EINFLUSS DES ALLS AUF DIE LUST
im jahr der invasion der maikäfer
mit schildpatt und metallnem flügel
erhoben die läuse die waffen frei
im fall fielen die maikäfer rücklings
schauend das all verloren sie lust
zum täglichen kleinkrieg so blieb
den läusen unbestritten der sieg
Ich bin aus Bautzen und meinen Namen dürften Sie noch nie gehört haben, denn ich habe noch kein Gedicht in deutscher Sprache veröffentlicht. Ich schicke Ihnen meine Texte, weil ich Lyrikbetrachtungen von Ihnen kenne. Meine Texte – experimentelle Lyrik? Vielleicht ist experimentell nur das Anderssein, die Empfindung hier zu Hause zu sein und sich doch weder als Sachse noch als Preuße zu fühlen. Vielleicht ist experimentell nur das, daß mein Volk ein ausschließlich dörfliches ist, daß Kleinheit vielleicht Provinz einschließt oder ausschließt? Vielleicht ist es die Rechtschreibung, die ich nach dem Sorbischen gestaltet habe? Ich weiß um die Gefahr dieser gesuchten Selbstbewußtheit, bin mir der Worte Provinz und National wohl bewußt – nicht zuletzt sind sie kräftig mißbraucht worden. Aber zunehmend empfinde ich Provinzialismus in meiner Umwelt – wie mit regionaler Provinz oder einfach Anderssein umgegangen wird. Das gibt mir den Rückhalt, Ihnen meine Texte zu schicken…“
Texte, in denen sich nun allerdings eine Dichterin entdeckt, die aus dem Zwist von legendärer Herkunft und auf sie einstürzender Gegenwart ihre Sprache findet: nüchtern, mit lidlosem Blick, traumsicher, mit dem siebten Sinn für das Unfaßbare hinter den Dingen, das mitbenannt werden muß.
Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein
und schließ den mund, um stumm herauszuschrein
Janus press und BasisDruck Verlag, Klappentext, 1991
AUFRUF INS PARADIES
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaczubnika smej ty a ja
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(Mato Kosyk, Chicago 1884)
es ist nur eine wand haut ist
was uns trennt helldunkel
wird sie zeugen von der lust
die wir erleben eine atlantische
feier wird sein wenn wir einander begegnen
als die verwundbaren schlächter von tieren
die sich opfergaben bringen und ihren leib
mit blut bedecken damit sie einander gleich
werden unter den augen der toten
die ihre bleibe in der prärie zwischen himmel
und Paradies ausgeschlagen haben
aus ihren hüllen gestiegen sind um zu sehen
daß uns ein leben entstehe
von menschlicher art jetzt komm
meine schenkel liegen geneigt auf dem laken
Das Gedicht „Aufruf ins Paradies“ trägt die Widmungszeile „Fremdlinge sind du und ich“ in einer uns fremden Sprache. Es ist Sorbisch, gesprochen von einem kleinen slawischen Volk, das seit anderthalb Jahrtausenden sich seine Sprache und Kultur gegenüber jedem deutschen Assimilierungsdruck bewahrten konnte.
In seinem Ostberliner Verlag Janus press stellt heuer Gerhard Wolf die Lyrikerin Róža Domašcyna mit ihrem Debütband Zaungucker vor. Das Gedicht, das wir eingangs hörten, ist diesem Band entnommen, der mit allegorischen Grafiken von Karla Woisnitza ausgestattet ist. Gerhard Wolf, sonst unermüdlicher Förderer der Dichter vom Prenzlauer Berg, zur Entdeckung der Autorin aus Bautzen:
Gerhard Wolf: „Das war ein Zufall, daß mir ein solches Manuskript auf den Tisch kam… und wo ich sage, da ist Talent. Da stoßen ganz merkwürdige Dinge aufeinander. Sie hat bisher nur in Sorbisch geschrieben. Da sind alte sorbische Lied- und Märchenmotive. Dann reibt sie sich natürlich an dem Problem, wie die Sorben in der DDR auf der einen Seite ausgestellt wurden und auf der anderen Seite gehätschelt wurden in einer seltsamen Weise, was sie auch schon in der zweiten Generation kritisch sieht gegenüber der ersten Generation dieser Sorbisch und dann Deutsch schreibenden Autoren. Das kam zusammen mit surrealistischen, seltsamen Dingen. Also dörfliche Welt mit Industriewelt und herkömmlich leidhaften Sachen mit ganz modernen Dingen, die sie natürlich wahrgenommen hat.“
Róža Domašcyna, geboren 1951, beschreibt ihren Weg zur Literatur in der Ambivalenz, in der sich eine sorbische Muttersprachlerin zur deutschen Sprache bewegt:
Róža Domašcyna: „Ich habe versucht zu schreiben und das in Sorbisch. Erste Schritte auf dem Gebiet waren in sorbischer Sprache. Einiges wurde in Zeitschriften veröffentlicht. Später als Student an dem Literaturinstitut in Leipzig war das Problem, daß man mit dieser Sprache nichts anfangen konnte und ich war mehr oder weniger gezwungen, mich in Deutsch zu artikulieren. Das war kein einfacher Weg… Ich mußte erste eine Schmerzgrenze überschreiten. Es geht einfach nicht, daß man versucht zu übersetzen. Das ist nicht möglich. Schon deswegen, weil die sorbische Sprache eine slawische Sprache ist und so vom Sprachgefühl sich ziemlich vom Deutschen unterscheidet.“
Róža Domašcyna über die Möglichkeiten des zweisprachlichen Schreibens:
Róža Domašcyna: „Irgendwann habe ich angefangen, an einem Text in zwei Sprachen zu arbeiten und habe dann festgestellt, daß man vielleicht korrigieren kann aus der einen Sprache in die andere, daß man Gedanken verdeutlichen kann, indem man in der anderen Sprache nachprüft oder Schwachstellen besser finden kann und Undeutlichkeiten, indem man diese Vergleiche anstellt. Es ist ein glücklicher Fall, wenn das funktioniert.“
Die Sprache eines kleinen Volkes, die in Sprachinseln überlebte, ist in Permanenz durch Assimilation gefährdet. Róža Domašcyna weiß, daß Literatur nur über Rezeption lebt.
Róža Domašcyna: „Sorbische Lyrik ist relativ viel gelesen worden, auch hat sie sich meines Wissens verkauft. Allerdings muß ich auch sagen, daß Lyrik oder das Wort im lyrischen Text, die Chance verstanden zu werden mit diesen stellenweise auch archaische Worten und Wendungen, daß diese Chance dadurch, daß die sorbische Sprache immer weniger angewendet, lebendig gesprochen wird, daß diese Chance auch damit schwindet. Das ist deprimierend.“
Aber auch in den deutschen Fassungen öffnen die Gedichte der Róža Domašcyna ihre poetisch sinnliche Phantastik, die nur weniger Zeichen bedarf, um uns die Ahnung von Geheimnissen zu geben. Es sind Gedichte der geöffneten Türen, des Lichtes auf geliebte Gesichter. Die Motive der Vertreibung reichen vom versagten Paradies der Liebe bis zur Verdrängung aus alter Kulturlandschaft durch industrielle Verwüstung. Das Wundtuch wächst ins Fleisch. Dabei ist Róža Domašcyna bei allen traditionellen Wurzeln eine Autorin, die sich an die Moderne heranzuschreiben weiß. Das ist keine Minderheitenliteratur, sondern Teil eines kulturellen Reichtums, den wir nach der Vereinigung erst entdecken müssen.
Róža Domašcyna liest ihr Gedicht „Vom geteilten, dem doppelten leben“.
