Helmut Heißenbüttel: Helmut Heißenbüttel und sein Gedicht „Gedicht über Hoffnung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Helmut Heißenbüttel und sein Gedicht „Gedicht über Hoffnung“. –

 

 

 

 

HELMUT HEISSENBÜTTEL

Gedicht über Hoffnung

Halluzination großer fremder Städte Stadt
starrt aus eingefallen Ecke Silberburg-Rosen-
bergstraße Novembersonne Gerüst Ahnung
dicht bevor Wiederkehr entgegen Halluzina-

tion letzter Gänge Licht-Schatten-Kolonnen
täglich rostrot bewischt Gerüst durch Mauer-
blenden hindurch Koordinaten und spät Re-
genschieferglanz Fransenstreif abends Ver-

folgung und Angst und Ermatten Erfindung
und Weglosigkeit hell fremd groß Stadt die
Städte des Paradieses was zu kommt uns hell
fremd groß und keine Spur hinterlassen

Spritzfleck endgültig asphalt- und schatten-
gelackt später Umkehr Aufhebung Geschehen
Umkehr Geschehen Schattenbild Vorwurf
Metall rotgelackt dezemberbraun selbst eine

Möve im Binnenland später Kupferhalden
Dohlen Mastenfeld Regenfächer und kleine
Figuren auf langhingezognen Prospekten der
Schrecken der nicht zu erwarten Begegnung

kreiselnder Dohlenfahnen schräg Mengen von
übereinander gestapelten Bahnsteigen plötz-
lich staniolfarben Kalkleuchten Lichterbündel
Lichtbündelbänder Bandfeld dazwischen end-

gültig durch Mauerblenden hindurch Doppel-
sinn Wortdinger Schlagholz Sprache verviel-
facht multipel sooft auf der andern entledigt
dessen was äußerst Nachtigall mitten im Winter

 

Wie anderen auch,

ist mir von Lesern und Freunden, Kollegen und Kritikern die Frage gestellt worden: Warum schreiben Sie, warum schreibst du? Spezieller: Warum schreibst du gerade dies? Warum nicht zum Beispiel Kriminalromane?
Seit ich vor mehr als zehn Jahren zum erstenmal ernstlich mein Gewissen erforscht habe über diesen Aspekt meines Tuns und Lassens, bin ich zu einer Antwort gekommen, die den damaligen Frager mehr oder weniger davon überzeugte, daß ich kein richtiger Schriftsteller sein könne, die ich aber auch heute noch als generelle Auskunft allein gelten lassen könnte: es ist eine Art von schlechter Angewohnheit.
Das heißt, ich will nicht ein moralisches Urteil fällen gegen mich selbst, schlecht ist im Sinne der Redensart gemeint und heißt, eine irreguläre Angewohnheit, von der man sich, so glaubt man sich selbst versichern zu können, trennen könnte, wenn es nur einmal gelänge, mit der Trennung ernst zu machen. Man muß dies, was schreiben heißt, nicht tun. Man kommt, meint man, ohne diese Tätigkeit aus. Viele kommen ohne diese Tätigkeit aus. Doch sie hat eine große Anziehungskraft. Man kann ihr nur schwer widerstehen. Man hat einmal damit angefangen, und wenn der Prozeß im Gang ist, ist man bereit, alles für eine Idee zu verkaufen. Aber am Ende ist es eine Quälerei, und wenn etwas fertig ist, das heißt, wenn man es aufgibt, sich noch länger damit zu beschäftigen, möchte man es nie mehr wieder tun.
Wenn schreiben, so gesehen, so etwas wie ein Laster ist, dann aber doch eins, bei dem nicht, wie bei anderen, etwas verbraucht wird, sondern bei dem etwas herauskommt, an dem man, nach einer Weile und rückwärts gesehen, wiederum ein gewisses Vergnügen empfinden kann oder, anders ausgedrückt, in dem man überraschenderweise die Spur von etwas wiederfindet, das sonst unaufhaltbar zu vergehen scheint, ein kleines Wehr gegen den Strom, in dem alles vorbeifließt. Man könnte auch mit einem altmodischen Verfasser von Gedichten, mit Theodor Storm, sagen:

Da hab ich den ganzen Tag dekrediert;
Und es hätte mich fast wie so manches verführt:
Ich spürte das kleine dumme Vergnügen,
Was abzumachen, was fertigzukriegen.

