Thomas Rosenlöcher: Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Rosenlöcher: Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz

Rosenlöcher-Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz

KARL MARX

Obwohl die astronomischen Ämter
behaupten, er säße, von Monden umkreist,
über den Niederungen der Zeit
und trüge auf seiner Stirn den Namen
des größten Planeten, der vorrätig sei,
wohnt er noch unter uns
als eine Vereinigung
der Namen Müller und Meier
und wird Staat machen in wechselnder Hose,
denn jener, der jährlich herniedersteigt
und einen Hagel von Naschwerk über uns kommen läßt,
bedient sich vergebens
seines wehenden Bartes.

 

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In diesem merkwürdigen Buch

werden wir mit Geschichten und Personen bekannt gemacht, wie sie uns nicht jeden Tag begegnen: kosmische Boten und die tanzende Alte begrüßen uns, der Hase mit den sehr langen Ohren und ein Schrankenwärter, der aus dem Museum winkt, der Frühling in Schilda zieht ein mit großer Schere, und einer sieht, liegend, seine Beine in alle Weiten wachsen, bis ihn Bescheidenheit überfällt.
Thomas Rosenlöcher ist ein neuer und sogleich höchst eigenständiger Autor im Lyrikerensemble unseres Landes, einer, der durch die Vielfalt und Gewichtigkeit der Themen, den häufig souverän-ironischen Ton und die geschlossene erzählerische Art der Gedichte überrascht und überzeugt.

Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1982

 

Die weiten Landschaften des Gedichts

Thomas Rosenlöchers Gedichte sind arm an Metaphern, aber in ihnen entfalten sich Vorgänge sinnlich kräftig, anschaulich und gleichnishaft, und ebendeshalb wirken sie bildhaft: Das eigenwillige Debüt des 1947 geborenen Lyrikers verspricht spielerische Zugänge zur Wirklichkeit, phantasievollen Umgang mit ihr, Heiterkeit, ja Leichtsinn. Und vielleicht erreicht solches Angebot einige Leser mehr, als Lyrikbände sie im allgemeinen finden. Hinzu kommt als Leseanreiz, daß den Texten Rosenlöchers ein erzählerisches Moment eignet – Kontraposition zu einem lyrischen Verfahren, das der äußersten Reduktion der gegenständlichen Welt auf das bedeutende Zeichen huldigt.
Heiterkeit also wird uns versprochen, und das Versprechen wird auch gehalten. Aber in dieser Heiterkeit quirlt mehr an Unruhe, als beim ersten flüchtigen Blättern wahrgenommen werden kann, wirkt mehr an Widerspruch, als manchem auf „reine“ Lebensfreude Erpichten vielleicht genehm ist.
Das Gedicht „Ich bin der Hase mit den langen Ohren“ greift auf die Mär vom Wettlauf zwischen Hase und Igel zurück: Im sich abhetzenden Hasen sieht sich der Dichter selbst, in einem Lauf ums Leben:

Niemals will ich (keuch ich) mich in den Acker legen.

Die Heiterkeit des Gedichts ist eine grimmige; Erleiden der Zeitlichkeit, Erfahren der Vergänglichkeit ist sein Thema. Der Drang, seine Zeit-Räume bewußt lebend auszufüllen, hält das lyrische Ich in heftiger Bewegung:

… renne umher in den Räumen,
trachtend, daß ich sie ausfüll

 

(„Geburtsanzeige I“).

Das Nachsinnen über den Zeitverlauf, das Verlaufen der Zeit, bildet das geheime Zentrum zahlreicher Gedichte. Wie im Zeitraffer schnurrt unheimlich Leben ab („Der Garten“, „Kopfüber kam ich in die Welt“); die Reflexion über die Vergänglichkeit wird aufgehellt durch das parodistische Element, das in den Gedichten „An meine Nase“ und „An die Klopapierrolle“ der odenhaften Feier des unfeierlichen Gegenstandes entspringt. Eines der anrührendsten Gedichte des Bandes, das Leben und Tod, den Zusammenhang und Wandel der Zeiten, den Wechsel der Generationen bedenkt, heißt „Friedrichsgrund“. Rückblick – Erinnerung an die Eltern, die neues Leben zeugten – und Zwang, den eigenen Lebens-Lauf aufzunehmen, werden erlebbar im Ablauf des Gedichts.
Traditionsbewußtheit zeichnet die Gedichte aus: Thomas Rosenlöcher gebraucht die alten Bilder, arbeitet mit ihnen – paraphrasierend, sie in ironischer Umkehrung zitierend. Himmelfahrt und Ausgießung des Heiligen Geistes, Taufe und Turmbau zu Babel, der Besuch der Engel bei Lot („Das Wunder“, „Die Ausgießung“, „Die Einkehr“) werden auf verblüffende Weise beschworen. Und „Roter Platz“ ist ein vielsinniges Auferstehungsgedicht, erinnerte mich an das Denkmal des ungarischen Bildhauers Imre Varga, bei dem Lenin die Stufen des Monuments herunterschreitet – zu den Leuten.
Aufschlußreich für die Poetik Rosenlöchers ist das Gedicht „Der Tod“:

Nochmals dreht er sich um und schwenkt voller Trauer die Hippe.
Aber der Straßenverkehr rollt, ein Vertreter des Fortschritts,
an ihm vorüber, und keiner, Abgas treibt durch seine Rippen,
sieht ihn mit schlenkerndem Fuß fortgehn, denn seine Funktion
erledigt der Hauptbuchhalter des Instituts für Bestattung,
der seinen schwarzen Schlips äußerst diskret trägt, und doch
kann es geschehn, daß ein Mensch plötzlich, bevor er für immer
in die geheime Bilanz fast spurlos eingeht, aufschreit.

Der verwaltete Tod in der modernen Zivilisation ist der Vorwurf des Gedichts, aber es ist auch ein Text über die Schwierigkeiten der Poesie heute: Gevatter Hein, die vertraut-poetische Figur, wird verabschiedet wie der Bahnwärter im gleichnamigen Gedicht. Die ironisch gebrochene Zitierung des Überkommenen in zahlreichen Gedichten ist der abermalige Versuch, sich wenigstens auf diese Weise der Kraft der überlieferten Bilder zu versichern. Jedoch, damit sind diese Texte in gewissem Maße auch „Bildungsgedichte“: Man muß, ihren Witz zu spüren, die Vor-Bilder kennen. Größer ist die Leistung, wenn sich das lyrische Bild, kunstvoll-naiv der Betrachtung heutigen Lebens abgewonnen, ganz und gar eigenständig entfaltet.

