Tadeusz Różewicz: Tadeusz Różewicz und sein Gedicht „Meine Lyrik“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Tadeusz Różewicz und sein Gedicht „Meine Lyrik“. –

 

 

 

 

TADEUSZ RÓŻEWICZ1

Meine Lyrik

übersetzt nichts
erklärt nichts
sagt nichts aus
umfaßt keine ganzheit
erfüllt keine hoffnung

schafft keine neuen spielregeln
nimmt an keinem vergnügen teil
sie hat einen bestimmten platz
den sie erfüllen muß

wenn sie nicht esoterisch ist
wenn sie nicht originell ist
wenn sie nicht staunen macht
dann muß es so sein wahrscheinlich

sie folgt der eigenen notwendigkeit
den eigenen möglichkeiten
und beschränkungen
unterliegt sich selbst

ersetzt keine andere
kann von keiner anderen ersetzt werden
ist offen für alle
ohne geheimnis

sie hat viele aufgaben
die sie nie erfüllt

„Lyrische Saison“ – Herbst 1966

 

MAN KANN

Ich erinnere mich früher
schrieben lyriker „lyrik“
man kann noch viele viele Jahre
gedichte schreiben
man kann auch
andere dinge betreiben

Der Komponist Artur Honegger sagte vor ein paar Jahren, die Musik würde sterben, ähnlich wie die Lyrik. Wer hätte heute noch den Mut, seinen Beruf mit „Dichter“ anzuzeigen. In einem Brief an Bernard Gavot schrieb derselbe Komponist (im Buch Ich bin Komponist):

… So muß ich also verkünden: „Ich bin Komponist!“ Stellen Sie sich bitte das Gelächter einer Hörerschaft vor, der ein Herr eröffnen wollte: „Ich bin Dichter“ …

Wie wir wissen – starb Gott – was Nietzsche herausfand später (nach verschiedenen Metamorphosen) starb der Teufel: noch später starb der Mensch. Schließlich – wie Honegger feststellt – starb der Dichter… Aber wir leben. Wir sind Zeugen des posthumen Lebens von Gott, Teufel, Mensch… und Dichter. Der Dichter starb. Dies stellte Honegger kurz, klar, brutal fest. Wenn aber der Dichter starb, was tue ich – hier und jetzt – unter Euch? Redet Ihr mit einem Toten? Wer steht, sitzt vor Euch, was liest er, wovon spricht er? Soll ich Euch erzählen wie das Leben eines Dichters nach seinem Tode aussieht?
In dieser Situation, aus dem „Jenseits“, habe ich von meiner Konzeption der Lyrik zu sprechen. Ich bin weit davon entfernt, Honeggers Ausspruch als einen Aphorismus, als einen Wortwitz abzutun. Ganz im Gegenteil: auch ich glaube, daß der Dichter tot ist. Ich glaube auch an Gottes Tod, an den Tod des Teufels, an den Tod des Menschen. Mir scheint, es ist Zeit, die neue Lage des Lyrikers und der Lyrik zu bestimmen. Das Problem ist nicht „Der Poet und die Polis“, sondern das Problem ist „Der Poet und die Nekropolis“.
Im Augenblick als ich diese Worte in der schönen Donauhauptstadt schreibe, werden Vorbereitungen zum Festival der Lyrik getroffen, das unter der Losung steht „Poezja nie jest martwa poezja nie może umrzeć! Die Lyrik ist nicht tot, die Lyrik kann nicht sterben! La poésie n’est pas morte, elle ne peut perir!“ Unter dieser Losung kommen hundert oder auch zweihundert Lyriker aus den sozialistischen und den kapitalistischen Ländern zusammen. Sie diskutieren, streiten, lesen ihre neuen Gedichte, sind selber Beweis für die Vitalität der Lyrik und für ihr ewiges Leben.

Die Lyrik ist nicht tot, die Lyrik kann nicht sterben.