Ich möchte sagen: darauf liegt der Ton, auf diesem kleinen dummen Vergnügen, was fertigzukriegen. Alles andere kommt danach. Denn wenn man einmal anfängt, der Verlockung durch dieses Vergnügen nachzugeben, weiß man ja noch nicht unbedingt, auf welche Weise man das machen soll. Jeder, der anfängt zu schreiben, kennt die Kalamität zwischen dem, was sagbar, scheint und dem, was sagbar ist, dem, was möglich scheint und dem, was sich als unmöglich erweist. Die meisten kennen den Glanz der Vorstellung, der Einbildung, der nicht standhält, wenn man sich ernstlich ans Schreiben begibt. Mit Zungen wie in sagenhafter Vergangenheit redet heute keiner mehr. Jeder, der dem Vergnügen des Fertigkriegens nachgeht, steckt bereits in einem Vexierkasten aus Angelesenem, aus Faszinationen, aus Auswendigem, aus Vorbildlichem und Vorurteilendem. Erst wenn die Identität von Fertigzukriegendem mit irgendetwas zu Sagendem einspringt, fix wird, unwiderruflich, beginnt sich das Durcheinander dieses Vexierkastens an einigen Stellen zu ordnen. Irgend etwas zu Sagendes? Ist das, was man fertigkriegen will, irgend etwas? Ich denke, zuerst ja. Der Anfang an diesem Vergnügen ist vielfach beliebig. Allein aus der freizügigen Verschiebbarkeit des Beliebigen findet man zu etwas, das zugleich Vorstellung und Formulierung ist. Nur wenn man auf etwas gestoßen ist, was zugleich Vorstellung und Formulierung ist, wird das, was man da tut, zu dem Vergnügen am Fertigmachen. Der Rest ist Arbeit und Kontrolle.
Aber auch das ist natürlich noch nicht alles. Denn erst wenn man auf dies alles gekommen ist, bemerkt man, daß das, was man nun schreibend oder sagend fertigkriegen will, etwas Spezielles ist. Dies Spezielle aber hat die Tendenz, sich weiter zu spezialisieren. Man sagt: dieser Autor hat seinen Stil gefunden oder: dieser Autor hat sein Thema gefunden. Das heißt aber auch, daß in jedem, der einmal mit dieser Sache angefangen hat, der Impuls und die Tendenz stecken, sich festzubeißen, sich einzubohren, eine Art von unendlich fortzusetzender Haarspalterei zu betreiben. Da vertritt er l’art pour l’art oder das Gelegenheitsgedicht, politisches Engagement oder radikalen Exhibitionismus usw. Erst hier kommt der Schreibende auf Gedanken, die nach dem Effekt oder dem Sinn, nach dem Gebrauchswert oder den Verkaufschancen usw. forschen. Einordnung oder Begründung, Rechtfertigung oder Sozialfunktion, politische Agitation oder philosophische Evidenz, all das taucht erst an diesem Ende auf. Nicht daß dies oder etwas von diesem nicht von Anfang an angelegt gewesen wäre, aber es macht es nicht. Es ist mit im Prozeß drin und kommt nur zum Vorschein, wenn es etwas ist, bei dem sich Vorstellung und Formulierung deckt. Darauf achten, darauf reflektieren, darüber spekulieren kann man erst hinterher.
Es kommt mir darauf an, dies Hinterher zu betonen. Ich habe das, was ich bisher gesagt habe, nur gesagt, weil ich befürchte, daß dies Hinterher im allgemeinen zu wenig beachtet wird. Aber wenn ich selber etwas sagen soll, vielleicht sogar etwas Spezielles sagen soll zu dem, was ich selber geschrieben habe, so kann ich das ja nur tun unter der Voraussetzung, daß es erst an diesem Ende, hinterher, möglich ist. Ich kann Erklärungen abgeben, wenn das Vergnügen am Fertigkriegen vorbei ist. Ich kann Erklärungen abgeben über das, was mir noch in Erinnerung ist und über das, was mir nun selbst auffällt oder der Aufmerksamkeit wert erscheint.
Am besten (aber ist das am besten?) fange ich etwas wahllos und vage mit einzelnen Anmerkungen an. Der Titel heißt „Gedicht über Hoffnung“. Das bedeutet nicht unbedingt, daß darin der Begriff Hoffnung abgehandelt wird. Mir schien dieses Wort und dieser Titel passend, aber es kann auch am Klang oder an etwas mehr Abseitsliegendem gelegen haben. Das Gedicht hat sieben Strophen zu je vier Zeilen. Diese Einteilung stammt nicht von mir, sondern vom Hersteller des Walter-Verlags, Herrn Theo Frey. Ich hatte lediglich die Vorstellung eines gedichtartigen typographischen Aussehens. Das heißt, die Zäsuren, die durch diese