff zufrieden. Wissenschaft contra Kunst ist für ihn ein „aufgeblasenes Problem“. Er weiß zu genau, wie sehr fantasievoll-vorausdenkender Entwurf zur gegenwärtigen Wissenschaft, und andererseits konkretes, gezügeltes Detaildenken zur gegenwärtigen Dichtung gehört. Ein Modell zu entwerfen und dieses Modell in der Ausführung nachzuprüfen und zu ändern, – diese mögliche wissenschaftliche Methode kann man als poetische Methode in den Gedichten von Holub finden. Oder anders, mit den Worten von Franz Peter Künzel ausgedrückt: „Das lyrische Ich ist diszipliniert, vergißt das Leser-Ich nicht, hält das emotionale Anfangsmoment fest, verhindert die schwer nachvollziehbare expressive Kettenreaktion, leitet vielmehr den emotionalen Grundstoff durch die (faktische) Realität.“ – Holub wurde zum Sprecher der „Poesie des Alltags“, behielt dabei immer die wissenschaftliche Umwelt mit im Bewußtsein, die mit ihren un-alltäglichen Ergebnissen und Perspektiven auf das Alltagsdasein zurückwirkt, die Alltagssprache im Gedicht nie allzu selbstsicher werden läßt.
So hat nach seiner Meinung das Gedicht eine heuristische Leistung zu vollbringen, hat sich seiner Freiheit und seiner Unerfreulichkeit bewußt zu sein. Titel von Holub’schen Büchern wie Wohin das Blut fließt oder Das sogenannte Herz deuten das an. – Holub hat u.a. den Polen Zbigniew Herbert ins Tschechische übersetzt.
Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
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