Hurtig, in schwärzlichen Socken, läuft einer mit mit dem Ball,
kennt all die Regeln, sein Pfiff macht, daß die Spieler wild
über das Spielfeld hinjagen, als ging es um alles; doch plötzlich
stehen sie starr, denn erneut gellt ein Pfiff, auf dem Rasen
liegt Nummer sieben und krümmt sich, weinend, der schwärzlich besockte,
der, was die Stunde schlägt, weiß, stampft mit dem Fuß auf, hinaus
muß Nummer sieben, ein Tunnel schluckt sie, eh ihr der Reporter
noch ein Wort nachruft, denn so ist ja, ein Tor fällt, das Leben

 

(„Fußball“).

Der Schiedsrichter, der in diesem Spiel die Macht hat, einen Spieler hinauszuschicken, entpuppt sich – in eindrucksvoll neuer poetischer Verkörperung – als der eben abgeschriebene Gevatter mit der Hippe. Mit Gedichten wie „Fußball“, „Die Hausfrau“, „Parkplatz“, „Der Dirigent“, „Hofkarussell“ und einigen anderen ist Rosenlöcher Uwe Greßmann vergleichbar. Im lyrischen Schalten und Walten wechseln Alltägliches und Kosmisches die Plätze: Bilder vom All-Tag.
Thomas Rosenlöcher kennt die Vorbilder und Vorwürfe, die die Lyrik der DDR bereithält. Das pantagruelische Gedicht „Die Verlängerung“ – mit seiner Metapher vom Riesenwuchs als Bild einer Selbstverwirklichung und -ausdehnung, die das Ganze gefährdet – wird man erst recht vergnüglich aufnehmen können, wenn man sich beispielsweise der Diskussion um Volker Brauns „Kipper Paul Bauch“ entsinnt. Gigantomanie wird von Rosenlöcher spielerisch ironisiert – „Man muß bescheiden sein“ –, was nicht heißen soll, daß hoher Anspruch aufgegeben wird. Ebenso wird man mehr Spaß an Rosenlöchers „Dädalus“ haben, wenn man nochmals einen Blick auf Peter Gosses „Munterung an Dädalus“ wirft. „Die Entleerung“ parodiert Karl Mickels – seinerzeit gleichfalls heiß umstrittenes – Gedicht „Der See“. „Das kann ich auch“ – so setzt Rosenlöchers Paraphrase ein. Doch das ist in der Kunst keine Kunst. Höchstens ein Kunststück.
In den schönen Naturgedichten des Bandes webt ein romantischer Geist, erklingt der Wunsch nach Weltvertrauen, die Sehnsucht, sich in größeren Zusammenhängen zu finden, eine Mitte des Lebens zu gewinnen zwischen Verfall („Gehöft“) und Werden („Die Sträucher“), verlorener Zeit und Zukunftsaussicht, Wandel und Dauer.
Noch immer erlebt der Dichter mit geheimer Unruhe weiträumige Natur als Harmonieversprechen. (Auskunft darüber geben auch die dem Band beigegebenen Notate zu den Gedichten „An der sonngewohnten Straße“ von Rainer Maria Rilke und „Nachts“ von Joseph von Eichendorff.) Der Dichter steht „im tiefen Grund“ auf der Brücke und lauscht dem Bach: „Und immerzu das Rauschen…“ („Der Bach“) Worte fallen – wie „Mühle“ und „Mühlenrad“ im schon erwähnten Friedrichsgrund“ –, und die Landschaften des Gedichts erschließen sich. In diesem Rauschen ist Eichendorffs „heimlich Lied von Leide“ („Am Strom“) zu hören, verspricht Wilhelm Müllers „Lindenbaum“ Ruhe, ertönt Peter Hilles „Waldstimme“. Das lyrische Ich sinniert: Was wäre, hätte ich ehedem – „vor vielhundert Jahren“ – gelebt? Rosenlöcher verweist seinen gedankenvoll ins Wasser Spuckenden (der Heinesche „Narr“, der angesichts des nächtlichen Meeres nach dem Rätsel des Lebens fragt, scheint ihm über die Schulter zu schauen) auf die Gegenwart.
Für sie gilt es Mut zu fassen, angesichts voran-, doch immer wieder auch schiefgehender Geschichte.
Zuversicht erfährt der „Mutschöpfer“, so der Titel eines in seinem Zuspruch durchaus den Band repräsentierenden Sonetts, indem er sich der Natur öffnet. Doch reicht dies aus?

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 4, April 1983

Die Welt soll blühen

Da besingt ein neuer, mit 35 Jahren nicht mehr ganz junger Dichter in Blankversen leise den blühenden Baum in seinem Garten. Wer wird ihn hören inmitten des Lärms, der schon hier ganz in der Nähe schmerzhaft zu hören ist? Seine Kollegen haben da oft andere Erfolgsrezepte. Sie setzen auf die eigene forsche Selbstsicherheit, auf ihren vermeintlich unverwechselbaren Ton, auf die unerhörte Neuartigkeit ihrer Botschaft. Andere setzen gar der Lautheit draußen die Tonstärke moderner Musikinstrumente entgegen, das leise lyrische Wort vermittelt durch harten Rock. Die Chance für den Mann aus Kleinzschachwitz scheint gering. Alte Weisen in einem schmalen Bändchen in geringer Stückzahl. Der Verlag hat wenig Papier, vielleicht auch wenig Hoffnung. Und ist es mit dem Dichter so anders?
Er scheint sich seines fragwürdigen Tuns bewußt, stilisiert sich, „den Ellenbogen aufgestützt“, in der Gebärde des berühmten mittelalterlichen Sängers, möchte, daß der Baum in seinem „unerhörten Blühen“ die Länder wechseln könne und irgendwo wieder, wie hier, einem anderen, mit gleichem Empfinden, in gleicher Gebärde, ein anderes, „blühendes“ Leben verheiße. Dieses Eingangsgedicht gar als Programm? Wie schnell wäre da sein Autor abgeurteilt: Narzissmus, Poesie fernab aller Realität. Gewiß: Rosenlöcher bekennt sich in einem Aufsatz, der den Band beschließt, zu Eichendorff, der seinen Sänger auf den höchsten Wipfel eines Tannenbaums hoch auf dem Berg geschickt hatte, um ihn von dort jubilieren zu lassen:

O Welt, du schöne Welt du
man sieht dich vor Blüten kaum.