VOM GETEILTEN, DEM DOPPELTEN LEBEN
du brauchst mich, freund, denn ich bin gut für dich
mein körper ist wie andere, nicht schlechter
und wenn ich schweig, klingt auch mein wort nicht fremd
ich geb dir alles, meine haut, die wärme
ich nehm dich auf und halt dich in mir aus
behalt dich über jahre, grenzen und geschlechter
bei mir gehörst du immer zu den meinen
silvester stell ich töpfe für uns aus
und heb den taler und das brot für dich
den wundlappen behalte ich für mich
Jürgen Verdofsky, Norddeutscher Rundfunk, 8.3.1992
ZAUNGUCKER
Wir fassen uns und können es nicht fassen:
Hier sind wir wer, wir sind allein. Gelassen
ist nur der schnee, taut unterm fuß hinweg −
embleme, zeichen einer macht im dreck.
Sind wir denn kinder? Sind wir ausgesetzt
am markt, mit rotem heller strafversetzt?
Nichts spricht uns frei, wir haben laut geschwiegen,
sind hungrig, greifen alles, was wir kriegen,
und stopfen zuckerwatte in uns rein,
die liegen bleibt und drückt und wird zu stein.
Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein
und schließ den mund, um stumm herauszuschrein.
In der Oberlausitz, am östlichen Rand der verschwundenen DDR, an der Grenze zu Polen und zur Tschechischen Republik, liegt die alte Stadt Bautzen mit ihren berüchtigten Knästen. Dort leben seit Jahrhunderten umgeben von Deutschen, die Sorben, ein slawisches Volk, sprachlich dem Osten verbunden, kulturell eher nach Westen orientiert, ein kleines Bauernvolk mit eigenen Institutionen und einer besonderen Literatur.
Wie die meisten sorbischen Dichter schreibt Róža Domašcyna sowohl in deutscher als auch in sorbischer Sprache. In einem Dorf geboren, hat sie zunächst Ökonomie des Bergbaus studiert und anschließend drei Jahre lang das Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig besucht. So unterschiedliche sächsische Lyriker wie Volker Braun und Wulf Kirsten dürften sie inspiriert haben. Und wie sie als Bergbau-Ingenieur die überlieferte Frauenrolle in Frage gestellt hat, bezweifelt sie nun als freie Autorin den gewohnten lyrischen Formenkanon.
Das meint nicht, daß Róža Domašcynas Gedichte die Tradition verleugnen. Unüberhörbar die Spuren magischer Spruchdichtung im dörflichen Naturkreislauf, sorbischer Sagenton, Märchenmotive. Doch in die abgeschiedene Provinz der Lehmhütten bricht auf einmal etwas bedrohlich Gegenwärtiges herein, das sich – ähnlich wie bei den gleichaltrigen rumäniendeutschen Lyrikern – einer ebenso nüchtern-verknappenden wie hintergründig-poetischen Sprache versichert.
„angenabelt sah ich mich / mit den augen / von fremden“. Wiederholt formuliert Róža Domašcyna die Geborgenheit im Winkel der Familie und zugleich den Wunsch, ihr zu entfliehen, das Bedürfnis nach Nähe und ein unbegreifliches Ausgegrenztsein, das den fremden Blick der Poetin überhaupt erst möglich macht.
Auch das vorgestellte „Zaungucker“-Gedicht lebt von diesem Widerspruch. Da ist einmal das „Wir“ der vielen, die es im Angesicht einer gesellschaftlichen Umwälzung „nicht fassen“ können, plötzlich „allein“ zu sein, und wie Kinder reagieren. Stets haben sie zu den Übergriffen der Macht „laut geschwiegen“, nun grabschen sie ungeduldig nach allem was auf dem Markt zu haben ist, und „stopfen zuckerwatte“ in sich rein, ein zähes Ostprodukt vermutlich, das im Magen „drückt“ und „zu Stein“ wird.
Vom Kollektiv der (neu-)gierigen Opportunisten grenzt sich das lyrische Ich mit den Schlußzeilen des Gedichts schroff ab: „Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein / und schließ den mund, um stumm herauszuschrein.“ Nicht einverstanden mit den marktgeprägten Zeitläufen und dem Gebaren derer, die bislang „laut geschwiegen“ haben, bleibt der fremden Beobachterin nur übrig, verbittert beiseite zu treten und „stumm herauszuschrein“.
Wer aber guckt hier im Moment des politischen Umbruchs wem über den Zaun? Sind es die Ostdeutschen, die hungrig gen Westen blicken, weil sie sich die glitzernden Waren (noch) nicht leisten können, oder sind es die innerhalb der DDR isolierten Sorben? Man könnte auch an Polen, Tschechen, Rumänen denken, die am Reichtum teilhaben wollen und über die Grenze ins wiederverbundene Deutschland schauen.
Róža Domašcynas Poem hat Kraft und bitteren Rhythmus und kann neben den besten „Grenzfallgedichten“ bestehen. Und doch ist ein übermächtiges Vorbild – Volker Braun heftig umstrittener Zwölfzeiler „Das Eigentum“ von 1990 – unübersehbar, ein Gedicht, das auf der gleichen gesellschaftlichen Anatomie beruht und mit ähnlichen sprachlichen und metrischen Mitteln (Rilkes, der Expressionismus) arbeitet: „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen…“
Michael Buselmeier, Saarländischer Rundfunk, 5.2.1994
ist von einer seltsamen Ruhe. Irgendetwas ist immer da, das bremst. Das Gefühl, das sich durch den Klang der Worte und ihren Rhythmus einstellt, ist ein verhaltenes. Keine Trauer, nur ein Vergehen. Und wenn dies ein Weitergehen ist, dann auch nur ein sanftes, zaghaftes. Selbst bei ihrem Gedicht über die Spreewaldpuppen verbietet sich eine heftige Reaktion: Sie gibt den Händlern nicht dem Verlachen preis, erzählt ganz einfach nur von einem Menschen, der ein ganz anderes Verständnis von ihrer Heimat hat als sie.
Róža Domašcynas Muttersprache ist Sorbisch, sie lebt in Bautzen. Die Sorben haben viel ertragen müssen. Auch wenn man sie zu hegen versuchte, wurden die Menschen auseinandergerissen, Dörfer, ganze Landschafen mußten der Kohle weichen, in der Schule, beim Studium, auf der Arbeit wurde meistens Deutsch gesprochen. Diese Tatsachen findet man in Róža Domašcynas Texten, die nun erstmals in deutscher Sprache erschienen sind, nicht wieder, doch legt sich ein zartbitterer Hauch davon über die Worte: so entsteht diese gedämpfte Dramatik. Das Gefühl stellt sich zaghaft ein, doch bohrend.
Cornelia Geißler, Berliner Zeitung, 19.6.1991
… Zaungucker, Gedichte und Texte von Róža Domašcyna – der erste Band, den Janus press der Öffentlichkeit präsentierte, stellt eine auf den flüchtigen Blick eher traditionelle als experimentelle Dichterin vor. Róža Domašcyna wurde 1951 in Zerna/Sernjany in der Lausitz geboren und lebt heute in Bautzen. Sie arbeitete als Ingenieurökonomin und schrieb Gedichte und Prosa in Serbisch. Der vorliegende Band ist ihre erste Publikation in deutscher Sprache. Ihre poetischen Gedanken und Gestalten haben viel mit sorbischer Kultur und Literatur zu tun; die Geschichte ihres Landstrichs ist – bis hin zu den vom Abbaggern bedrohten oder den schon verschwundenen Dörfern – in ihren Versen gegenwärtig.