Einteilung gesetzt werden, sind zufällig oder besser: sie sind nicht auf den Sinn der Wörter und Sätze hin miteingeplant, sondern ein Arrangement des Drucks, hergestellt nach Druckerregeln. Im Gegensatz dazu fällt leicht auf, daß es einige wörtliche und einige kategoriale Wiederholungen gibt. Die Wörter: fremd und groß in Zusammenhang mit dem Wort Stadt kommen mehrfach vor; die Wortgruppe: durch Mauerblenden hindurch wird wiederholt. Die: Möve im Binnenland entspricht der: Nachtigall mitten im Winter. LichtSchattenkolonnen korrespondieren: Schattenbild und: Lichterbündeln usw. Zweimal kommen Zitate aus Gedichten eines vergessenen Expressionisten, Georg Kulkas, vor, aber demoliert: Verfolgung und Angst und Ermatten, Erfindung und Weglosigkeit; und: Umkehr, Aufhebung, Geschehen, Umkehr, Geschehen, Schattenbild, Vorwurf. Diese Zitate sind nicht sehr prononciert, auffälliger durch die Blockierung im Charakter ihrer Wortart als in ihrer Bedeutung. Diese Wörter haben soetwas wie ein Echo im übrigen Textzusammenhang. Wörter wie Halluzination oder Wiederkehr oder Doppelsinn sind wie Spritzer aus den Zitatblöcken herausgeworfen, oder man könnte es zumindest so ansehn. Als Abstrakta setzen sie sich, so gesehen, von den konkreten Benennungen, Straßennamen, Wetterangaben, visuellen Beobachtungen, vagen Bildkombinationen ab. Das heißt, dem äußeren typographisch hergestellten Gedichtbild steht etwas gegenüber, oder in dies typographische Bild ist gefaßt etwas, das man ganz allgemein als eine Art von Sprachmuster bezeichnen könnte. Ein Muster, das hergestellt wird gegen die Regeln korrekter Syntax. Ein Muster, das gebildet wird einfach durch den Wechsel von unidentischen, anklingenden und identischen Wörtern und Wortgruppen, aber auch durch den Wechsel von Wortkategorien: Abstrakten und Konkreten, Begriffen, Namen und mehr oder weniger fixierbaren Bildkombinationen bis hin zu den beiden Halbsätzen über zwei Vogelarten, die, da sie zugleich bildhafte und paradoxe Aussagen enthalten, metaphorischen Charakter haben. Wenn es jedoch Metaphern sind, dann zunächst nicht im Sinne ihrer paradoxalen Bedeutung, sondern als eine komplexere Art von Fleck im Gesamtmuster. Dies ist am deutlichsten zu erkennen, wenn man hinzufügt, daß das Sprachmuster des Gedichts zugleich eine freie Rhythmisierung bedeutet; auch das Tempo, in dem sich die Einzelelemente folgen, bildet eine Art Muster aus, das Tempo ist manchmal rascher, manchmal langsamer, zusammenhängende Gruppen wie etwa die Zitate oder die Vogelmetaphern werden insgesamt wahrgenommen, man rutscht über sie hinweg und hat zugleich den Eindruck eines Einschnitts.
Auf der anderen Seite, wenn ich nun einfach rückwärts gehe, ist natürlich nicht zu übersehen, was diese Metaphern bedeuten. Es gibt so gut wie keine Möven im Binnenland, so gut wie keine Nachtigallen im Winter. Rasch ließe sich folgern, daß diese Paradoxa dem Begriff Hoffnung im Titel korrespondierten und daß es sich also um ein symbolistisches Gedicht handele. Leider läßt sich diese Spur nicht so recht weiterverfolgen. Die Straßennamen Silberburg-Rosenbergstraße würden, wenn ich die Gegenprobe machte und auch sie metaphorisch aufzulösen versuchte, nur als Parodie eines möglichen metaphorischen Sinns zu verstehen sein; sie müssen einfach als faktische, zufällig oder ihrem Klangwert nach eingeschobene Namen verstanden werden. Tatsächlich bezeichnen sie eine Straßenecke in Stuttgart, die für mich 1963/64 einen gewissen Kennwert hatte, obwohl sie topographisch eher durch das Fehlen von Kennzeichen bestimmt ist. Die Kreuzung der Namen vollzog sich auf dem Hintergrund eines völlig nivellierten sinnlichen Eindrucks.