Ich sehe ein Gremium von Lyrikern, die lebendiger Beweis dafür sind, daß nicht nur die Lyrik unsterblich ist, sondern daß auch die Lyriker leben und allen Beschwerden zum Trotz weiterschaffen.
Indessen ist diese literarische Geschäftigkeit nichts als ein Leben nach dem Tod. Jawohl, meine Herren, ja, liebe Kollegen der Feder, meine Freunde, meine Leidgenossen. Lyrik ist sterblich, Lyrik kann sterben und die Lyrik der Lächerlichkeit überantworten. Das ist kein makabrer Einfall, das ist die unschöne Wahrheit, die ich übrigens nicht zu beweisen gedenke. Denn was soll’s? Gott starb und starb nicht, ebenso der Teufel, auch der Mensch starb und lebt weiter, was starb da sonst noch und was lebt trotzdem? Kultur, Zivilisation, Humanismus, Lyrik? Mit einem Wort, man sollte das alles nicht allzu tragisch nehmen. Um keine allzu „schwarzen“ und somit ein wenig langweiligen, sogar verdächtigen Stimmungen und Gedanken aufkommen zu lassen, bezeichnete ich mich selbst nicht als einen toten, sondern als einen gewesenen Lyriker. Lebendig aber gewesen. Auf diese Art schaffe ich Kontakt. Und vermeide das Gelächter. Obwohl ich bekenne, daß es mir schwerfällt, auf meine Idee vom „Jenseits“ zu verzichten. Ich hätte Lust, Euch davon zu erzählen, wie ein Lyriker nach seinem Tode lebt. Das wäre etwas! Das wäre ein Einfall!
Ich gestehe, daß ich eine Zeitlang darunter litt, keine Idee und keine lyrische Konzeption zu haben. Die Erfinder des „happening“ haben mich in Versuchung geführt; ich dachte: „womit trete ich hin vor mein Publikum, vor meine Kritiker, vor…“ womit trete ich auf im Jahre 1966 nach Christi Geburt! Mit Gedichten? Oder? Soll ich den Saal im Handstand betreten, mich auf den Kopf stellen, meinen Übersetzer erschießen, oder eine vielversprechende Lyrikerin in kleine Stücke reißen und ihre Körperteile, in meine Sonette gewickelt – (unbedingt Sonette!) – in den Saal streuen! Ich war verlegen, weil ich nur einen Kopf besaß und nicht zwei, wie irgendein Wunderkalb; es war mein altes Ich, der „lebendige“ Lyriker, der traurig war über die Art, wie seine Lyrik und seine Lyriker-Existenz wirken. Man müßte Lyrik schaffen so überraschend wie ein Kalb mit drei Köpfen, sie dann enthäuten, vierteilen und… verkaufen!
Ich stellte mir vor, daß die Leute nach unserem Treffen sagen würden:

Mein Lieber, mein Lieber… denke nur, ich habe heute einen Lyriker mit zwei Köpfen gesehen… er heißt Tadeusz Różewicz… seine Lyrik ist einzigartig.

Und ich bin in Versuchung geführt worden vom Dämon des Hochmuts… er hat mir geraten, ein Gedicht mit dem linken Fuß und mit geschlossenen Augen zu schreiben, das Wort zu demolieren, das Wort – zu erfinden, das Wort – zu ehebrechen. Schließlich riet er mir, mich aufzuhängen. Mir zu Füßen lag ein ganzes Königreich der Avantgarde und des Experiments. Aber lassen wir das. Wir Lyriker von heute – die (scheinbar) lebenden und die toten, kranken und sterben alle an der allzu großen Eigenliebe. Wir möchten originell, bewundert, einzigartig sein. Niemand von uns möchte langweilig, uninteressant, passeistisch sein… und eben das ist die große Sünde und das Geheimnis unserer geweißten Gräber. Aber ich merke, wie ich bereits selber fast geistreich und fast „einzigartig“ werde. Wehe!
Außer dem posthumen Leben der zeitgenössischen Lyriker bedrängt mich immer noch diese andere, schlimmere Sache, nämlich die Lächerlichkeit. „Stellen Sie sich bitte das Gelächter einer Hörerschaft vor, der ein Herr eröffnen wollte: ,Ich bin Dichter‘. “ „Ich bin Dichter.“ Was ist daran lächerlich? Macht sich denn jemand, der bekennt, er sei Kaplan, Minister, Polizist, Metzger, Friseur, Physiker, Holzfäller… etwa lächerlich? Nein! Schlimmer natürlich ist es mit solchen Berufen wie Henker, Schinder, Fälscher, Dieb das zu gestehen ziemt sich nicht, so etwas sagt man nicht, ebenso stellt sich niemand einer Versammlung als Sadist, Sodomit, impotent, Philosoph vor… aber Dichter? Würde da wirklich Gelächter ausbrechen im Saal?
Offensichtlich haben Veränderungen stattgefunden, die es nicht erlauben, sich öffentlich zu bekennen… ja, zu dieser Schuld zu bekennen. Zu dieser Verstümmelung, zu dieser intimen Krankheit… Was ist geschehen? Warum konfrontiert uns ein zeitgenössischer Komponist mit dieser Frage so offen und so klar? Das Rätsel hat mich lange geplagt und ich habe es nicht gelöst. So sind wir also lächerlich. Wir dürfen uns zu unserem Beruf, bei Gefahr der Lächerlichkeit, nicht bekennen.
Meine Konzeption der Lyrik, der Dichtkunst? Was für eine Erleichterung, welche Befreiung!