Freilich ist genauer hinzuschauen oder hinzuhören. Wenn „traditionell“ heißt, sich allein in den Bahnen der Tradition zu bewegen (was bewußt getan werden kann, viel öfter aber „bewußtlos“ geschieht), dann zeigt Róža Domašcyna, daß man sich, ohne sie zu verwerfen, auch anders als traditionell zur Tradition verhalten kann. Denn Überkommenes ist bei ihr stets ein durch eigene Gefühls- und Metaphernarbeit gänzlich ins Subjektive verwandeltes Übernommenes. Zwischen den Festlegungen der Herkunft und den Zumutungen einer „uniforme Freiheit“ versprechenden Zukunft behauptet sie ihre Identität. Die Spannungen, die daraus erwachsen, geben ihre Energie den Gedichten ab, ob diese nun mit zeitkritischem Sarkasmus geschichtliche Verwerfungen aufspüren oder den – nicht minder „geschichteten“ – intimen Begegnungen der Geschlechter und Generationen nachspüren. Das Bekenntnis zu unverstellter Subjektivität, die Umbildung vertrauter Topoi, das Ineinanderlaufen der Assoziationen verweisen auf den Ursprung jeder Lyrik: lebendiger Rede, auf die erklärtermaßen das Programm von Janus press sich richtet. Jedes gute Gedicht ist ein Experiment in dem Sinn, daß es zu sagen versucht, was nicht ausgesprochen werden kann, was aber immerhin überraschend angesprochen wird…
Jürgen Engler, 1992
Das große Schubladenöffnen nach der „Wende“ fand nicht statt, sie wurden nur ein Stück weiter aufgezogen.
So richten sich aller Blicke dahin, wo früher Hinter-der-Mauer-Land war, als gäbe es in Ostdeutschland nichts Neues zu erwarten. So wachsen, wenn schon nicht Mauern, doch Zäune im Rücken.
Und dann schlägt man ein Buch auf als schlüge man sich an die Stirn. Zaungucker heißt ein Band aus dem Janusverlag, schon durch seine typografische Gestaltung wird er zu einer bibliophilen Kostbarkeit, und es ist nicht klar, wer hier über den Zaun guckt. Die 1951 in Zerna/Sernjany (Lausitz) geborene Autorin Róža Domašcyna oder die Leser, weil sie ihnen die Muttersprache, das Sorbische, deutschohrgerecht dolmetschen muß, um im eigenen Land gehört zu werden? Eigenes Land, zwischen Spreewaldkähnen und Tagebauen und noch ein Stück weiter, wo endet das eigene Land?
„Vielleicht ist experimentell nur das Anderssein, die Empfindung, hier zu Hause zu sein und sich doch weder als Sachse noch als Preuße zu fühlen.“
Ihre Gedichte geben Auskunft: Das ist mein persönlicher Konflikt, das ist der Stachel. Und ohne den Stachel im eigenen Fleisch ist keine Lyrik vorstellbar, denn die Lyriker haben noch immer ein Thema: sich selbst. Deshalb sind sie auch exzentrisch, wie weit ihre Kreise auch gesteckt sind, darin unterscheiden sie sich.
Wenn Róža Domašcyna von der Landschaft schreibt, dann ist es der Raum ihres Lebens, nicht die Umgebung. Sie nimmt seine Worte, Bilder und Geschehnisse in ihren Texten auf, mit jener Genauigkeit und sprachlichen Eigenart, daß für Kleinkariertes und Folkloristisches kein Platz in den Versen bleibt.
Wir fassen uns und können es nicht fassen: Hier sind wir wer, wir sind allein. Gelassen ist nur der schnee, taut unterm fuß hinweg- embleme, zeichen einer macht im dreck.
Wer jetzt auf ein Lied für die Seele hofft, bekommt bittere Medizin:
Nichts spricht uns frei, wir haben laut geschwiegen, sind hungrig, greifen alles, was wir kriegen
Und weil die zuckerwatte wie stein den Körper ausfüllt, wiederholt sich das Dilemma und schließt den mund um stumm herauszuschrein
vom Vater, der Moja hola (Meine Heide) auf der Fiedel spielte, gestorben und begraben und ausgebaggert und wieder begraben und ausgebaggert und
bagger gekommen wohin mit vater
achmojahola wohinwohin achmojahola wo
fremd sein bis in die Sprache
bagger gekommen fiedel zerbrochen
Jedes Gedicht Róža Domašcynas hat sein eigenes Tempo, aus dem Gestus der Sprache heraus, souverän variierend zwischen Reim, Assonanzen oder freien Rhythmen in Lang- und Kurzzeilen. In einem der längeren Texte des Bandes, die für sie keine Gedichte sind und die sie darum texte nannte, steht der Satz: „Ich reiße mir das papier ab, doch die worte haben sie mir in die haut gegraben.“ (Sie trägt tatsächlich nichts von dem Papier an sich, das fälschlicherweise als Literatur bezeichnet wird und doch nur charakterloses Aneinanderreihen von Sätzen ist.) Aber die Worte haben sich tiefer eingegraben. Róža Domašcyna kennt sie so genau, daß sie es sich leisten kann, ihren Klang, ihre Bedeutung gegen sich selbst zu verwenden. Melancholie wird ironisch; sie verschenkt spottend Rosen; ich habe Angst, sagt ihr Gedicht, groß wachsen lassen.
Spät veröffentlicht Róža Domašcyna ihr erstes Buch in deutscher Sprache. Man kann es bedauern oder ihr gratulieren. Schon gab sie niemandem Gelegenheit, zum gönnerhaften Erstlings-Schulterklopfen auszuholen. Vielleicht
In der tür
aaaaaaaaaaein sich öffnender laut
wolltest du
meine adresse mit mir
ausgehen im viertelkreis der angel
standen gestapelt all die versackten
worte sorgsam getrennt auf der schwelle
würgte ich ein lächeln aus herzbin-
kerl sagte ich warf in die augen etwas flitter
im zug wir im lichtkegel zwei die einander
verschwiegen stehen
geblieben sind
wären sie auch zu einer „regimekritischen Schriftstellerin“ zensiert worden. Sie ist eine Dichterin, vogelfrei.
Jacob Richard, SAX, September 1991
Zaungucker heißt das erste Buch, das Gerhard Wolf in seiner eigenen Edition verlegt hat. Ein wagemutiger Beginn, denn die nun von ihm entdeckte Róža Domašcyna, eine Sorbin aus Bautzen, hat vorher noch kein Gedicht in deutscher Sprache veröffentlicht. Sie schreibt aus einem Anderssein heraus, mit der „Empfindung, hier zu Hause zu sein und sich doch weder als Sachse noch als Preuße zu fühlen. Vielleicht ist experimentell nur das, dass mein Volk ein ausschließlich dörfliches ist (…)?“ Ihre Gedichte und Kurzprosa aus der regionalen Provinz zeigen zwar Talent und versuchen, die eigene Sprache zu finden, aber noch fehlt es an gestalterischer Kraft, noch schwankt sie zu sehr zwischen recht unterschiedlichen Sprechhaltungen und verliert die eigenen Worte in tradierten Mustern: „Es jauchzt in mir, wenn ich schaudernd ihn seh.“ Im Literaturbetrieb hat sie mit diesem vielleicht verfrühten Debüt trotz Wolfs „ecce poetessa“ kaum eine Chance.
Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 24.4.1992
In einem Brief an ihren Verleger Gerhard Wolf bezeichnet Róža Domašcyna ihre Texte als „experimentelle Lyrik“ – und liefert eine ungewöhnliche Definition für diese strapazierte Sammelbezeichnung: „Vielleicht ist experimentell nur das Anderssein, die Empfindung, hier zu Hause zu sein und sich doch weder als Sachse oder als Preuße zu fühlen.“ Experimentieren meint also in diesem Falle, den anderen Blick zu wagen, den unverstellten. Und eben nicht vom Olymp aus über die weite Welt, sondern über den heimatlichen Gartenzaun auf die Nachbarhäuser und den Dorfteich – oder auch auf die Abraumhalden und Krater der geschändeten Lausitzer Landschaft und die Schornsteine am Horizont.
Róža Domašcynas Lyrik ist stark von ihrer sorbischen Herkunft geprägt:
Die Stimmen unserer Mütter
aus jenseitigen Dörfern
flattern beschleift
zu den Schlafstädten her
Gleichzeitig reflektiert sie in „Kindheitsbild“ DDR-Erfahrung: „Ich bin ein Junger Pionier mit Heiligenbild in der Hand SO IST ES BESSER FALLS ALLES ANDERS KOMMT sagte Vater…“ In den Versen der jungen Frau klingt Bitterkeit mit („Die Heimat ist wo Wüste bleibt: na und? / Der Weltmensch reiht sich ein zum Schulterschluß / und ähnelt mehr und mehr sich schon im Gruß“) und Resignation: „Schildbürgern ist abgebaggert“. Es sind Haltungen, die man versteht, wenn man ihre Texte mehrfach gelesen und die bibliophile Gestaltung des Bandes (Grafiken von Karla Woisnitza) wirken läßt. Die Botschaft zielt auf Kommunikation: „DEUTLICH SPRECHEN UND VERSTANDEN WERDEN“ – in der Sprache eigener Wahl und ohne sich dabei Klischees unterwerfen zu müssen.
Erik Gloßmann, Lausitzer Rundschau, 31. Woche 1992
Zu den kleinen Kulturen, die, nicht ohne gebührende Stützung, bis heute überlebt haben, gehört die sorbische, in der Lausitz seit vielen Jahrhunderten zu Hause und nicht zu Hause: die Sorben haben es nie zu politischer Selbständigkeit gebracht, ihre bäuerliche Lebenswelt wird zunehmend zerstört, und ihre Literatur ist erst in jüngster Zeit wirklich bemerkenswert geworden. Dazu hat gewiß auch die Notwendigkeit beigetragen, sich innerhalb der DDR sowohl anpassen wie emanzipieren zu müssen, wurden die Sorben doch zugleich ,gepflegt‘ und expropriiert. Vor allem die mehrfach gebrochene, listig-subversive und wortmächtige Lyrik von Kito Lorenc sorgte dafür, daß man mit sorbischer Literatur heute etwas zu verbinden weiß.
Zugleich sind Róza Domascyna und Marja Krawcec Namen, deren Ruf weit über Bautzen, über Räckelwitz, Ralbitz und Schmeckwitz hinausgedrungen ist. In der Janus press von Gerhard Wolf sind deutsche Fassungen der Gedichte von Domascyna erschienen, die bislang nur Sorbisch schrieb. Sie besteht auf Dörflichkeit und Provinz, gleichwohl sind die Texte höchst gekonnt gefügt, machen von alten wie modernen Techniken, von Zauberworten und Surrealismen, gekonnten Gebrauch, verschränken die Worte und Sätze zu vielsagender Mehrdeutigkeit.
Der Grundgestus ist durch Verweigerung und Widerstand bestimmt. „Unter einem gewaltig mildtätigen horizont“ heißt ein Gedicht, das in die früheste Kindheit zurücklenkt, zum Versuch der Erwachsenen, wieder einmal (1945) ein neues Leben anzufangen – das Ich ahnt, daß es solchen Plänen unterstellt werden soll:
alles hatten sie
vorbereitet für mich
das zittern das hatte ich schon
Zynisch reagiert Domascyna auf die gegenwärtigen Bewältigungsversuche: „Es gibt nichts, das nicht vergessen wird“. Der Abbruch der Worte aus dem Sinn ist, als Tilgung aller Spuren, die Signatur der Stunde:
das all
ist ein selbstloses ich, vogelfrei
Es gibt Sonette, Liebesgedichte, Naturreminiszenzen, doch fast nur als Zitat, stets „verformt“ durch die Zeit und das Ich, das ihr widerstehen möchte. Der Smogalarm über Berlin wird mit einer Chiffre kommentiert, die dem lyrischen Ich entspricht:
Das HIER ist ein bedeckter körper, der das atemanhalten übt
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 1, 1995
– Die Dichterin Róža Domašcyna. –
Als ich, ermutigt von der schönen Geste der Stadt Fellbach, dem Mörike-Preis einen Förderpreis beizugesellen, auf die Suche nach einer Preisträgerin ging, fand ich Róža Domašcyna. Eine Dichterin, die etwas zu sagen hat: über die Liebe und den Leib, über das Absterben der Pflanzen und unserer Körper, über unsere Gier nach mehr, mit der wir die Natur und damit uns selbst zerstören. Sie sagt es ohne Anklage, ohne Koketterie: Selbstbefragung. Zweifel, eigenes Verschulden, den Dingen auf den Grund gehen.
Sorbin ist sie, gehört jenem kleinen Volk an, das seit 600 im Gebiet der Lausitz siedelt. Ein dörfliches Volk, das niemals einen eigenen Staat bildete. Als Slawen repräsentieren die Sorben den Osten des Westens. Heute leben etwa sechzigtausend Sorben dort, beheimatet nun im östlichen Osten des Westens.
Zu DDR-Zeiten wurden die Sorben stark gefördert. Der Preis – freilich – war die Einordnung. Eine „übervorteilte Minderheit“? „Zu Tode gefördert“, wie man jetzt hört? Ja und nein. Kultursimulation, gewiß, war vieles. Aber nicht alles war Maske, Schein. Es waren da Menschen.
Umgang mit Anderssein. „Ernstgenommen zu werden, auch wenn man klein ist, ist ein Menschenrecht“, sagt Róža Domašcyna.
Ihre Muttersprache, das Sorbische, verstehe ich nicht, aber ich habe ihren Klang im Ohr. Eine slawische Sprache, weicher, melodischer, von anderer Temperatur. Sie begegnete mir in den Stimmen, Gesängen der sorbischen Osterreiter. Dieses Osterreiten, in DDR-Zeiten ein magischer Vorgang. Jahr für Jahr zog es mich dorthin. Gesichter gab es da, was für Gesichter! Und etwas, das über Jahrhunderte kaum Unterbrechung erfahren hatte. Im Frühjahr das Reiten über Fluren und Wege, ein heidnischer Brauch, von der Kirche übernommen, im Gebiet der katholischen Sorben um Hoyerswerda, Kamenz und Bautzen, bis heute lebendig. Am Ostersonntag nach dem Gottesdienst umkreisen die Mariner in festlicher Kleidung auf dem Rücken ihrer Pferde mehrmals Kirch- und Friedhof, die alten Choräle singend. Dann reiten sie in die Nachbardörfer. Züge und Gegenzüge. Die Landschaft ist den ganzen Tag von den langen Prozessionszügen der Osterreiter erfüllt.
Dort, im Dorf Zerna, sorbisch Sernjany, wurde die Dichterin 1951 geboren.
Unter einem gewaltig mildtätigen horizont. Knapp über der hölle; Nachkrieg, der Vater den wandernden granatsplitter im Leib, der kartoffelacker, wo er seine uniform verbrannte. Die Mutter täglich in sorbischer Tracht. In die sachen wachsen… die die truhe füllten: brautkranz und schleifen das liederbuch / der rosenkranz. Der Einbruch des „Neuen“ in die festgefügte Welt: ich ein Junger Pionier mit heiligenbild in der / hand SO IST ES BESSER FALLS ALLES ANDERS / KOMMT sagte vater. Pionierhalstuch, FDJ-Hemd, Fahnenappell. Karfreitagssingen, Walpurgis. Die sorbische Vogelhochzeit. Sorbische Tracht. Als Kind habe es ihr gefallen, als „exotischer Ziervogel“ vorgeführt zu werden.