Doch Rosenlöcher hat in solchen altvertrauten Versen des Freiherrn den Zwiespalt zwischen der verlockenden Harmonie des fernen (räumlich und zeitlich entfernten) Lebens und dem Graunächtlichen des nahen, gegenwärtigen erkannt, einen Zwiespalt, der seine Wanderer schon damals so irre machte, daß daraus „kein Lied geworden, nach gern es sich unbekümmert in die Welt wandern ließe“. Aber dies ist es nicht allein, was den Jungen heute anzieht. Es ist die fast grenzenlose Weite des Eichendorff-Rauten geworden sind und wir sie nicht entbehren können, nicht bloß aus Sehnsucht nach alter Poesie. Dennoch verzichtet Rosenlöcher auf das anklagende Umwelt-Gedicht, bricht das aktuelle Thema durch die Art seiner Darbietung, so in der „Hymne“ auf die Kraftwerk-Kathedrale, aus der die Wälder der Vorzeit zum Himmel auffahren, oder in der Groteske, einem Monolog aus 31 Langzeilen „Die Entleerung“, in dem in einem an Rabelais erinnernden gewaltigen Verdauungsvorgang ein Mensch den Inhalt eines Sees – Kinderwagen und Drahtverhau – in sich verarbeitet… Das Ziel des Dichters ist weiter. Man nähme schon dieses erste Gedicht zu leicht, läse man es nur als ironische Selbstbespiegelung eines verträumten Poeten. Der unerhört blühende Baum über alle Ländergrenzen hinweg: das ist nicht bloß hoffnungslos romantisch, sondern auch inständig, fast verzweifelt bittend. „Die Welt soll blühen“: Das ist heute schon längst keine poetische Formel mehr, auch keine Propaganda für eine neue Biologie, nicht nur ein Slogan der Umweltschützer, sondern ein leiser, schwacher, zweifelnder, sich dennoch behauptender, trotziger Ruf an die Aufgestörten, Beunruhigten überall. In einem der letzten Gedichte des Bandes vergeht einem der Gedanke an alle Poesie, so sehr die Verse noch immer gebändigt, fast gelassen daherkommen, die Szenerie sich äußerlich kaum geändert hat. Aber das ist der letzte Tag solch weltumspannenden hohen Blühns:

… wo eben noch die Engel sangen… Ich kochte grad Kaffee
packte mein Zeug, sah noch einmal den Baum
der noch dastand, als wäre immer Frieden.

Und dennoch ist dies nicht das allerletzte Wort. Selbst wenn die Bäume vor Alter schief geworden, ihr Weiß nur „Wirrnis“ ist und Stille, die Engel nicht mehr singen, sondern sterben, behauptet sich in scheuer, intimer, noch immer an das ferne Blühen gemahnender Gebärde der einzelne:

… und wollte leben
als ob nichts geschehe
nur endlich nackt sein also dich berühren
aus aller Kraft und lauter Zartheit Schnee.

Daß das unerhörte Blühen des Baumes aufhören kann von einem Tag zum anderen, daß das Weiße sich in Wirrnis und Starre wandeln kann, bleibt immer gegenwärtig.  Aber solcher  Wirrnis und Starre setzt Rosenlöcher immer wieder den Glauben und die Kraft seines kleinen Lebens entgegen. Er weiß um seine Schwäche, ist der unentwegt wetzende Hase, der immer später als der Igel da ist und dennoch nie die Hoffnung aufgibt, „auch einst vom Wortkohl der Weisheit zu fressen“. Er wäre so gern immer noch ein Eichendorffscher Taugenichts und weiß doch, daß es heute nicht mehr ohne weiteres losgehen kann in ein Märchenland wie Italien. Selbst wenn sich die Beine vom heimischen Garten bei Kleinzschachwitz über siebenzig Meilen und mehr ausdehnten – den „weitgereisten Füßen… geschah’s, daß sie von selber stillestanden… knapp vorm Brandenburger Tor…“ Das mag nur Jux sein, ein bißchen bitter. Der Weg ist jedoch in einem tieferen Sinn verstellt. Mag es gleich im nahen „Friedrichsgrund“ noch die Mühle und das Mühlenrad, den Bach und die Brücke darüber geben, für Poesie ist heute auch da kein Platz mehr: Der Vater, schon zwölf Jahre tot, „in seinem Hemd aus Nylon und im Schlips“, vertreibt den Dichter ebenso wie das Paar, das sich da „beträchtlich rührt“ und dabei vielleicht neues Leben schafft.
Immer wieder gerät man so unversehens von der Poesie in die Realität oder genauer, das scheinbar bloß Poetische enthält das Nüchterne, Notwendige. Solche Übergänge vom Spiel, vom Witz, von Ironie ins Ernste, Bedrückende, Bedrohliche findet man im einzelnen Gedicht, aber auch von einem Gedicht zum motivverwandten nächsten. Eben wird noch in Klopstockscher Manier die Klopapierrolle besungen, die Seife, die eigene Nase oder der hurtig laufende Fußballschiedsrichter in seinen „schwärzlichen Socken“, – er läuft im Takt des ihn beschreibenden Hexameters – der gleiche daherstelzende Vers stellt eben noch eine Hausfrau freundlich vor uns hin, da steht, in gleicher Manier und Tonart, schon der unsichtbare Sensenmann von heute vor uns, der so reichlich Ernte auf unseren Straßen macht:

… keiner
sieht ihn mit schlenkerndem Fuß fortgehen, denn seine Funktion
erledigt der Hauptbuchhalter des Instituts für Bestattung
.

Doch nicht um solche Groteske geht es am Ende, nicht um den anonymen Tod, sondern um den anonymen Toten, der, eben noch mitten unter uns, „bevor er für immer / in die geheime Bilanz fast spurlos eingeht, aufschreit“. Auch wenn der Dichter unter seinem Baum träumen mag, er behält diesen Schrei im Ohr und möchte ihn an die hastig weiterlaufenden, nur einen Augenblick neugierigen Passanten weitergeben.
Immer wieder mischt sich das Elegische  ins Idyllische. Das gilt auch für den Himmel und das Licht, das von oben kommt. Auch sie gehören zur Welt Eichendorffs, seinem unendlichen Raum der Verheissung. Und Rosenlöcher gebraucht sie, um auch seine Gartenwelt zu dehnen, das Dunkel um sie aufzuhellen, auch hier einen Raum der Verheißung zu finden.
Zwar scheint ein so selbstverständlich erdentrückender Aufstieg wie dem Eichendorff-Sänger natürlich nicht möglich, noch nicht:

ins jubelnde Licht
dereinst, doch jetzt heißt es handeln, behender, an dünneren Ästen.