Ich besitze keine Konzeption.

Natürlich besaß ich im Laufe der 25 Jahre verschiedene Konzeptionen, definierte und bestimmte in Gedichten und theoretischen Überlegungen meine Poetik, meine „Lyrik“ und „Antilyrik“. Und jetzt ist mir alles egal: Reim oder kein Reim, Metapher oder keine Metapher, Bild oder kein Bild, Einfall oder kein Einfall, das spielt keine Rolle… Nur auf eines bin ich noch bedacht: auf das Wort. Darauf verzichte ich nie. Menschen, die mit Wörtern spielen, halte ich für dumme und unglückliche oder glückliche und unterentwickelte Wesen. Nicht durch das Stottern, Zerschlagen, Martern der Wörter, der Silben, der Laute…, sondern durch das Wort und den „ganz normalen“ Satz kann man jemanden, den die Situation der sogenannten Lyrik interessiert, ansprechen…
Ich versuchte das im Gedicht mit dem Titel „Saison 1966“ auszudrücken:

lange schon ist die saison
im „Le Paradis du Langue“ zu ende
zwanzig jahre lang sprach ich davon
unseren wörterschaffern
wortvergießern wörtersprengern

jetzt erst beginnen
die wirklichen schwierigkeiten
beim schreiben der gedichte
ihr werdet sehen
noch in dieser saison
wird man das gedicht
dieses zugetragene ei
austragen müssen
nicht in die spreu aus wörtern
sondern direkt
in den abgrund ins nichts
das ist das problem
würdig eines poeten:
wie unterläßt man gedichte zu schreiben
wie unterläßt man
noch ein gedichtchen

Mir schwebt eine Lyrik ohne Eigenschaften vor. Eine Lyrik, die wieder anonym, wieder „Die Stimme des Anonymus“ wäre. Das strebte ich all die Jahre an.

So lange formte ich
mich
zum bild und ebenbild
des nichts
formte dieses antlitz
zum bild und ebenbild
von allem
endlich verwischen sich die züge
meine worte
bestaunen einander nicht mehr

Das, was den „Neuerern“ aller Schattierung als das Fegefeuer, ja die Hölle erscheint, die Anonymität, der Mangel an schöpferischer Persönlichkeit, das Fehlen jeder Erkennungsmarke – ist meine Reinigung. Man hat die Lyrik auf der Jagd nach Originalität und Unwiederholbarkeit lächerlich gemacht, aus ihr ein Kinderspielzeug, ein avantgardistisches Kalb mit zwei Köpfen gebastelt. Also mußte man das alles begraben und die Erde darüber festtreten. Es half keine künstliche Atmung, keine Manipulation. Die Lyrik mußte, um wiederauferstehen zu können sterben.
In dem bestimmten und begrenzten Bereich, der mir durch die Geburt und das Leben gegeben ist, kann dieser Vorfall untergehen wie ein ins Wasser geworfener Stein. Möglich aber, daß meine Erfahrung nicht spurlos verschwindet; daß mein Erfahrungskreis die Erfahrungen anderer Lyriker aus fernen und nahen Ländern, die ich besucht habe oder die ich niemals sehen werde, berührt. Und in dieses Schicksal willige ich ein mit Demut und mit Freude, die mir das Wissen von der Situation des Lyrikers in der heutigen Welt bereitet.

