Róža Domašcyna: stimmfaden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Róža Domašcyna: stimmfaden

Domašcyna-stimmfaden

DIE DINGE, WIE SIE AUSSEHEN

bei Christa und Gerhard Wolf
auf der veranda, die sie gondel nennen

die gondel ist keine
die frau mit den birnen ist keine
die birnen sind keine
aber sie sind gelb
die frau sieht aus wie eine
und die gondel schwebt am giebel

die blätter sind keine blätter
die hieroglyphen sind keine hieroglyphen
die bücher sind keine attrappen
denn die druckerschwärze klebt an den fingern

die buchstapel wachsen sie fressen
die frau mit den birnen in den fingern
den rumpf der gondel mit den blättern
wachsen die giebelwand zu

das haus ist nun kein haus mehr
kommt wind fliegt es auf fliegt die gondel
mit den birnen auf den blättern an den baum
und die frau macht ein x

aufgespießt das haus im radius des geästs
die frau mit den blättern auf den birnen
in der gondel ist gelb

denn die gondel bewegt sich am giebel
scheuern hieroglyphen bis sie dann fallen
haben sie druckstellen schwarz

steht die frau wie gedrückt
an den blättern unter den birnen wie gemalt
in der gondel wie gedruckt
in den büchern aus den hieroglyphen mit x

 

Trennzeichen 25 pixel

 

Über dieses Buch

Die Texte in stimmfaden orientieren sich an der deutschen und sorbisch-wendischen Sprache, an der Nahtstelle einer germanischen und einer slawischen Sprache, deren Wörter mit Geschichte gesättigt sind. So sucht man im Sorbischen vergeblich nach einer Entsprechung für das deutsche Wort „Sieg“, denn in der Geschichte der Sorben fehlen militärische Siege. Ringen kann man im Sorbischen nur um den Gewinn. Mit diesen zwei Sprachquellen steht der Dichterin reichhaltiges Material zur Verfügung. Spielerisch wechselt sie zwischen ihren Sprachen, wagt Übergriffe, nutzt die Zwischenräume für die Herstellung neuer poetischer Konfrontationen.

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

„sprachen sind windhunde“

Nachdem Gerhard Wolf das Bestehen seiner Edition Janus Press, in der die Sorbin Róža Domašcyna mehrfach publiziert hat, aus verständlichem Grund hat besiegeln müssen, erschien ihr neuester Gedichtband stimmfaden 2006 im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn. Die Sammlung unterscheidet sich wohltuend von dem, was sich im deutschen Sprachraum dokumentiert, wo die sich empfehlende Norm von Stil und Richtung erkennen läßt, welcher Einwirkung sie unterliegt. Allein Kito Lorenc noch bewegt sich, wenn auch in anderer Weise, auf diesem vom Slawischen beeinfIußten Feld des Skurrilen. – In den Texten des hier zu beleuchtenden Bandes wird ein Blick auf das Geflecht zwischen den Sprachen geworfen – „Meine, nicht deine // sprache unter der sonne. Die sächlich ist“ („Meine, nicht deine“). Denn das sorbische Wort für den Tagstern ist ein Neutrum. „sprachen sind windhunde / im anlauf vorbei“ heißt es in „Windeierei“, und: „es bedarf des ganzen alfabets, um die bäume festzuhalten“ („Alfabet, lichtverwandelt“). Kurz: Vor Augen geführt wird die Lebendigkeit dessen, was Sprache heißt, „solange sie hörner zeigt / und nicht zur nationalliteratur erhoben wird“.
Auffällig für mich die Nähe zur Eskapade, wie sie dem Polen Wojciech Izaak Strugałas zueigen ist, der nicht genug beteuern kann: „Muß denn alles stets Kopf, Hand und Füße haben? / Wessen Kopf?… wessen Hände?… wessen Füße?…“, der den Ozean in Jonas’ Bauch „unterbringt“ und neue „Zugehörigkeiten“ konterkariert (Phantasmagorien, Leipzig 2005). Diese Verschobenheit und Verschrobenheit der wahrgenommenen Bilder, die eine Befreiung innerhalb der ohnehin zu Befreiung veranlagten Poesie darstellen, sind nun bei Róža Domašcyna durchaus ein Strang gesicherten Verwirrspiels: „fisch im baum: fischbaum – wessen gräten ragen durch wen“ („Himmelwärts erdkernwärts“), Oder: „ein raum ohne gedächtnis / raum ohne ins eingedächt“ „Heimatgeschichte“), die Sprache aus dem Zusammenhang genommen, ins (A-)Poetische gewandelte Imitation für den Abraumfrevel in der Lausitz.
Róža Domašcynas Gedichte sind oft überraschend, außergewöhnlich und ohne Fessel; sie sind weitgehend eigen-sinnig. Vieles weicht von der Art festgezurrter Zeigestücke ab und scheint selbst immerfort auf Suche nach ins Schräge sich neigenden Blicken zu sein, ein poetisches Erfahrungsmuster als Resultante und ungewöhnliche Lösung:

hab die gegner überschlagen,
hab den sündenbock erschlagen
schlagring und keule sind übrig

 

wenn die dinge übrig sind
was soll uns nun noch werden

 

(„Führ mein handpferd geradeaus“).

Unter den fünf Zyklen: „die Oder bewegt sich unbewegt“ – mit das Lebendige betonenden Texten wie „Lebend im text“, Wortgefüge, die den Stimmfaden als das Myzel beschreiben, das in Geschichte wurzelt, „die sich / auf dem papier abspielt und die sich / wirklich weiterschreibt“, und damit eine Bewußtseinshöhe erklimmt, das Unverwischbarsein von Verantwortlichkeit gegenüber Sprache und Dichtung.
In einem weiteren der 67 Gedichte mischen sich Strophen in sorbischer und deutscher Sprache: „Wariacije na zelene zet“, Motive frei nach Jurij Khéžka, „ohne versagen / kam ich zu mir mit einem zischlaut auf der zunge / wo mir ein fiebers amen sproß“. Das Sorbische ist deutsch nachgedichtet und das Deutsche sorbisch. Ein Stimmfaden, gleichwohl der Hauptstrom, begleitet von Untergrund-, und Nebenflüssen, die dem Leser solcher Texte das Verständnis für das verzweigte System indoeuropäischer Sprachen, ihres Wachstums, ihrer Kommunikativkraft und ihres Bewußtseinsgewinns induzieren.

Peter Gehrisch, Ostragehege, Heft 47, 2007

 

 

Dichterinnenporträt von Róža Domašcyna im Haus für Poesie am 3. Februar 2022. Moderation Hans Thill.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + IZA + Interview
Porträtgalerie: akg-imagesBrigitte Friedrich AutorenfotosDirk Skibas Autorenporträts + IMAGO
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Richard Pietraß: Dichterleben – Roža Domašcyna

 

Róža Domašcyna und Volker Sielaff sprechen über ihre Dichtungen und lesen aus ihren Werken.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

(das) Los

(das) Soll: solo!

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Planet Lyrik an Erde

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Freie Hand

Haupts Werk

Endnoten

0:00
0:00