Legendäre Herkunft und auf sie einstürzende Gegenwart. Das kind / in mir bewegte sich hochrot in seiner hülle, als / ob es den sarg vergessen hätte, der mit ihm / wuchs. Die Lausitz, die Landschaft der Sorben, in der es noch „Reste stummen Einvernehmens von Mensch und Natur“ gab, „Stille“ noch „faßbar“ war, wurde seit den zwanziger, gewalttätig dann mit den fünfziger Jahren Schauplatz eines ökologischen Exzesses. Großbauten des Sozialismus. Braunkohlenförderung. Abbaggern. Verwüstung. Devastierung. Vom Siedlungsgebiet der Sorben wurden allein 78 Dörfer zerstört, der Kohle geopfert. Und es geht weiter, die nächsten sorbischen Dörfer werden Horno, Rogow, Rowno und Slepo sein. Die heimat ist, wo wüste bleibt: na und?! So in dem Gedicht „Isolationsgeschädigt“.
Der „exotische Ziervogel“ kam aus den jenseitigen dörfern in die schlafstädte. Róža Domašcyna studierte Ingenieur-Ökonomie des Bergbaus, arbeitete lange Jahre im Senftenberger Braunkohlenrevier. Nicht Zuschauerin, Mitwirkende – im roten kleid – war sie. Industriefest schrieb sie sich ins aderwerk, sah, was sie sehen wollte, was verordnet war zu sehen. Aber das verordnete, selbstverordnete Fest (wo ist die Grenze?) trug schon das Menetekel.
Wie wird man eine Dichterin? Indem man das Sosein und Anderssein aushält? Zwiespalt von Herkunft und Gegenwart?
Bereits mit neuen Jahren wollte Róža Dichterin werden. Aber sie hat warten können.
1990 erschien – in Sorbisch – ihr erstes Buch, ein Jahr später – sie war vierzig – das erste in deutscher Sprache. Der Titel: Zaungucker, ediert in Gerhard Wolfs Verlag Janus press.
Jedes ihrer Gedichte scheint mir gewachsen zu sein, vielfache Veränderungen erfahren zu haben. Zunächst schrieb sie nur in Sorbisch, später, als sie das Literaturinstitut in Leipzig besuchte, übersetzte sie ihre Texte, heute schreibt sie zweisprachig, korrigiert von der einen in die andere Sprache.
Eine spröde, fast herbe Modellierung der Gedichte. Sorgsamster Umgang mit dem Wort, mit Lautfolgen, Klangfarben. Kein Formenspiel, keine Wortakrobatik. Da ist auch nichts gefühlig, ausufernd. Klare sinnstiftende semantische Felder, kompositorische Logik.
Da hat eine – im Warten-Können – ihr Handwerk gelernt. In keiner Tradition zu Hause, wie sie sagt, steht ihr die sorbische Bilder- und Mythenwelt zur Verfügung, ist ihr die Dichtung der Bachmann, der Achmatowa, die von García Lorca und Paul Fleming nah.
Ihre Verse sind Botschaften, Anrufungen, ja: Besprechungen. Immer wieder – durchgängig – zwei Themen.
Das erste: Natur, die Folgen der Zerstörung. In ihren Gedichten jagt sie im Traum nackt an den Betonmauern der Hochhäuser entlang, von den Betonbalkonen flattern Papierbögen, bedecken ihren Körper. Bögen, beschrieben mit fester blauer tinte die… in die haut ätzt. Es sind seiten aus flurbüchern, testamente von ausgesetzten landtieren, irr vor fremdheit. Im dreckgebirge des Tagebaus begegnet ihr Marhata, seit Jahrhunderten Beschützerin der unberührten Natur. Marhata griff nach ihren augen,… pflanzte sie in meine stirn. Sie, nun mit dem Wissen Marhatas, schreit Zaubersprüche gegen das Kreischen der Bagger und Transportbänder, bis ihr die Stimme versagt:
Ich taumelte… zum grubenrand. Dort pumpten
motoren in filterbrunnen pausenlos mein blut aus
dem erdkörper.
Eine poetische Formel, die sich ins Gedächtnis prägt. Es ist auch unser blut, das pausenlos aus dem erdkörper gepumpt wird. Die ökologischen Exzesse. Überhebung; tilgung ist angesagt. Aber die fatale Gier nach mehr wird sie nicht zulassen, nirgendwo in der Welt.
Ein zweites Thema: die Liebe. Diese Verse sind meist keine des Glücks, es sind Verse von Schmerzen und Unerfülltsein, männlichem Rückzug und aufstörenden weiblichen Ansprüchen.
Liebe, die der Dichterin „Religion und Erotik zugleich“ ist, wird eingefordert, auf dringliche Art. Gegen die, die anstelle ihrer Herzen blechmarken tragen, gegen SICHLIEBENDE / ichsager die untergehakt ausschreiten / mit dem hufeisen in der tasche…
Die schönen starken Liebesgedichte der Róža Domašcyna legen Wunden, Verwundungen von Leben und Schreiben bloß. Die Frau als Werbende, der Mann als Zögernder. Vergeblichkeit, Zurückweisung, Nichterkennen werden immer wieder thematisiert. Die bitterste Zeile wohl im Gedicht „Vom geteilten, dem doppelten leben“, wo Frau und Dichterin einander ausschließen:
und wenn ich schweig, klingt auch mein wort nicht fremd.
Erkanntwerden als die, die man ist – die große Sehnsucht.
Zwiegesichtig sein… ein stück von mir?
Mein liebgesicht, mein schmerzgesicht
… bis daß er sagt: komm jetzt, ich lad dich ein.
Dann will ich salbei tun und schachtelhalm
auf sein gesicht – den liebsten nur erkennen.
WIR: du und ich. SEIN: leben oder ruhn.
Das Gedicht trägt den Titel „Hingang“. Doppelsinn des Worts. Der Weg zum Geliebten. Hingang. Es könnte auch der Tod sein.
Liebe und Tod sind sich in vielen ihrer Verse nah. Auch in „Aufruf ins Paradies“, einer Hommage für Mato Kosyk, den sorbischen Dichter, der nach Amerika auswanderte, seine Liebesgedichte an eine Indianerin richtete. Eine Zeile von ihm ist vorangestellt: cuzbnika smej ry a ja, Fremdlinge sind du und ich.
Oft habe ich beim Lesen der Verse Róža Domašcynas mit ihrem sanften, entschiedenen Gestus an jenen Indianer gedacht, der sagte, erst wenn ihr den letzten Fluß ausgetrocknet, den letzten Baum gerodet habt, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann.
Daß die sorbischen Mythen mit denen der Indianer verwandt seien, davon sprach Erwin Strittmatter, der Halbsorbe, der sich dazu bekannte, seine dichterische Identität den slawischen Urmüttern, den sorbischen Frauen zu verdanken.
Die Stärke der sorbischen Frauen. Nicht nur mit ihren Trachten – ausschließlich Frauen tragen sie – sind sie diejenigen, die überliefern, sie sind es auch hinsichtlich der Sprache, Kultur. Aber die weibliche Tradition ist eine mündliche. Kaum materialisiert, kaum in schwarzen Lettern auf Buchseiten.