Zwar legt sich in der „Angedunkelten Romanze“ der Schatten am Ende über die erst lichtüberflutete Stadt, so surreal-„spanisch“ es da  auch zugehen mag. Zwar kommen die Lichtbringer, zwei Engel, auch heute, wie damals vor Sodoms Ende, auf die Erde immer noch zu früh, obwohl die Stadt voller Gerechter ist – aber sie werden dennoch von einigen Herren („und ihre Mützen changierten im letzten streunenden Glanz“) mitgenommen… Zwar hat Dädalus ganz auf den Himmel verzichtet und kraucht statt dessen, mit seinen hölzernen Flügeln klappernd, auf die kleinen Ikarusse oben lästernd, eher ziellos auf der Erde dahin. Zwar hat selbst Odysseus als Herr seiner Insel längst die Himmel und Horizonte seiner langen Heimfahrt vergessen, wandelt Land und Leute nach seinem engstirnigen Bild, so daß beide versteinern, hat weder den Blick noch das Gewissen, als „eines Nachts, als sich der Himmel / wie sonst nie überm Ozean weitete / … ein schwaches Licht auf dieses Eiland fiel.“
Und dennoch verliert der Dichter nicht seinen Glauben, verliert seine leise Stimme nicht ihre Intensität, so daß auch die meist gebrauchten Langzeilen nie prosaisch wirken. Gerade weil das Licht schwach geworden, ja in Gefahr ist, ganz zu verlöschen. Er vertraut, so unglücklich die Umstände auch geworden sein mögen, den einzelnen, weil sie trotz aller Dunkelheiten immer noch den blühenden Baum sehen können. Im feierlichen Gang des Sonetts preist er solchen „Mutschöpfer“, der trotz des schiefen Ganges der Weltgeschichte sein Staunen nicht verloren hat, sobald sich erstes Grün nur zeigt:

Licht  schluckend schöpft er Mut
als käm die Zeit, als würde alles gut.

Man hörte schlecht, wollte man sich da gleich an eine „lyrische Hausapotheke“ erinnern. Und wenn der so leichtfertig begonnene Bummel durch die Heimatstadt, in graziösen gereimten Doppelversen vorgetragen, bald die widersprüchlichsten Gefühle entfacht, durch die Touristen, die Fußballfans, den schmutzig lackierten Fluß, aber auch den Zwinger, die Fontänen und vor allem die grünenden Hänge, so ist die fantastische Himmelfahrt der ganzen Stadt, mit dem Dichter als Kapitän „auf dem barocken Tanker“, um, „was uns versprochen ist, endgültig abzuholen“, auch nicht nur das verantwortungsfreie Träumen, das Luftgespinst eines vielleicht sympathischen, aber schließlich harmlosen Gartenpoeten. Es ist kein Himmel „mit Wolken reich bebildert“, es ist ein Himmel „voller Lichtgewitter“, kaum auszuhalten.
Gewiß: Härte, Stärke oder gar ein Programm, das alles hat dieser Dichter nicht zur Verfügung. Er vertraut kaum seinen intimen lyrischen Versen. Er weiß um ihre Flüchtigkeit, ja vielleicht Vergeblichkeit inmitten einer Welt voller harter Tatsachen. Scheu, schamhaft bringt er seine Sorgen und seine Hoffnungen vor. Er flüchtet gar manchmal in die Rolle des Poeten. Die ist weder eitel noch brillant. Der Dichter will und kann weder sarkastisch sein noch hämisch und verbittert (ein Vorrecht der Alten?), aber auch nicht von jenem zweifelsfreien Rigorismus, mit dem sich andere seines Alters Gehör verschaffen wollen. Mag es ihm auch an Erfahrung und natürlich an Weisheit fehlen, mag ihm sein Dichten nie ohne Skrupel möglich sein, die Intensität seiner Botschaften läßt kaum nach. Dies besonders dann, wenn er an die empfindsame Kraft des einzelnen glaubt, der trotz allem an das unaufhörliche Blühen immer wieder zu hoffen vermag und auf dieser verletzten, gefährdeten Welt noch immer unter dem Licht des Himmels seine Heimstatt hat.
Ob die intensive, insistierende Stärke dieser eher leisen, scheuen Stimme ausreicht, die Leser hörend und sehend zu machen?

Gerhard Rothbauer, Sinn und Form, Heft 5, 1983

Dankbarkeitsstaunen

Mit 12 Jahren erste Kontakte zu Heinrich Heine (Buch der Lieder). Dann jahrelang Eichendorff (Eichendorff noch heute).
Mit 21 meine Frau. Bald nach der Eheschließung (expressionistische Phase) erklärte sie einem Vertreter des VEB Holzhandels Dresden, daß ich für den Holzhandel zu schade und eigentlich Dichter sei.
Mit 32 war es soweit. Nicht mit dem Dichter; Dichter wird man nie und darf höchstens träumen, einer zu werden, um vielleicht doch einmal einer zu sein. Nein, nur ein Buch war hervorgebracht. Allerdings ein Buch mit Gedichten. Gedichte galten damals etwas. Gab es da doch noch weniger Sinnersatzmittel, der Sinnsuche zu entgehen. Und selbst wenn Gedichte auch damals nichts galten, so fragte der liebe Gott doch danach. Zumindest meine Frau war der Meinung, daß, wenn nicht auf Erden, so doch im Himmel, Gedichte das Höchste sind, das der Mensch hervorbringen kann.
„Ich habe ein Buch bekommen“, sagte ich zu ihr, als ich auf dem Buch meinen Namen entdeckte. Der Satz ist verräterisch. Ein Buch zu bekommen war ein staatlicher Gnadenakt. Und dankbar autorisierte der Autor die Autorisierung von seiten des Staats. Und doch war mit dem Satz noch etwas anderes gemeint. Nicht umsonst verspüre ich noch heute dieses Dankbarkeitsstaunen. Wenn ich mit Hilfe meiner Frau endlich wieder einmal ein Paket öffnen darf, in dem sich kein Buch befindet, das andere geschrieben haben, denn davon haben wir wirklich genug, sondern das eigene, das gar nicht oft genug vorkommen kann. Selbst Honorarverzicht wird da für möglich gehalten. Denn obwohl das Buch auch dieses Mal wieder nur ein Schmalbuch geworden ist, hätte ich mir eigentlich nicht einmal das zugetraut. Bin also eigentlich gar nicht der Autor, sondern ein anderer Autor hat mir das Werk zugeschanzt. Auch daher dieses Dankbarkeitsstaunen; ein weihnachtliches Bescherungsgefühl, das mich zu meiner Frau sagen läßt: „Ich habe ein Buch bekommen.“