Lyrik als Aktion

Ich denke zurück an das Jahr 1945. Ich war damals in Krakau und begann an der Jagiellonen-Universität Kunstgeschichte zu studieren. Im späten Herbst schaffte man Ordnung in den Räumen des Schriftstellerverbandes und warf dabei einen Stoß alter Zeitschriften hinaus. Darunter waren Jahrgänge der „Zeitgenössischen Rundschau“ (Przegląd Współczesny) von 1936 bis 1939. Ein paar Beiträge und Abhandlungen darin erregten meine Aufmerksamkeit. Der Beitrag von Borowy über Eliot, der von Zawodziński über „Polnische Lyrik in der Krisenzeit“, der von Tatarkiewicz über „Kunst und Poesie“…
Ich erinnere mich, daß ich damals an einem Gedicht schrieb, das ich niemals beendet habe – es war ein Gedicht vom Wiederaufbau der Krakauer Marienkirche. Die Tatsache, daß die Denkmäler des alten Krakau objektiv vorhanden waren, war für mich keinesfalls Bestätigung für ihre Realität.
Und hier der Plan jenes Gedichts:

… Passanten meinen, die Marienkirche stünde noch unversehrt da, sie sehen nicht, daß sie ein großes Prisma aus Ziegeln und Steinen ist. Die Kirche liegt in Trümmern. Die Kirche ist zerstört in meinem Innern. Dieser Bau, den ich betrachte, ist keine Kirche, kein Denkmal der Architektur, kein Kunstwerk, sondern eine verwüstete, zertrümmerte Bude, ein Haufen Schutt…

Es hatte einen Grund, daß ich Kunstgeschichte studieren wollte. Ich wollte Kunstgeschichte studieren, um den gotischen Tempel wieder zu errichten. Um diese Kirche in mir Stein auf Stein aufzubauen. Um den Menschen – Element für Element – zu rekonstruieren. Beides war untrennbar miteinander verbunden. Das Gedicht selbst sehe ich wie durch einen Nebel, aber an seine Absicht erinnere ich mich genau.
Es war, als wohnten in mir in dieser Zeit zwei Menschen. In einem war die Bewunderung und die Achtung für die „schönen“ Künste, für Musik, Literatur und Lyrik… im anderen das Mißtrauen zu den Künsten. Das Feld, auf dem der Kampf zwischen diesen Personen ausgetragen wurde, war meine poetische Praxis. Ich bewunderte gläubig die Werke der Kunst (das ästhetische Erlebnis ersetzte mir das religiöse Erlebnis), aber gleichzeitig wuchs in mir immer mehr die Verachtung der „ästhetischen“ Werte. Ich fühlte, daß etwas für mich und für die Menschheit für immer zu Ende war. Etwas, das weder die Religion, die Wissenschaft, noch die Kunst gerettet haben… Ich begriff zu früh die Worte von Mickiewicz, der sagte, es sei „schwerer, einen Tag gut zu leben als ein Buch zu schreiben“ ich begriff zu früh den Satz Tolstojs, der meinte, der Entwurf eines Schulbuchs habe für ihn eine größere Bedeutung als alle genialen Romane zusammengenommen.
Ich wandte mich damals ab von den ästhetischen Quellen. Quelle der Kunst – dachte ich – kann nur die Ethik sein. Aber beide Quellen, die eine wie die andere, waren versiegt:

der mörder hatte darin seine hände gewaschen.

Ich versuchte also wiederherzustellen, was mir für mein Leben und für das Leben der Poesie am wichtigsten schien. Die Ethik. Und weil sich für mich seit meiner Jugend Politik mit Ethik verband, und nicht mit Ästhetik… bekam meine Kunst politischen Akzent.
Das betrifft vor allem meine ersten gleich nach Kriegsende geschriebenen Gedichte.
Für mich war die Lyrik also eine Aktion, und kein Schreiben schöner Gedichte. Meine Sache waren nicht Gedichte, sondern Fakten. Ich schuf – so dachte ich und so denke ich immer noch – bestimmte Fakten, und nicht (mehr oder weniger gelungene) zynische Gebilde. Ich reagierte auf Ereignisse mit Fakten, die ich in Gestalt von Gedichten formte – und nicht mit „Poesie“. Deshalb haben mich, obwohl ich bei den Meistern des Worts gelehriger Schüler war, niemals die sogenannten „poetischen Schulen“, ihre Märkte und ihr Feilschen um Versmaß oder Metapher interessiert… Um meine Ansichten genauer darzulegen und jenen seelischen Zustand zu bestimmen, zitiere ich, was François Mauriac gesagt hat:

In Anbetracht der politischen und militärischen Ereignisse erscheint alles andere nichtig,… gerade sie lenken mich von der literarischen Fiktion ab. Im Warteraum liest man höchstens Zeitungen…