Dichterinnen sind im Sorbischen rar. Mit Róža Domašcyna ist eine gekommen, eine, die feministischer Gebärden nicht bedarf. Selbstbewußt nimmt sie die stimmen der mütter auf, sie, nachgeburt ihrer großmutter.
Ist es die „Unfraglichkeit sorbischer Zukunftslosigkeit“, die gestundete zeit der Sorben, die ihr die Zunge löste, sie trieb, Gedächtnis zu sein?
Ein echo rief mit der stimme der totenfrau
ICH HÖRE DICH und las mir hundert irdische
jahre aus der hand.
Die Frage von Untergang oder Überleben der Sorben ist so alt wie die Sorben selbst. Die Dichterin, befragt nach der Zukunft der Sorben, entgegnet:
Der einzelne muß sich zum Tun oder Nichttun entscheiden.
Sie sieht sich mit den Augen der Fremden. Verweist uns auf uns selbst. „Eine Enklave ist stets auch die Welt.“
Sensibilisiert durch die Geschicke ihres Volkes, bedrängt von der Zeit – Zeit kehrt als Motiv in ihren Gedichten immer wieder, oft als Gleichnis für den Tod –, läßt sie sich Zeit, Ihre Frage ist immer die nach dem Überleben.
Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein
und schließ den mund, um stumm herauszuschrein.
Sie faßt Geschichte nicht mit kleinen hastigen Atemzügen als kurzen Prozeß:
Zwischen der tat und dem grund ist weder atem
noch geist.
Sie verteidigt Eigenes, auch Eigensinniges, Sonderbares gegen das Uniforme, gegen gedankenlose Anpassung, gefügige Einordnung. Das ist der freiheit weite: uniform. Die Verse, die die jüngste Zeit reflektieren, werden bitterer, sarkastischer: den rückzug vor uns alle wege offen.
Róža Domašcyna wird nicht den sorbischen Clown im mitteleuropäischen Käfig spielen, wir werden sie nicht auf der sorbischen Bekenntnisbühne finden, sie wird nicht die Tracht anlegen, damit die Kameras surren. Die exotischen Ziervögel als Attraktion, als Marktwert. Das geld, es knistert und die kasse klingelt. Ausverkauf. Die Gefahr für die Sorben jetzt. „Aussicht auf morgen“:
… wir tauschen im fluge
den eigenen kindern
die zunge die zunge.
Róža Domašcyna wird die Zunge nicht tauschen. Der Ort ihres Schreibens: die spalte, das Dazwischen, Eigenes – Fremdes. Ihr Lebensort, Budyšin, Bautzen, östlicher Osten des Westens.
Noch viel, ich bin mir sicher, ist von dieser Dichterin, die warten konnte, zu erwarten. Wir können uns darauf freuen. Ich freue mich darauf.
Sigrid Damm, neue deutsche literatur, Heft 498, November/Dezember 1994
– Ein Porträt der sorbischen Dichterin Róža Domašcyna. –
Im Blick auf die faszinierend vieldeutigen Sonette Shakespeares hat kürzlich der Dichter Peter Waterhouse eine sehr eigenwillige Theorie der Übersetzung vorgelegt. Den poetischen Übersetzer, so resümierte Waterhouse, dürfen wir uns nicht als triumphierenden Seefahrer auf Eroberungsreise vorstellen, sondern eher als glücklichen Schiffbrüchigen. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis sei der Übersetzer nicht zuständig für den Brückenschlag zwischen zwei getrennten Sprachwelten, oder gar für einen funktionalen Wörter-Transport von A nach B, sondern er bewege sich in einem Zwischenraum mit offenen, fließenden Grenzen, in den Bezirken des Instabilen und Unverfestigten. Waterhouse verweist auf Prospero, den Helden in Shakespeares letztem Drama Der Sturm, der als Herzog von Mailand ins Exil gejagt wird und auf einer menschenleeren, namenlosen Insel landet, aber gerade das Landloswerden als Bereicherung seines Daseins erfährt. Für Poesie wie Übersetzung gelte: Die Potentiale des Poetischen leuchten nur im großen Transitraum der Zweisprachigkeit auf. Das einzige Asyl, in dem Poesie unterkommen kann, ist die Zweisprachigkeit, der ständige Aufbruch ins Ungewisse zwischen den Sprachen.
Eine ideale Bewohnerin des poetischen Zwischenraums der Zweisprachigkeit ist die sorbische Dichterin Róža Domašcyna. Sie spricht und schreibt „im zwieland mit doppelzüngiger duellität“, ständig zwischen ihrer sorbischen Muttersprache und den Vatersprachen des alten und neuen Deutschland hin- und herpendelnd. 1951 als Rosa Domaschke in Zerna in der Oberlausitz geboren, wuchs die Dichterin in einer Landschaft auf, deren verwunschene Schönheit durch den exzessiven Braunkohlenabbau schwer versehrt worden war. Die forcierte Industrialisierungspolitik der DDR hatte in der Lausitz ausgehöhlte Landschaften und zerstörte Dörfer hinterlassen; den offiziell als Vorzeige-Minderheit geförderten Sorben wurde immer mehr Siedlungsraum entzogen. Als Ingenieur-Ökonomin im Braunkohlenrevier von Hoyerswerda erhielt die junge Rosa Domaschke ihre ersten Lektionen in politischer Desillusionierung. Der Blick auf das ökologische Desaster der Lausitz provozierte in ihr ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Rhetorik offizieller Verlautbarungen und standardsprachlicher Schablonen. Die bedrohte dörfliche Kultur der Sorben in der Lausitz bildete dann später den existenziellen Erfahrungsgrund, in den die Texte der Lyrikerin, Märchenerzählerin und Sprachspielerin Róža Domašcyna immer wieder eintauchen.
Die Rede von der „sorbischen Muttersprache“ der Róža Domašcyna ist freilich schon eine Ungenauigkeit, existiert doch das Sorbische, das die Linguisten zur westslawischen Sprachengruppe rechnen, in zwei Varianten, die erheblich voneinander abweichen. Das Obersorbische, das im Süden gesprochen wird, ist dem Tschechischen verwandt, das Niedersorbische des Nordens ähnelt dagegen dem Polnischen. Der Aufbruch in das instabile Terrain zwischen den Sprachen vollzog sich irgendwann in den achtziger Jahren, als Rosa Domaschke am Leipziger Literaturinstitut studierte und sich – in subtiler Mimesis an ihre spachliche Herkunft – in die Dichterin Domašcyna verwandelte. Seither vagabundiert sie als literarische „Landstreicherin über Traditions- und Sprachgrenzen hinweg“ (Gerhard Wolf) – und wechselt mitten im Vers von einer Sprache in die andere.
Über ihren ersten Gedichtband Zaungucker (1991) bemerkte ihr Verleger Gerhard Wolf, hier wirkten manche Zeilen wie aus dem Sorbischen ins Deutsche übersetzt. Dieser sprachhungrige Wechsel zwischen den Sphären ist ja gerade das Erkennungszeichen des Dichters der Zweisprachigkeit, der die Legitimität der Sprachgrenzen in seinen Texten ständig in Frage stellt. Poetische Bilingualität bedeutet aber auch die lebenslange Erfahrung des Fremdseins, des grundsätzlichen Sprachexils, das in keinem besänftigenden Heimatgefühl Zuflucht finden kann.