Ehe überhaupt an ein Buch zu denken war, mußte ich allerdings erst einmal den Damen des Mitteldeutschen Verlages entkommen (bis heute scheint das Wort mitteldeutsch Mittelmäßigkeit nach sich zu ziehen). Leider hatten sie davon gehört, daß Kürze und Genauigkeit zur Poesie gehören. In ihrem mütterlichen Eifer konnten sie einen lebenslang mit Änderungsvorschlägen quälen. Zum Glück aber gab es zwei Außenlektoren, die – obwohl selber Schriftsteller – mehr von mir verstanden als ich (Sächsische Dichterschule). Und die mir zu bedeuten wußten, welches Gedicht lieber nicht am Anfang stehen sollte. In Anbetracht der Müdigkeit, die den Leser von Gedichten bald nach den ersten Gedichten befällt und die auch vor der Behörde nicht haltgemacht haben wird.
Ob man das Buch auch wirklich bekam, blieb gleichwohl bis zuletzt unsicher. Selbst die beiden – nicht umsonst in Abwesenheit meiner Frau aufgetauchten – Herren hatten da ihre Zweifel. Falls ich jedoch in Fragen der Lyrik mit Kenntnissen zur Verfügung stand, wollten sie sich ihrerseits für das fragliche Buch einsetzen.
„Wenn du noch einmal mit denen sprichst, lasse ich mich scheiden“, lautete der Bescheid meiner Frau. Nicht nur vor dem VEB Holzhandel Dresden, auch vor der Firma hat sie mich gerettet, dem VEB Horch und Guck. Und weil sie noch immer mein Schutzengel ist, versucht sie mich noch heute vor dem Betrieb zu bewahren. „Schreib endlich wieder Gedichte“, sagt sie. „Der liebe Gott fragt nach Gedichten. Vor allem nach Gedichten fragt der liebe Gott.“

Auch beim hauptstädtischen Aufbau-Verlag hatte ein Bündel Gedichte für eine Weile geschmort (danteske Phase). In meiner vorausgegangenen homerischen Phase hatte ich nichts als Homer gelesen und schließlich sogar im Schlaf hexametert. (Indessen träum ich nur noch jambisch. Und wenn ich mich nun nach Jahrzehnten in meiner Traumpraxis um größere metrische Vielfalt bemühe, so weist der frostige Zeilenbruchstil auch schon auf das Alter voraus.)
Noch früh am Morgen habe ich damals meine Frau zu behexametern versucht: „Eile, du Holde, und bring mir ein zärtlich bereitetes Frühstück.“ – Was nicht kam, war das Frühstück (emanzipatorische Phase). Was ich aber merkte, war, daß ich diesen mythologischen, für Götter und Schädelspaltereien zuständigen Rattervers auch auf meine kleine Welt anwenden konnte. Wenn fast alles banal ist, ist das Banale fast alles. Und selbst das Banale ist nicht banal und hat einen mythischen Kern: Die widerborstig borstige Zahnbürste. Die Seife, die, sich verschwendend, verschwindet.

Und doch war mein hexameterndes Frühwerk in der Hauptstadt abgelehnt worden. Wegen sächsischen Humors. Obwohl ich nicht einmal ahnte, daß es dergleichen überhaupt gab. Schon das Wort sächsisch war mir eher fremd, Weil alle Welt sächsisch war, abgesehen von einigen Preußen, gelegentlichen Küstenbewohnern und jährlichem Westbesuch. Nicht, daß mir die große Welt überhaupt nicht gefehlt hätte. Im Gegenteil: Auch weil sie mir fehlte, versuchte ich sie im Kleinen zu finden. Gab es doch in Deutschland immer Leute, die beispielsweise Mörike hießen und gerade aus der Beengtheit heraus ihr Ich zu bewahren versuchten. Soviel ahnte ich jedenfalls schon, daß einer aus Kleinzschachwitz unmöglich nach Art der Berliner Avantgardisten direkt aus New York kommen konnte.
Mit spitzen Fingern schob mir Frau Töpelmann, die Cheflektorin des Aufbau-Verlages, den Stapel mit Gedichten über den Schreibtisch entgegen. Daß ich nicht sofort zugriff, hing mit meinem inneren Zustand zusammen. Eine derartige Ablehnung ist nun einmal einer Hinrichtung ähnlich.
Auf eine durchaus poetische Weise schwebten die Blätter mit den Gedichten durch das Cheflektorat. Nun ist es gewiß auch ein Glück, wenn wir im Verlauf unserer Existenz meist gar nicht merken, wie oft wir im Verlauf unserer Existenz unsere Existenz figurieren: Auf allen vieren unterhalb der regungslos am Schreibtisch verharrenden Cheflektorin mein Frühwerk einsammelnd, stellte ich die wirkliche Stellung der Literatur, insonderheit der Lyrik, an mir selber dar. Und mich nun auch noch in den Tunnel ihres Schreibtischs wagend, um das Gedicht „Ich bin der Hase mit den langen Ohren“ vorsichtig unter den Spitzen ihrer Stöckelschuh vorzuziehen, ausgerechnet in dem Moment, als sie die Schuh vorsetzte und das Gedicht abermals arretierte – war ich natürlich auch ein Beispiel für sächsischen Humor. – Der als Humor auf eigene Kosten auch auf seine Kosten zu kommen versucht. Doch wer sich für unterlegen ausgibt, wird oft für unterlegen gehalten und manchmal auch dementsprechend behandelt. Sächsischer Humor ist also eine durch und durch ruinöse Form des Verhaltens.
Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, daß die unterdessen von draußen hereingekommene Nachwuchslektorin mir doch noch half, mein Frühwerk zu bergen. Nach beiderseitigem Appell an Frau Töpelmann gelang es uns sogar, den perforierten Hasen aus der Absatzfalle zu ziehen.

Freilich hat es auch sein Gutes, wenn nicht immer alles gleich gedruckt wird. Noch Unter den Linden kaufte ich mir eine Tabakspfeife. Als nicht autorisierter Autor wollte ich wenigstens wie ein Autor aussehen. Im übrigen aber beschloß ich, auf die Hauptstadt zu pfeifen. Wenn ich meine Frau recht verstand, hatte Poesie auf Erden ohnehin keine bleibende Statt. In den jambischen Innerlichkeitstonfall wechselnd, entwarf ich mein erstes Kleinzschachwitzgedicht, in dem ich meinen Apfelbaum zum Mittelpunkt der Welt erklärte und gleichwohl der Hoffnung Ausdruck verlieh, daß er im Gegensatz zu mir die Länder wechseln könne (Vogelweide-Phase). Seither bezeichne ich mich gelegentlich selbst als Idylliker. Für die bis nach Kleinzschachwitz hereinreichenden Avantgardisten war ich ohnehin ein Gartenzwergdichter. Selbst wenn sie bei uns in Kleinzschachwitz auftraten, haben sie mich nie gefragt, ob ich nicht ebenfalls etwas vorlesen wolle. Nur mein Stehpult habe ich ihnen zur Verfügung stellen gedurft. Gerade weil und obwohl ich bereits ein Buch bekommen hatte. Wie konnte ich das Buch aber auch Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz nennen? Die sogenannte Wirkungsgeschichte ist vor allem eine Leidensgeschichte. Wobei ich damals allerdings eher stolz darauf war, überhaupt mit dabeisein zu dürfen. Selbst wenn ein gewisser Sascha auftauchte und am nächsten Tag die Gardinenstange fehlte, verteidigte ich die Entfernung dieses bürgerlichen Relikts.
Daß ich mich noch in Versen ausdrückte, war auch mehr von alters her (Sächsische Dichterschule). Hier erging es mir freilich wie einem, der seine Hosen nicht ablegen will. Irgendwann sind sie wieder modern. Nur, daß die mit den neuen Althosen meine angestammten Hosen für eine modische Kopie ihrer Originalhosen halten.