Aber zurück zu den Jahrgängen der „Zeitgenössischen Rundschau“, zu der Abhandlung von Prof. Tatarkiewicz. Im vierten Teil vom „Begriff Schönheit“ sagt Tatarkiewicz:

der griechische Schönheitsbegriff… hatte einen anderen Inhalt als der unsere, er war viel geräumiger, reicher, sei es um die Ethik, sei es um die Mathematik. Meistens bedeutete ,schön‘ soviel wie ,anerkennenswert‘ und nur eine feine Nuance unterschied es davon, was man als ,gut‘ verstand. Vor allem bei Platon umfaßte der Schönheitsbegriff die ,moralische Schönheit‘, also die Vorzüge des Charakters, die wir heute unberücksichtigt lassen, mehr noch, sogar aufs peinlichste von den ästhetischen Vorzügen trennen…

In jener Zeit, also im Jahre 1945, einige Monate nach dem zweiten Weltkrieg, fand ich solche Bezeichnungen wie „ästhetische Erlebnisse“, „künstlerische Erlebnisse“ lächerlich und verdächtig. Danach, im August, wurde die erste Atombombe geworfen. Und heute finde ich die sogenannten „ästhetischen Erlebnisse“ immer noch lächerlich, wenn auch nicht mehr verachtungswürdig. Die Überzeugung davon, daß das frühere „ästhetische Erlebnis“ tot ist, ist die ständige Plattform meiner literarischen Praxis. Das Sprechen „direkt“ sollte zur Quelle hinführen, zur Wiedergewinnung des banalen Glaubens, der banalen Hoffnung, der banalen Liebe. Der Liebe, die den Tod überwindet, und der Liebe, die vom Tod überwunden wird. Um so einfache Dinge ging es mir. Gedichte, in denen ich auf die Originalität, die Unwiederholbarkeit, die Überraschung setzte, haben für mich zweitrangige Bedeutung. Auch wenn sie möglicherweise vom Standpunkt des „ästhetischen Erlebnisses“ besser sind als die anderen.
Die Dogmatiker der „Avantgarde“ haben unter den „Detaillisten“ und Epigonen einen solchen Wirrwarr angerichtet, daß es für mich nur eine Medizin gab, den sogenannten „poetischen Sinn“ durch den gewöhnlichen Sinn, das heißt den gesunden Menschenverstand zu ersetzen. Ich mußte der „Banalität“ ihr Recht wiedergeben.
Im Jahre 1948 sprach ich – während des Kongresses junger Schriftsteller in Nieborów – viel mit Tadeusz Borowski. Es war unsere zweite Begegnung. Wir sprachen damals von verschiedenen Dingen, darunter auch von Lyrik. Borowski überlegte, ob man in Gedichten solche Wendungen noch gebrauchen könnte, wie zum Beispiel „Der Mond scheint“… „Daraus läßt sich heute wohl kaum noch ein Gedicht machen, oder?“, hatte er gefragt. „Ich weiß nicht“, antwortete ich, „aber versuchen könnte man es.“ Ich erinnere mich, daß ich mich nach der Rückkehr aus Nieborów daransetzte, es zu versuchen. Ich schrieb das Gedicht „Der Mond scheint“.

Der mond scheint
die Straße ist leer
der mond scheint
ein mensch flieht

der mond scheint
ein mensch fällt
ein mensch erlischt
der mond scheint

der mond scheint
die straße ist leer
ein totengesicht
eine wasserlache.

Das Produzieren der „Schönheit“, um „ästhetische Erlebnisse“ auszulösen, finde ich eine unschädliche, aber lächerliche und kindische Beschäftigung…
„Manifeste“ und Definitionen hemmen unsere Bewegung, versteifen unsere Haltung. Deshalb möchte ich unterstreichen, daß auch diese Bemerkungen die Quelle meiner Poetik nicht erschöpfen, sie nicht einmal beleuchten. Sie bleiben fragmentarisch. Ähnlich wie meine im Jahre 1958 publizierten Notizen über den Klang und das Bild in der Gegenwartslyrik nur ein Beitrag zur Beschreibung einer bestimmten Auseinandersetzung waren. Eine noch andere Beleuchtungsprobe ist das Gedicht „Meine Lyrik“, das ich heute Abend als erstes gelesen habe.

Tadeusz Różewicz, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

 

Różewicz

hat für sich und für seine Generation das Leitwort „Unruhe“ gewählt. Von Anfang an mißtraute er nur-ästhetischen Motiven.