„Wir sind ein Volksrätsel“, hat Domašcynas sorbischer Dichterkollege Kito Lorenc einmal lapidar notiert – und diese Rätselhaftigkeit des Sorbischen hat sich auch als Leitmotiv in die Texte Róža Domašcyna eingeschrieben. In ihrem Gedicht Triangel regional, das in ihrem jüngsten Band selbstredend selbzweit selbdritt (1998) zu finden ist, spricht das lyrische Ich von der unaufhebbaren Fremdheit nicht nur des eigenen Namens, sondern auch der Physiognomie und des körperlichen Habitus. Der Text setzt ein mit dem Eingeständnis der prinzipiellen Unzugehörigkeit: „Ich gehöre nicht wirklich dazu“. Dann folgen programmatische Sequenzen über die lautliche Exotik des Namens „Domašcyna“, der sich mit „Häusler“ übersetzen ließe:
diese kschtschrschkombination in meinem namen
hat man hier nicht
und habe ich nicht auch schrägstehende augen
eine etwas verlängerte nase
ein fliehendes
kinn
ich könnte mich freilich
Häusler Hausmann Hauser nennen
dann wären die augen wie sie sein sollen
oder ich könnte mich ausschließlich
Keschroschasch nennen
dann wäre die schrägstellung wie sie sein muss…
Die Gedichte der Róža Domašcyna stehen in denkbar weitester Entfernung zur sorbischen Heimatfolklore und zu allen naiven Versuchen, in den „jenseitigen Dörfern“ der Lausitz (Kito Lorenc) ein idyllisches Paradiesgärtlein zu verorten. Dagegen sind es immer wieder vokabuläre Reize, fremde Laute, bizarre Wörter-Funde, an denen sich die poetische Phantasie der Dichterin entzündet und ihr Nomadisieren zwischen den Sprachwelten in Gang setzt. Wie ihre Dichterfreunde Kito Lorenc und Benedikt Dyrlich hat sie Variationen auf ein Rätselgedicht des sorbischen Klassikers Jurij Chezka geschrieben: „Variationen zum grünen zet“ („Zelene Zet“). Während hier aber nur ein Buchstabe der sorbischen Sprache, das „z“ zum Anlass einer poetischen Abschweifung wird, erfindet sich Róža Domašcyna in ihrem Gedicht „wortall“ ihre eigene lyrische Schöpfungsgeschichte. Auch dieses Gedicht überschreitet konsequent die Sprachgrenzen, erprobt die Parallelführung und die symbiotische Koexistenz des Sorbischen und des Deutschen. Etymologisch verwandte Wörter aus beiden Sphären werden in spielerischer Manier durchbuchstabiert – dabei entstehen im Niemandsland des poetischen Zwischenraums auch neue Wörter einer Kunstsprache:
atest a avenue
bomy die bäume im baumeln
der blätter w bubnjowanju beben
die bettelsmannlaus schlec bidens tripartitus…
So bahnt sich die onomatopoetisch beflügelte Rede ihre mäandrierende Bahn, und es lassen sich in diesem sprachobsessiven Assoziationsspiel durchaus Ähnlichkeiten zu den poetischen Verfahrensweisen des polyglotten Sprachzauberers Oskar Pastior finden. Wie bei Pastior stellen sich aber bald Anzeichen von lyrischer Materialermüdung ein, wenn die Domašcyna ihre deutsch-sorbische Wörterwelt in seriellen Techniken aufrufen will. Da kommt es dann zu lyrischem Leerlauf, endlosen Wiederholungsreihen, die in einer Art Fleißübung (zum Beispiel im Gedicht „unterm doppelstern“ mit seinen endlosen „Doppel“-Wortbildungen) vorgeführt werden.
Wenn umgekehrt die Domašcyna gefühlszentrierte Körper- und Liebesgedichte ausprobiert, wie in einigen Texten aus der zweiten Abteilung von selbstredend selbzweit selbdritt, dann kommt es zu keinen vokabulären Reibungsprozessen mehr, aus denen sich sprachspielerische Funken schlagen ließen. Dann herrscht die schiere Konventionalität. Wo aber die Dichterin die Wörter aus ihren nationalsprachlichen Verankerungen löst und sie in ihr poetisches Zwischenreich der vokabulären Unruhe entführt, in dem staunenswerte poetische Metamorphosen stattfinden, da präsentiert sie sich als Autorin von europäischem Rang. Nomadisierend in ihrem sorbischen Wortall, bewegt sich die Domascyna dann „quer durch die ganze grammatik“ um immer wieder aus unseren blinden Sprachroutinen und Kommunikations-Begrenzungen auszubrechen:
ich soll mit demut das wort salschik sprechen?!
mein inventar wird das genüg dir brechen.
(Postskriptum 1998 zu diesem Brief: Gemeinsam mit Gerhard Wolf habe ich mich später entschieden, den Namen Róža Domašcyna quasi als Pseudonym zu verwenden.)
Werter Herr Gerhard Wolf, Bautzen, den 5.6.1990
mein Name ist Róža Domaschke. Ich bin aus Bautzen und meinen Namen dürften Sie noch nie gehört haben, denn ich habe noch kein Gedicht in deutscher Sprache veröffentlicht.
Ich schicke Ihnen meine Texte, weil ich Lyrikbetrachtunge von Ihnen kenne. Meine Texte – experimentelle Lyrik? Vielleicht ist experimentell nur das Anderssein, die Empfindung, hier Zuhaus zu sein, und sich doch weder als Sachse noch als Preuße zu fühlen. Vielleicht ist experimentell nur das, daß mein kleines Volk ein ausschließlich dörfliches ist (Bautzen ist fast schon nicht mehr sorbisch, obwohl hier die zweisprachigen Instanzen sind), daß Kleinheit vielleicht Provinz einschließt, oder ausschließt? Vielleicht ist es die Rechtschreibung, die ich nach dem Sorbischen gestaltet habe? Ich weiß um die Gefahr dieser gesuchten Selbstbewußtheit, bin mir der Worte Provinz und National wohl bewußt (nicht zuletzt sind sie im Dritten Reich kräftig mißbraucht worden), aber zunehmend empfinde ich Provinzialismus in meiner Umwelt – wie mit regionaler Provinz, oder einfach mit dem Anderssein, umgegangen wird. Das gibt mir Rückhand, den Mut zu haben, Ihnen meine Texte zu schicken.
Ich habe hierfür alle meine Texte abgeschrieben, und übergebe sie Ihnen ungeordnet. Falls es erforderlich ist, kann ich Ihnen auch noch Durchschriften zusenden.
Mit freundlichem Gruß
Liebe Róža Domaschke, am 24.7.1990
das passiert selten, daß man ein Manuskript bekommt und daß man schon nach dem ersten Blättern sagt: sieh mal an… Natürlich sind Sie eine Dichterin. Da ist der besondere Blick. Und ich kann Ihnen zunächst nur sagen, wie mir das gefällt. Und genau diese Spannung zwischen Provinz und unprovinziellem Selbstbewußtsein, oder zwischen poetischer Heimat und seltsam bewußter Irritation dazu – das spricht hier ständig mit, also, noch einmal: meine Hochachtung.
Experimentelle Lyrik? Aber ja. Natürlich nicht über das sprachliche Experiment, sondern über diese Auseinandersetzung mit dem, was Sie kennen und in Frage stellen. Ich weiß nicht, ob Sie wie ich den Vexierblick der Elke Erb schätzen, auf ganz andere Weise haben Sie einen solchen eigenen Blick, und nur ganz selten spielen Sie damit. Und eben ohne Sentimentalitäten, bei allem nicht zurückgehaltenem Gefühl, Selbstbewußtsein dessen der spricht, ohne peinliche „Poetenrepräsentation“ (E. Strittmatter), ich schreibe Ihnen das nur, um Ihnen meinen Zugang verständlich zu machen. Und das alles wirklich nach der ersten Lektüre, die aber bei mir meist die beste ist, d.h. ich kehre oft nach nachträglichem Wenn und Aber zu diesem ersten Zugriff zurück.