Wenn ich ein Buch bekommen habe, versuche ich Buchhandlungen jahrelang zu meiden. Und wenn ich doch hineingerate, umgehe ich im Regal wenigstens den Buchstaben R. Der Autor, der einen Buchladen betritt, ähnelt einem Gespenst, das auf dem Friedhof feststellen muß, daß sein Grabstein schon wieder entfernt worden ist. Als ich mein erstes Buch bekam, ging das freilich umgekehrt. Da bin ich von Kleinzschachwitz aus gleich mehrmals pro Woche in die Stadt gefahren. Nicht nur, um nachzusehen, ob das Buch vorhanden war, sondern auch, um nachzusehen, ob das Buch verschwand. Nur wenn es bald wieder verschwand, war es ein anständiges Buch. Wer nach zehn oder gar vierzehn Tagen immer noch im Laden lag, gehörte mit jedem weiteren Tag, an dem er immer noch im Laden lag, allmählich zu denen, die immer im Laden herumlagen und nach einem dreiviertel Jahr Johannes R. Becher hießen.
„Suchen Sie was?
„Einen gewissen Rosenlöcher.“
„Namen gibts.
„Gestern lag er noch hier. Mehrmals sogar.“
„Nu, dann is er naus.“
„Liegt nicht irgendwo noch einer herum? Hinten im Lager oder unter der Ladentafel?“
„Naus is naus, junger Mann.“ –

Großes Dankbarkeitsstaunen. Obwohl die meisten Bekannten und Freunde sich zu meinem Buch mit keinem Wort geäußert hatten, ja genau genommen bis heute nichts sagen; zum Geburtstag zwar Schaffenskraft und viele gute Einfälle wünschen, ansonsten aber unsereinen lebenslang im Zweifel lassen, ob sie je auch nur eine Zeile gelesen haben – konnte ich damals beim besten Willen im gesamten Bezirk Dresden, ja sogar im Bezirk Karl-Marx-Stadt nicht ein einziges Buch mehr finden. Galten Gedichte damals wirklich noch etwas? Oder war der liebe Gott im Ostblock noch persönlich durch die Buchläden gegangen, um diesen und jenen Lyrikband gnädig in seinen Einkaufsbeutel zu stecken? Auch die zweite Auflage – nochmals die üblichen 2000 Stück, worauf vorsorglich das Papier alle war – verschwand derart rasch, daß ich selbst die Nachbestellung verpaßte.
Mein letztes Exemplar habe ich vor einiger Zeit ausgerechnet Herrn Faber, dem ehemaligen Chef des Berliner Aufbau-Verlages, zukommen lassen. Immerhin gab der Ebenfalls-Sachse, der gegen gelegentlichen sächsischen Humor gewiß nichts einzuwenden hatte, in Leipzig eine Reihe mit längst vergriffenen Erstlingsbänden heraus. Was für eine Möglichkeit, ohne den geringsten Aufwand endlich wieder einmal ein Buch zu bekommen! Obwohl ich Buchmessen ebenfalls meide, bin ich sogar extra nach Leipzig gefahren, doch Faber sprach fortwährend von irgendeinem anderen Buch, das noch nicht mal geschrieben war – wußte der Mann denn gar nicht, wie schwer mir das Schreiben fiel? Erst beim Abschied wagte ich es, ihn nach meinem Altbuch zu fragen.
„Oh“, sagte er. „Da werden Sie noch arbeiten müssen.“
„Woran?“ fragte ich und hatte schon wieder dieses Hinrichtungsgefühl.
„An Ihrer Klassizidäd“, sagte er.

Nun, sächsischer Humor war das nicht. Sächsischer Humor geht nicht auf andere, das heißt, auf meine Kosten. Und doch hat es auch sein Gutes, wenn nicht immer alles gleich gedruckt wird. Noch auf dem Leipziger Hauptbahnhof kaufte ich mir eine Tabakspfeife. „Na endlich“, sagte meine Frau, als sie die Rauchentwicklung sah. Der liebe Gott fragte nun mal nach Gedichten. Ausschließlich nach Gedichten fragte der liebe Gott. – Nur fraglich, ob der, den Gott las, deshalb gleich auf Klassizität pochen konnte.

Thomas Rosenlöcher, aus: Renatus Deckert (Hrsg.): Das erste Buch, Suhrkamp Verlag, 2007

„Ich habe ein Buch bekommen!“

– Literarischer Abend im Huchelhaus: Der Lyriker Thomas Rosenlöcher über sein Erstlingswerk. –

