Peter von Matt: Zu Regina Ullmanns Gedicht „Alles ist sein…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Regina Ullmanns Gedicht „Alles ist sein…“. –

 

 

 

 

REGINA ULLMANN

Alles ist sein…

Du willst dem Geschicke zuvorkommen,
seinen majestätischen Lauf voreilig unterbrechen,
willst dein Leben von dir werfen,
wie man Warenballen aus einem Schiffe wirft,
nur weil man befürchtet und abschätzt,
daß es sie nicht mehr zu halten vermag,
bis es das Land erblickt…
Und weißt doch nicht,
ob es nicht doch noch trägt,
oder ein anderes Wunder,
vielleicht in Gestalt eines Walfischs
sich bergend,
von seinem Wasserspiele abläßt
und vor dir in silberner Straße einherzieht,
mit seinem eigenen Leibe
das todeserschöpfende Rudern ersparend!
Und weißt nicht,
ob der Blitz im Gewölk dich nicht sucht
und dein Schiff und die Bürde so heimwärts kommt
auf gradestem Wege!
Aus der wirbelnden Sturmessäule hinaufgeschleudert!
Von seiner Hand ergriffen
und geheiligt aufgestellt im Himmelsraume.
Weißt nicht, was ihm das liebste ist:
Du selbst
oder die Bürde, um deretwillen du fährst,
oder das Schiff, worin du sie birgst,
oder das Meer, worein es verpflanzt ist. –
Denn alles ist sein.

 

Schweres Scheitern, hohe Fahrt

Jemand will sich umbringen. Eine Frau oder ein Mann will sich töten, weil alles nicht mehr auszuhalten ist. Die Last ist zu groß geworden, der Gedanke an ein rasches Ende tröstet und lockt und zieht. Hier setzt das Gedicht ein. Die Frau, die es schreibt, weiß, wovon sie redet. Von Kind an hat sie die schwarzen Zeiten der Depression gekannt. Immer wieder geht sie durch versteinerte Tage. Vielleicht spricht sie hier nur zu sich selbst.
Es scheint zunächst, als laufe alles auf die üblichen Trostreden hinaus: Nimm’s nicht so schwer, es wird schon wieder besser, du mußt dich eben zusammenreißen… Bald aber merkt man, daß da ganz anders gedacht und geredet wird. Schon die Zeilen mit dem „Blitz im Gewölk“ sind eine seltsame Aufmunterung. Vielleicht wirst du ohnehin gleich vom Strahl getroffen; vielleicht kommst du ohnehin bald in Seenot um. Soll das jemand vom Selbstmord abhalten?
Wie so oft bei Regina Ullmann wird das Einfache und Vertraute nur um eine Nuance verschoben, und schon nimmt sich alles fremdartig aus. Das vermeintliche Zureden verwandelt sich in eine Folge merkwürdig großartiger Bilder. Dabei ist deutlich erkennbar, woher die Metaphern stammen: aus dem Buche Jonas im Alten Testament. Dort läuft der widerborstige Prophet seinem Gott davon. Er will vor dem allerhöchsten Auftrag kneifen und haut ab, zu Schiff nach Spanien.

Da ließ der Herr einen großen Wind aufs Meer kommen, und es erhob sich ein großes Ungewitter auf dem Meer, daß man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Und die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeglicher zu seinem Gott, und warfen das Gerät, das im Schiff war, ins Meer, daß es leichter würde.

Der Walfisch, der sowohl im Gedicht wie in der Prophetengeschichte gleich anschließend auftaucht, bestätigt diese Quelle.
Allerdings wird der Text dadurch nur schwieriger. Die Verse arbeiten mit dem Bildmaterial der Jonas-Geschichte, aber sie erschließen sich doch nicht von dieser Rettungslegende her. Niemand wird verschluckt und wieder ausgespuckt. Die klassische Wiedergeburtsphantasie bleibt irgendwo im assoziativen Umfeld schweben. Wohl verkörpert der Fisch eine mögliche Hilfe, wenn er vor dem Schiff herzieht, die Wogen zu einer „silbernen Straße“ glättet und das Gefährt aufnimmt in den Sog seines mächtigen Leibes. Aber das ist nur das Vorspiel zur zentralen Vision, wo ein Taifun das Schiff mit Blitzen umflammt und lotrecht in die Höhe reißt. Nicht das ersehnte Ufer also, sondern die radikale Katastrophe macht dem „todeserschöpfenden Rudern“ ein Ende.
Das Bild ist so merkwürdig wie das ganze Gedicht. Es ist eindringlich, durchaus original, und doch wieder außerhalb der Anschaulichkeit. Die Hand, die schließlich aus den Wolken greift und das Schiff „aufstellt im Himmelsraume“, als wär’s ein Seglermodell im Museum, erinnert an die Naivität ländlicher Mirakelbilder, an Exvotos, wo die Heilige Jungfrau auf einem Wölklein über dem akuten Unglück schwebt und behutsam Hilfe leistet.
Rilke wurde 1908 auf die vierundzwanzig Jahre alte Regina Ullmann aufmerksam. Er war fasziniert und irritiert, versuchte, das Fremde ihrer Kunst zu benennen, schrieb an sie und über sie, und 1918 kopierte er mit eigener Hand ihre besten Gedichte und schickte sie an den Insel Verlag. Sie erschienen im Jahr darauf. Der vorliegende Text gehört dazu. Die bedrängende Deutlichkeit der Bilder, die sich dennoch der gewohnten Auslegung entziehen, brachte Rilke auf den Satz:

Ihre Seele ist wie ein Blindgeborener, den ein Seher erzogen hat.

Wenn hier, was vermutet werden darf, eine Frau sich selbst vor dem Suizid zurückhält – mit welchem Argument zuletzt? Mit dem halb zögernden, halb beschwörenden Gedanken, daß wir vielleicht in Zusammenhängen leben, wo die erlittene Sinnlosigkeit mehr Sinn hat als alle rundum anerkannten Ziele und Zwecke.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Wörterleuchten, „Dieser Text ist verschwunden.“, 2009

Carl Hanser Verlag, 2009

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