Nun aber gleich zum Praktischen. außer der reihe wird von mir aus im nächsten Jahr mit bereits geplanten Titeln beendet (das hat verschiedene Gründe). Da ich aber unbedingt diese Autoren und diese Art von Literatur, wie ich sie schätze, weiter herausbringen will – was ja gar nicht so problemlos ist – habe ich eine eigene Edition gegründet – Janus press – die ab kommendem Frühjahr erscheinen soll (selbständig, aber in Verbindung zum Arche Verlag Zürich, ich weiß nicht, ob Sie den kennen). Schön gedruckte Bücher in bewußter Auswahl gegenwärtiger Autoren und wiederentdeckter früherer Dichter – eine bestimmte Linie dessen, was ich als Tradition und Gegenwart der Moderne sehe oder schätze. Sehr verschiedene Autoren.
In dieses Programm möchte ich Sie gern aufnehmen. Darüber wäre dann natürlich ausführlicher zu sprechen, falls Sie dafür Lust haben und nicht den Weg über Aufbau Verlag etc. suchen. Ihr Manuskript sehe ich als Grundlage für ein solches Buch.
Ich würde Sie bitten, mir dazu Ihre Meinung zu schreiben, über Einzelheiten wäre dann ausführlich zu reden, alles was ich Grundsätzliches sagen wollte, habe ich Ihnen bereits gesagt, ich würde Sie gerne unter den Autoren sehen, die in dieser Edition erscheinen, herzlich
Ihr Gerhard Wolf
aus: Peter Böthig (Hrsg.): Die Poesie hat immer recht, Janus press, 1998
Die Worte hatten ihren Reiz: experimentelle Poesie. Ich sprach mit meinem Kommilitonen Ronald M. darüber. Er meinte, das wären so Wortverdrehungen und keinesfalls das, was du schreibst. Auch müsse man besser nach Berlin ziehen, um in die Reihe Außer der Reihe, die Gerhard Wolf herausgab, zu passen. Wir saßen in Ronalds kleiner Wohnung in Leipzig und aßen Nudeln. Ich fixierte die Worte „experimentell“ und „Poesie“ so lange, bis sie auf meine Texte passten. Ronald blieb skeptisch.
Eigentlich hätte ich mich mittlerweile auch an die Großverlage in Deutschland wenden können, denn es war ja das Jahr 1990. Aber könnte ich dort einem Menschen meine Texte anvertrauen, wer von denen teilte meine Meinung zur Poesie und verstand mein Lebensgefühl? Ich schrieb viel in jener Zeit, besorgte mir alle Publikationen der Reihe Außer der Reihe, las nochmals im Buch Wortlaut Wortbruch Wortlust von Gerhard Wolf und war mir sicher: Genau diesem Menschen vertraue ich meine Texte an. So tippte ich sie ab, machte seine Anschrift ausfindig und schickte sie ihm. Nicht, ohne einen etwas ausführlicheren Brief beizulegen, in dem ich die Experimentalität meiner Texte zu erklären versuchte. Kurz darauf kam eine Antwort. Er bat mich um ein Treffen. Gleichzeitig teilte er mir mit, dass es die Reihe Außer der Reihe nicht mehr gäbe und er nunmehr einen anderen Verlag suche, vielmehr sogar einen gründen wolle.
Es muss im Hochsommer gewesen sein, als ich zum Amalienpark fuhr. Zuvor war ich noch nie in Pankow gewesen. Ich war eine geschlagene Stunde vorher dort, genehmigte mir in einem Straßencafé etwas Süßes und wartete, bis die Zeit ran war. Auf die Minute genau klingelte ich bei Wolfs. Er öffnete und ließ mich in die Wohnung, er hatte helle, wache Augen und eine schlanke Gestalt. Eifrig erzählte er von seinem Vorhaben, einen Verlag zu gründen. Und mein Buch sollte dort erscheinen.
Irgendwie erwartete ich, dass er sich zum Wort „Experiment“ äußern würde, er tat es aber nicht. So sagte auch ich nichts weiter dazu, versuchte jedoch, mir alle seine Bemerkungen zu merken.
Sie wirken so anders als Ihre Texte, sagte er irgendwann.
Wenn du wüsstest, dachte ich im Stillen und setzte mein freundlichstes Lächeln auf.
Kennen sie den Lyrikband Vexierbild von Elke Erb?
Ja.
In gewisser Weise haben auch Sie so einen Vexierblick, freilich ganz anders.
Da war es endlich, das Experiment. Ich nickte fleißig in mich hinein und versuchte zu verstehen.
Dann saßen wir auf der verglasten Veranda, die er „Gondel“ nannte, tranken Kaffee aus Tassen mit blauem Zwiebelmuster und aßen „altdeutschen Apfelkuchen“, so stand es jedenfalls auf der Pappbanderole. Am Fenster stand eine Arbeit von Lothar Sell: „Frau mit Birnen“. Ich weiß nicht genau, weshalb mir so viele Äußerlichkeiten im Gedächtnis geblieben sind, vielleicht, weil mir dieses Kennenlernen so wichtig war.
Und schließlich kam sie, Christa. Groß, dunkelhaarig und aufmerksam. Schöner, als auf den Fotos, die ich von ihr kannte. Sie fragte, wie es denn mit dem Sorbischen in der Lausitz stehe. Ich begann zu erzählen und verlor meine Scheu. Sprach von den mächtigen Demonstrationen in Klitten gegen das Abbaggern des sorbischen Siedlungsgebietes und wie dadurch der Ort gerettet wurde. Und dass das jetzt so weitergehen wird.
Ziemlich lange blieb ich im Haus am Amalienpark und fuhr nach Hause mit jener Beschwingtheit, die aus dem Empfinden kommt, es richtig gemacht zu haben.
Beim zweiten Besuch brachte ich mein erstes Buch mit, welches soeben im Bautzener Domowina-Verlag erschienen war. In sorbischer Sprache. Und auch das erste deutschsprachige nahm nun Konturen an.
Da wäre noch die Sache mit dem Namen, sagte Gerhard Wolf.
Welche Sache?
Nun, wie heißen Sie gleich… Thomatschke oder so? Nee, das geht gar nicht.
Er nahm mein sorbischsprachiges Buch in die Hand und besah sich den Autorennamen.
Wie wird denn das hier ausgesprochen? Ich sagte es ihm.
Prima, sagte er. Das nehmen wir.
So erschien im Jahre 1991 mein erstes Lyrikbuch in deutscher Sprache unter meinem sorbischsprachigen Namen als erstes Buch im Verlag Gerhard Wolf Janus press. Ihm folgten noch drei.
Gern kam ich wieder zu Wolfs und blieb stets so lange, dass ich kaum den letzten Zug in die Lausitz erreichte. Und jedesmal aßen wir gut, sprachen ausführlich über die Texte, breiteten die beschriebenen Seiten auf dem Teppich aus und bastelten an der Reihenfolge. Dann erzählte ich von den Ereignissen in der Lausitz und erfuhr von den weiteren Plänen des Verlegers, lernte Autoren und bildende Künstler kennen, schloss Freundschaften, die auch heute noch halten. Ich bin froh, in Gerhard und Christa Wolf Freunde gefunden zu haben.
Róža Domašcyna aus Friedrich Dieckmann (Hrsg.): Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag, verlag für berlin-brandenburg, 2013
Dichterinnenporträt von Róža Domašcyna im Haus für Poesie am 3. Februar 2022. Moderation Hans Thill.
Róža Domašcyna und Volker Sielaff sprechen über ihre Dichtungen und lesen aus ihren Werken.
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