„Schreib endlich wieder Gedichte, der liebe Gott fragt danach!“ Mit diesem sanften Begehren trieb die Gattin des Lyrikers Thomas Rosenlöcher denselben immer wieder zu neuen literarischen Produktionen an. Er war zwar nicht faul, aber mal ging es, mal nicht. So war zwischen seinem Erstling Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1982) und den folgenden „Schmalbänden“ eine gar lange Zeit. Rosenlöcher („Namen gibt’s“, wunderte sich mancher) galt in der DDR als Außenseiter, nicht nur, weil er Klopapier, Zahnbürste („Mundbesen“) und Seife in gutem Versmaß besang. Er war einer, der sich lange Beine wachsen ließ. Sie brachten „den Staat“ sofort in arge Bedrängnis, weil sie schnurstracks ins ungeliebte Berlin marschierten. Kurz vor dem Brandenburger Tor hielt diese „Verlängerung“ ein – Endzeile des Gedichts: Man muss bescheiden sein. Er ist einer mit Format auch heute, auch wenn sein Œuvre nicht gerade nach Metern misst. Angefangen hat er wie alle anderen im Dresdener Garten bei Kleinzschachwitz, wo er nicht etwa den Fortschritt, sondern seinen Apfelbaum zum Mittelpunkt der Welt erklärte. Er verweigerte Herausgeber Renatus Deckert auch keine Antwort, als es darum ging, die Anthologie Mein Erstling vorzubereiten. Beide trafen jüngst im Wilhelmshorster Huchelhaus zu einem belebenden literarischen Abend zusammen.
Gelesen hat Thomas Rosenlöcher, Jahrgang 1947, schon sehr früh. Heines Buch der Lieder zuerst, vieles danach, bis sich sein literarisches Dasein in Phasen gliedern ließ: romantisch, homerisch, emanzipatorisch, expressionistisch, eine sozialistische war wohl nicht dabei. Wie wenig man als Debütant auch ein „autorisierter Autor“ war und ist, schildert sein sehr persönlicher Erstlingsbericht. Vom Berliner Aufbauverlag abgewiesen, vom Mitteldeutschen gegängelt, kam die sächsische Sache dort doch noch zustande. Wie Frauen eine Geburt bejubeln, so auch er: „Ich habe ein Buch bekommen!“, doch bald merkte der 32-jährige, dass nicht einmal seine Freunde „Kleinzschachwitz“ gelesen hatten. Auch in den Läden gab es das Werklein bald nicht mehr, er hat heute nicht mal einen eigenen Beleg seines Debüts.
Weil da noch was „frei“ war, studierte er zuerst etwas Ökonomie, dann das Literaturinstitut in Leipzig, alles mit sächsischem Humor und voller „Dankbarkeitsstaunen“. Der Mann ist ungeheuer sympathisch, was er sagt, hat Substanz, seine Zunge braucht weder Umweg noch doppelten Boden. Staunend und schmunzelnd hörte das Publikum seine alten und neuen Gedichte, auch Prosa, darin viel Lyrisches ist: Wie er etwa zu Meißen im Brautzug von Ludwig Richter verschwand oder aus seinem neuen Buch Das Flockenkarussell, oder wie er beim Hauskauf durch eine redende Mumie im Obergeschoss nur den halben Preis bezahlen musste. Er lebt seit langem im Erzgebirge. Trotzdem mischte er in der aktuelle Diskussion um den neuen Elbübergang mit literarischen Mitteln („Die Brücke“) mit, sein melancholischer Kommentar: „Vielleicht muss man seine Vaterstadt wirklich verlassen, es geht einem viel zu nahe!“
Renatus Deckert, selbst Lyriker, führte ein richtig gutes Fachgespräch, von dem auch die Zuhörer etwas hatten. Man hörte von Rosenlöchers Vorliebe für den Hexameter, von seiner Sehnsucht, „in mehreren Zeiten gleichzeitig zu leben“, deshalb vielleicht der Hang zu Bobrowski und Huchel. Sein Naturell ist lyrisch, romantisch, sentimental, ein Sachse eben, und solche scheint der liebe Gott zu mögen – so sie nur dichten.

Gerold Paul, Potsdamer Neueste Nachrichten, 27.5.2008

Gespräch mit Thomas Rosenlöcher

– Am 13. Dezember 1987 führte Oscar van Weerdenburg in Dresden das folgende Gespräch mit Thomas Rosenlöcher. –

Oscar van Weerdenburg: Geht man Ihre Texte durch, so fällt auf, daß Sie einer naturlyrischen Tradition stark verpflichtet bleiben. Der Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz endet mit einem Essay über Eichendorff, in dem Sie sich einerseits von Eichendorff abgrenzen: „durch die steinernen Wälder führt kein Weg zurück“, heißt es dort, andererseits jedoch die Eichendorffsche Hoffnung auf eine neue Harmonie zwischen Mensch und Natur nicht ganz aufgeben. Wo würden Sie eine Grenze zwischen Ihrer und Eichendorffs Lyrik ziehen?

Thomas Rosenlöcher: Ich habe eigentlich schon als kleiner Junge angefangen, Naturgedichte zu schreiben, und hatte, als ich ernsthafte Gedichte schrieb, zunehmend ein schlechtes Gewissen dabei, weil ich dachte: das ist ja völlig weit weg von der Wirklichkeit. Man kann nicht ununterbrochen über Bäume oder so was schreiben. Das ist auch sehr einfach, weil die ja ihre Aura haben. Man bedient sich einiger Dinge, die von vornherein den lyrischen Touch haben, und macht es sich vielleicht zu leicht damit. Man reagiert nicht mehr auf die Wirklichkeit; flieht eigentlich. Das hat sich u.a. durch eine Bemerkung von einem Lehrer gelegt, der meinte, daß man damit vielleicht nur ein Recht einklagt. Mein schlechtes Gewissen muß ich nicht haben, indem ich eine Art Lebensrecht einklage; das Recht, Natur zu haben. Seitdem habe ich ein besseres Gefühl. Erstmal rein theoretisch, beim Schreiben hatte ich ohnehin ein gutes Gefühl gehabt, aber im Nachhinein hatte ich immer ein Unbehagen.
Nun ist es aber natürlich so, daß da trotzdem eine Gefahr besteht, indem man idealisiert. Andererseits finde ich aber, daß gerade in dem Naturidyll die Zerstörungen am ehesten sichtbar werden. In der Gegend zum Beispiel, in der ich wohne, ist es noch verhältnismäßig heil, aber gleichzeitig ist dort Zerstörung noch viel sichtbarer als in einer Gegend, die sowieso schon am Ende ist. Das tut dort weher, und ich bin dann eher zum Schreiben gekommen.

Weerdenburg: Sind nun aber Eichendorffs Theoreme unter diesem neuen Verhältnis zur Natur noch haltbar?

Rosenlöcher: Da bin ich zwiespältig. Ich kann das nicht einfach als gelöst betrachten. Ich wünsche mir diese Eichendorffsche Welt; dieses „Lied“, das „in allen Dingen schläft“, ist auch in meiner Nebenniere vorhanden. Von da aus möchte ich immer suchen. Man muß das suchen dürfen; es gehört zum Menschen. Gleichzeitig muß das Gedicht wissen, wie fern das ist, wie bedroht, wie zerbrechlich. Dadurch müßte, wenn ich ein gutes Gedicht schriebe, eine andere Schärfe, ein anderer Ton hinzukommen.

Weerdenburg: Ich hatte Gelegenheit, mir Ihren neuen Gedichtband schon mal anzusehen, und wenn ich nun diese beiden Bände vergleiche, so fällt auf, daß der Ton im zweiten Band viel dunkler geworden ist. In Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz stehen Gedichte wie „Kraftwerk“, das ja nun gar nicht mehr Eichendorff ist, und „Behausung“ nebeneinander. Im neuen Gedichtband dagegen gibt es ein solches Nebeneinander seltener, ja erscheint die Natur, also das, was früher das Andere war, jetzt als Verdoppelung des Menschen in der Gestalt des früher Anderen. Ein Beispiel: der Stromgeist erscheint jetzt als „erster Sekretär des Fortschritts“.