Vielleicht kann man von hier aus etwas anderes sagen. Einmal steckt in der Kreuzung von Namen vor nivelliertem sinnlichen Eindruck die Tendenz zur Verselbständigung der Namen; dieselbe Tendenz wäre etwa in den Abstrakta-Blöcken der Kulkazitate zu sehen oder in den halbabstrahierten Bildkombinationen, wie etwa: kleine Figuren auf lang hingezogenen Prospekten oder: Mengen von übereinandergestapelten Bahnsteigen. Auf der anderen Seite hat die Erwähnung der Ecke Silberburg-Rosenbergstraße etwas von einer Eintragung in ein Notizheft; und man könnte von da weitergehen und feststellen, daß der Charakter der Ansammlung von Wörtern und Wortgruppen in diesem Gedicht den Charakter eines NotizbuchAuszugs hat. Das heißt, es werden im Vorübergehen Punkte fixiert, die momentan wichtig erscheinen oder nur einfach sprachlich rekapitulierbar geworden sind, und die Summe dieser Fixierungen bildet soetwas wie eine Spur, in ihrem Charakter vergleichbar der Spur, die ein Tagebuchschreiber in seinem Tagebuch hinterläßt.
Nun hat das Tagebuch und auch das Notizheft (das Lichtenbergsche Sudelheft) seinen Schlüssel in der Subjektivität des Notierenden; das Interessante daran bleibt gebunden oder ist gesammelt im Interesse am Autor, allenfalls, wenn es exemplarische Eintragungen sind, am Typus, für den der Eintragende steht. Gibt es soetwas in meinem Gedicht? Wird nicht, wenn man soetwas wie einen Notizbuch-Charakter kennzeichnet, sofort sichtbar, daß gerade der Schlüssel der Subjektivität herausgezogen scheint? Hat nicht eine Nominierung wie die der Ecke Silberburg-Rosenbergstraße dadurch etwas Irritierendes, daß man das Interesse an dieser Nominierung nicht belegen kann? Ist dies alles nicht überhaupt irreführend?
Was ich zeigen möchte, sind Möglichkeiten des Sprachmusters, der Schichtung, des Wechsels; Möglichkeiten, die eine formale Seite öffnen (Wortarten, Anklänge, syntaktische Koppelung), aber ebenso in die Wortbedeutungen führen (Metaphern, Notizbuchcharakter usw.). Man kann, so denke ich, hier bleiben und die einzelnen Unterscheidungen, ihre Korrespondenzen, Überlagerungen und Kulminationen genauer bestimmen und ihren Stellenwert innerhalb des Ganzen kritisch prüfen; man kann die Stichhaltigkeit der Methode auf die Einheit (oder Verworrenheit) des Ganzen zurück beziehen und so ein Kriterium zu finden suchen für dies Ganze. Ich selber kann dazu, vielleicht allzu störrisch, nur sagen: für mich hält es sich, bis jetzt. Aber nun kann man natürlich auch etwas anderes tun und erneut fragen: was steht denn nun dadrin, wörtlich? Oder steht nichts drin? Ist das Sprachmaterial nur materiell, das heißt in einer Art von Legespiel nach den Farbnuancen der Bedeutungshöfe, zusammengestellt? Gibt es lediglich den vorbegrifflichen, halb bewußten Tastsinn, der, zwar nicht irreal, aber gegen die Logik der überkommenen syntaktischen Gesetze Wort um Wort aneinanderfügt?
Es wird etwas auch wortwörtlich gesagt. Es ist die Rede von: Halluzination großer fremder Städte, von: Ahnung dicht vor Wiederkehr entgegen Halluzination (wobei die asyntaktische Verfahrensweise in einem solchen Halbsatz in der unauflösbaren Ambivalenz der Adverbien zu den vor- und nachgestellten Begriffen besteht). Es ist die Rede von: Städten des Paradieses, von dem: was zu kommt uns hell fremd groß, davon, daß keine Spur hinterlassen wird, vom: Schrecken der nicht zu erwarten, ein Schrecken, der offenbar unmittelbar gekoppelt scheint zum Begriff der Begegnung, es ist von Doppelsinn Wortdingern, vom Schlagholz Sprache die Rede, davon, daß etwas oder dies vervielfacht und multipel ist und sooft auf der andern entledigt dessen was äußerst. Gibt dies alles, wovon die Rede ist, einen zusammenhängenden Sinn? Könnte man durch Ergänzungen und Auffüllungen ein zusammenhängendes Statement daraus machen? Vielleicht. Aber wenn man es täte, müßte man den Charakter, in dem hier von diesem die Rede ist, verändern. Und das heißt, daß das, wovon auch wortwörtlich die Rede ist, seinem Wesen nach nicht zusammenhängend begrifflich und syntaktisch logisch hervortritt, sondern nur bruchstückhaft, als künstlich verwitterte Spur, rätselhaft, manchmal sogar mit Absicht verrätselt, nur angetippt. Steckt denn darin nicht einfach eine Unfähigkeit, sich deutlicher und zusammenhängender auszudrücken