Für mich war die Lyrik eine Aktion, und kein Schreiben schöner Gedichte.

Die Überzeugung davon, daß das frühere „ästhetische Erlebnis“ tot sei, sei die ständige Plattform seiner literarischen Praxis. Das „direkte“ Sprechen sollte zum Ergebnis führen.

Ich mußte der Banalität ihr Recht wiedergeben.

Das Alltägliche soll, nach Różewicz, in der Poesie alltäglich, nicht kunstvoll, nicht poetisiert ausgesprochen werden, – Alltag in seiner gefährlichen Nichtselbstverständlichkeit. „Poesie auf des Messers Schneide“, haben seine Kritiker gesagt. Poetik gegen die Metaphernflut. Eine Poesie, die mehr mit der Syntax, mit der Beweglichkeit des Satzes, als mit geschlossenen bildhaften Ausdrücken arbeitet. „Das Bild, – die Metapher beschleunigt also nicht, sondern verzögert das Zusammentreffen des Lesers mit dem eigentlichen Sinn des poetischen Werks. … Ich schuf“, so sagt er, „Poesie für Entsetzte. Für dem Gemetzel Preisgegebene. Für Überlebende. Wir lernten das Sprechen vom Anfang an, sie und ich.“ – Ein Satz aus diesem 1960 niedergeschriebenen Konzept deutet schon auf Różewicz’ gegenwärtige Auffassung voraus:

Ich kann nicht begreifen, daß eine Poesie fortbesteht, obwohl der Mensch, der diese Poesie ins Leben rief, tot ist. – Grund und Antrieb für meine Dichtung ist auch der Haß gegen die Poesie. Ich rebellierte dagegen, daß sie das ,Ende der Welt‘ überlebt hat, als wäre nichts geschehen.

Różewicz fordert von der Lyrik, und kann von seiner Lyrik sagen:

Sie ersetzt keine andere, kann von keiner anderen ersetzt werden.

Karl Dedecius, der Übersetzer von Różewicz, schreibt über dessen bisherige Entwicklung:

Es dominiert in den bis zum „Oktober“ und kurz danach entstandenen Gedichten die physiologische Unruhe der Kreatur Mensch; später, vor allem in der Sammlung Formen (1958) die poetologische Unruhe des nach neuen Gesetzen, nach den „zerrissenen Fäden“ suchenden Künstlers; schließlich in der dritten Periode, die in den Dramen und in Nichts in Prosperos Mantel besonders deutlich wird, die philosophische Unruhe des Bürgers, der einst Opfer des Krieges war und nun dank der „kleinen Stabilisierung“ Beute eines fragwürdigen Friedens zu werden droht. 1945 waren es „Masken“, „kleine schwarze köpfe / grausame mit gips zugeklebte lächeln“, später traten die im „Gespräch mit dem Fürsten“ gestellten Fragen nach den „neuen gleichnissen“, nach den noch möglichen Formen der Sagbarkeit in den Vordergrund, und nun wird das prosperierende Nichts zur Geißel des Gewissens: „nichts gebiert nichts / nichts zieht nichts groß / nichts lebt üppig im nichts / … nichts verurteilt / nichts begnadigt“. Kreatur, Künstler, Bürger – Moralstück, Drama, Groteske – Seelenkunde, Ästhetik, Soziologie – Erlebtes, Bedachtes, Surreales – das sind die Komponenten der drei Entwicklungsstufen im Werk von Różewicz. Ein zeitkritischer Pessimismus ist ihre Summe, ein negativer Narzißmus ihre Wurzel.
Polnische Kritiker nennen Różewicz’ Gedichte das Geflüster, welches Schrei wurde, oder auch Lyrik der gewürgten Gurgel. Realismus mit Moral als Untertext, engagierte Moritat, eine Poesie, die ihre Wirkung aus der naiv, episch und dramatisch, manchmal auch grotesk gehandhabten Alltagssprache bezieht: Treffend hat man gesagt, die Arbeitsweise von Różewicz sei eine lebensgefährliche Poesie auf des Messers Schneide: die kleinste Unsicherheit kann sie in Banalität und Prosa ausrutschen lassen. Das beweisen die Różewicz-Epigonen, die meinen, seine Gedichte seien leicht zu machen, und die an dieser ,Leichtigkeit‘ scheitern.

Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

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