Was das Gedicht sagt, bleibt in der Schwebe, wie auch die Methodik seines Sprachmusters und seiner Rhythmisierung dadurch gekennzeichnet ist, daß keins der Einzelelemente sich entschieden durchzusetzen versucht. Das Inderschwebebleiben und im Nichtganzbestimmten-Lassen entspricht dem, was am Grund der Sprache selbst ist: die klarste Aussage behält am Grund einen wesentlichen Rest von Ambivalenz (und die Erfindung einer einwandfrei logisch funktionierenden Kunstsprache ginge auf Kosten dessen, was wir sprechend immer neu tun. Das Akzentuieren und Heraufholen dieses wesentlichen Grundes von Ambivalenz ist als eine Art Notwehr des Sprechenwollens gegen eine erstarrende, bloß noch zeichengebende Veräußerlichung der Sprache zu verstehen. Das kann nur sinnvoll sein, wenn zugleich dieser Tendenz zur Veräußerlichung Rechnung getragen wird. Die Rede sitzt in der Klemme. Das tut sie in doppeltem Sinne, weil auch das, worüber geredet werden sollte, ob man dies nun den Zustand oder die Situation nennt, aus dem oder aus der, über den oder über die geredet wird (und schon daß ich sage, ob man dies so oder so nennt, zeigt, daß ich in Wirklichkeit gar nicht weiß, ob ich wirklich das meine, was man im allgemeinen Zustand oder Situation nennt), ich kann von Teilen sagen, das bedeutet das oder sagen, dies kommt zu dem, aber ich kann es nicht sammeln auf einen Sammelpunkt hin, eine Lebensansicht, eine Idee oder mein (dies alles auf sich beziehendes) Ich, Ego, Selbstbewußtsein, denn wenn ich es könnte, würde ich ja nicht so zu reden versuchen wie in einem solchen Gedicht, das heißt, wenn ich es ehrlich meine. Meine ich es ehrlich? Hat das „kleine dumme Vergnügen, etwas fertigzukriegen“ etwas mit ehrlich meinen zu tun? Will ich die Wahrheit sagen? Irgendeine Wahrheit? Ist Wahrheit irgendeine? Will ich Mißstände aufdecken, die Augen öffnen, das Schlechte schlecht nennen und damit helfen, es ins Gute zu verwandeln? Das Sammelnde, das zur Versammlung Befähigende ist nicht eindeutig formulierbar. Was an seiner Stelle allenfalls zu vermuten wäre (von der Idee bis zur Selbstverwirklichung, von l’art pour l’art bis zur politischen Agitation), bleibt Leerstelle, grammatisch wie auch wortwörtlich. Ein Gedicht wie das, über das ich zu reden versucht habe, ist gekennzeichnet dadurch, es ist sozusagen über dieser, Leerstelle aufgebaut, eine Konstruktion über dem, was sich der Rede entzieht. Das bedeutet nicht, daß es fehlt. Es bedeutet nicht ein Nichts, denn das Nichts wäre eine Idee und Nihilismus war schon immer eine Ideologie. Darum handelt es sich nicht.
Ein konservativer Kritiker könnte allerdings von Regression, von Zurückbildung sprechen, und ich möchte diesen von Freud in die Philosophie eingeführten Begriff kurzerhand aufgreifen und seinen Sinn ins Brauchbare verkehren, ihn aus der Kritik in die Produktion überführen. Regression bedeutet dann ein Zurückgehn vom Entwickeln (Ausführen, Modulieren, in Bezug Setzen zu Ideen und Begriffen) auf etwas, das man Zeigen nennen müßte (Aufzeigen, Herzeigen, Hochheben als ob man es noch nie gesehn hat usw.). Zeigen mit Hilfe von Sprache. Nicht mit Hilfe von sprachlich nachgesprochenen Bildern. Nicht mit der durch Sprache provozierten bildhaften Vorstellungsfähigkeit. Oder doch nur nebenbei mit dieser. Zeigen von Wörtern. Zeigen von Namen. Zeigen von Wortgruppen, die in ihrer Verbindung eine besondere Färbung, eine besondere Tönung angenommen haben. Zeigen von Sätzen, die an etwas erinnern. Zeigen von Zitaten. Koppelung von Zitaten und Zeigen, was sich in der Chemie solcher Koppelung zeigt.
Dies geschieht in einem bestimmten Vorgang. Diesem Vorgang zu vertrauen ist das erste, was man dem Gedicht gegenüber tun kann. Wenn man das tut, kommt man lesend von selbst weiter, denn das Wörtliche ist eben nicht wörtlich in Hinsicht auf etwas nicht im Wort Enthaltenes, es ist so absolut wörtlich, daß es nichts außerdem Wörtliches geben kann. Vielleicht, da ich schon den Namen Freuds genannt habe, kann ich diesen Vorgang noch einmal erläutern in einer Analogie. In der Analogie nämlich der Traumarbeit wie sie Freud in seiner 1905 erschienenen Untersuchung „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ beschrieben hat.
Dort heißt es:

Die Traumarbeit setzt das in den Optativ gebrachte Gedankenmaterial einer ganz eigentümlichen Bearbeitung aus. Zunächst macht sie den Schritt vom Optativ zum Präsens, ersetzt das: „O möchte doch“ durch ein: „Es ist“. Dies „Es ist“ ist zur halluzinatorischen Darstellung bestimmt, was ich als die „Regression“ der Traumarbeit bezeichnet habe; es ist der Weg von den Gedanken zu den Wahrnehmungsbildern oder, wenn man mit Bezug auf die noch unbekannte – nicht anatomisch zu verstehende – Topik des seelischen Apparats sprechen will, von der Gegend der Denkbildungen zu der der sinnlichen Wahrnehmungen. Auf diesem Wege, welcher der Entwicklungsrichtung der seelischen Komplikationen entgegengesetzt ist, gewinnen die Traumgedanken Anschaulichkeit; es stellt sich schließlich eine plastische Situation heraus als Kern des manifesten „Traumbildes“. Um solche sinnliche Darstellung zu erreichen, haben die Traumgedanken eingreifende Umgestaltungen ihres Ausdrucks erfahren müssen. Aber während der Rückverwandlung der Gedanken in Sinnesbilder treten noch weitere Veränderungen an ihnen auf, die zum Teil als notwendige begreiflich, zum anderen Teil überraschend sind. Als notwendigen Nebenerfolg der Regression begreift man, daß fast alle Relationen innerhalb der Gedanken, welche dieselben gegliedert haben, für den manifesten Traum verlorengehen. Die Traumarbeit übernimmt sozusagen nur das Rohmaterial der Vorstellungen zur Darstellung, nicht auch die Denkbeziehungen, die sie gegeneinander enthielten, oder sie wahrt sich wenigstens die Freiheit, von diesen letzteren abzusehen. Hingegen können wir ein anderes Stück der Traumarbeit nicht von der Regression, der Rückverwandlung in Sinnesbilder, ableiten, gerade jenes, welches uns für die Analogie mit der Witzbildung bedeutsam ist. Das Material der Traumgedanken erfährt während der Traumarbeit eine ganz außerordentliche Zusammendrängung oder Verdichtung. Ausgangspunkte derselben sind die Gemeinsamkeiten, die sich zufällig oder dem Inhalt gemäß innerhalb der Traumgedanken vorfinden; da dieselben für eine ausgiebige Verdichtung in der Regel nicht hinreichen, werden in der Traumarbeit neue, künstliche und flüchtige Gemeinsamkeiten geschaffen, und zu diesem Zwecke werden mit Vorliebe selbst Worte benützt, in deren Laut verschiedene Bedeutungen zusammentreffen.

Soweit Freud. Wie gesagt, es ist eine Analogie, genauer, die Analogie einer Analogie. Sie handelt vom Traum und wie der seine Gedanken in etwas Zeigbares verwandelt und daneben noch allerlei andere Arbeit leistet, zusammendrängende, verknotende, übereinander lagernde. Dies alles tut Es. Was das. Gedicht macht, ist auch wenn es das alte Ego nicht mehr sein sollte, nicht dies Es. Die Übertragung der Analogie einer Analogie in den Vorgang, der gemeint ist, müßte vor allem das eine berücksichtigen, daß es hier, im Gedicht, trotz allem, bei vollem Verstand geschieht.

Helmut Heißenbüttel aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

 

Heißenbüttels Texte

zeigen die Wörter auf den Plakaten und die Plakate mit den Wörtern auf den Mauerblenden, – durch Geschlitztes hindurch geht der Blick auf älteres Material. In dem allen steht der Beobachtende, Abwägende, Fragende, der Partei Ergreifende. Genauer hinsehend stellt man fest: Heißenbüttels Lyrik ist viel mehr spekulativ als impressionistisch berichtend, oder besser: sie hat sich von den Impressionen wegbewegt in Richtung Spekulation. Falls man Spekulation so definieren will, wie er selbst es tut: ein Schreiben und Denken, das versucht, durch Überlegung den Bereich der Erfahrung zu überschreiten; – was nur annähernd Sinn habe, wenn man Linien aus dem Erfahrungsbereich, aus dem bereits Vorhandenen, verlängert.
Themen und Gattungen gehen bei diesen Versuchen ineinander über, aber es herrscht in den Übergängen ein neuer, grundsätzlicher Ordnungswille, der sich schon in Heißenbüttels Überschriften ausdrückt: „schematische Entwicklung der Tradition“, „Topographien“, „Klassenanalyse“, „Gruppenkritik“, „Entwürfe für Landschaften“, „Gedicht über Hoffnung“, – und der dort am besten wirkt, wo er sich mit einem beweglichen, despektierlichen Kritikergeist verbündet.
Sicher, Bestandsaufnahme spielt eine große Rolle; wissenschaftlicher Duktus, der das Material, nach Kalkülsprachen-Vorbildern, in Systeme drängt. Heißenbüttels lyrische Beispiele sind Reden, die sich oft des Kontrasts zur überkommenen Syntax und zum überkommenen Wortgebrauch bedienen, um auf solche Weise einen Gegenzug sichtbar zu machen zu der Sprache, die nichts sagt. Triviales, Berechnetes und scheinbar Allegorisches wirken in diesem Kontrast-System zusammen. Traum und Traumerzählung nehmen dabei eine Vermittlerstellung ein, Alltag und Phantastik, beides zusammengehörend, erscheint in der Beleuchtung reflektierter Traumvorgänge. Gegenwartspolitik und Zukunftsvorstellung zeigen sich im Spiegel des bisher Erfahrenen.
„Probe“ und „Entwurf“ nennt Heißenbüttel in Pro domo die Grundelemente seiner Exerzitien, seiner Literatur als Erkenntnis.

Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

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