Rosenlöcher: Dieses Insistieren auf Zukunft, das in der Erziehung angelegt ist und immer noch sehr weitgehend akzeptiert wird, lehne ich ab. Im Grunde weiß man schon längst, daß es keine vollkommene Gesellschaft gibt. Dennoch ist diese Pflicht zum Überschreiten des jetzigen Gesellschaftszustands irgendwie eingepflanzt. Früher kam dazu noch die Hoffnung, daß dann was ganz anderes käme; das ganz Andere, was sozusagen drei Schritte weiter sein könnte. Inzwischen scheint mir das gefährlich zu sein; es wäre für mich etwas ganz Großes, wenigstens den Augenblick zu retten. Es ist vielmehr der Augenblick selbst geworden, das, was ich jetzt noch leben kann und was meine Kinder natürlich auch noch leben sollen und insofern schon wieder Zukunft ist, aber nicht als das ganz und gar Andere. Vielmehr ist es eine große Utopie, leben zu dürfen. Überhaupt: daß Dinge lebbar sind und unsere Umgebung uns so weit bliebe, daß wir einfach leben können. Das wäre für mich eine viel größere Utopie als eine hohe Transzendenz.

Weerdenburg: Es sind also nicht länger romantische Konzepte, wie das Heimgehen des Menschen in die Natur oder die triadische Geschichte des menschlichen Geistes?

Rosenlöcher: Nein, das hat sich bei mir doch überholt. Irgendwann sagt man es theoretisch, und früher hat man einfach Gedichte geschrieben.

Weerdenburg: Eine letzte Frage zur Naturlyrik wäre: Warum Eichendorff und nicht Hölderlin? Der Zweifel an einer neuen Harmonie zwischen Mensch und Natur spricht sich ja am deutlichsten beim späten Hölderlin aus.

Rosenlöcher: Das ist eine Sache des Tons. Der Eichendorff-Ton ist für mich der Ton, der mich getroffen hat. Da hat, glaube ich, jeder sein Grunderlebnis. Das war bei mir auch Hölderlin, aber Hölderlin war mehr wie Weintrinken, da war ich ganz high. Das hat sich immer wieder verloren. Ich muß immer wieder erst in Hölderlin-Stimmung kommen, während Eichendorff mich sofort trifft. Diese eigentümlichen Liedzeilen mich sofort treffen. Ich kann das eigentlich nicht begründen.
Dann muß man natürlich auch sagen, daß Eichendorff nicht so heil ist. Diese Konjunktive sind bei Eichendorff längst da. Ich denke z.B. an dieses berühmte: „Als flöge sie nach Haus“. Bei ihm spürt man eine Verwirrung angesichts der Schönheit. Das Verwirrtsein, Angsthaben zeigt, daß man es sich zu leicht macht, wenn man ihm ein triadisches Weltbild unterstellt. Ich habe ihm das im Aufsatz auch unterstellt, da war vielleicht noch das bißchen, was ich wollte, drin. Es spricht sich eben auch eine Furcht vor Veränderung aus, eine Angst vor plötzlichen Aufbrüchen. Die Schönheit wird gesucht, gleichzeitig aber abgelehnt. Sie ist die Nixe, die einen dann doch runterzieht. Das ist bestimmt auch tiefenpsychologisch begründet, daß man Angst hat vor Dingen, die man nicht kennt.

Weerdenburg: Spielte bei dieser Wahl für Eichendorff auch eine Rolle, daß Hölderlins „pontifikaler Ton“ in der DDR einen schweren Stand hatte?

Rosenlöcher: Ja, indem wir von Brecht her Becher sehr früh abgelehnt haben, eigentlich auch schon in der Schule, die ihn mochte. Brecht konnten wir akzeptieren, weil er auch einer war, der Fragen stellte und „Lob des Zweifels“ geschrieben hatte. Das waren ja ungeheuer wichtige Gedichte. Damit war sofort eine aufklärerische, kommunikative Redeweise von der ganzen Leseerfahrung vorgegeben.
Das ist im Westen etwas anders gewesen, aber der Zugang zur modernen Lyrik blieb uns ja weitgehend untersagt. Dichter wie Gottfried Benn kannten wir nur dem Namen nach. Ich bräuchte heute noch eine richtige Ausgabe.

Weerdenburg: Der einzige „moderne“ Dichter, der in der DDR akzeptiert, d.h. gedruckt wurde, war ja dann eigentlich Hölderlin, wie problematisch das dazugehörige Hölderlinbild auch immer war.

Rosenlöcher: Ja, er war das Andere und insofern schon zu entdecken. Es war ja nicht so, daß es keinen Hölderlin gab. Er lieferte eine Gegenstrophe, mit der ich mich aber nur sehr langsam anfreunden konnte. Ich bin sehr behütet aufgewachsen und habe mich sehr langsam von Vorstellungen gelöst; nicht mit diesem abrupten Aussteigen. Eigentlich ist erst in den letzten Jahren vieles für mich vorbei.

Weerdenburg: Ab und zu wird in Rezensionen der Gegensatz zwischen Ihrer Lyrik und der Lyrik der jüngsten Generation stark hervorgehoben. „Wer wird ihn hören inmitten des Lärms, der schon hier ganz in der Nähe schmerzhaft zu hören ist?“, heißt es bei Gerhard Rothbauer. Das klingt so, als gäbe es in der DDR für Ihre Gedichte nur einen ganz bescheidenen Platz. Der Titel Ihres ersten Gedichtbandes scheint dies mehr oder weniger zu bestätigen. Andererseits kann man aber auch Bezüge zwischen Ihrer Lyrik und der der sog. „sächsischen Dichterschule“ aufzeigen. Wie würden Sie Ihre Position in der Literaturlandschaft der DDR bestimmen?

Rosenlöcher: Zu dieser älteren Generation gibt es Beziehungen, z.B. zu Mickel, Braun und Czechowski. Diese Aufnahmen verlaufen aber eher intuitiv, indem man es einfach gelesen hat. Daß zu den Jüngeren eine gewisse Fremdheit besteht, kann ich nicht leugnen. Gleichzeitig ist mir schon klar, daß es fürchterlich wäre, wenn jeder Verse schriebe wie ich, sagen wir mal im Metrum bliebe. Dann würde ich wahrscheinlich Sascha Anderson sein wollen. Ich glaube aber trotzdem eine kleine Funktion zu haben, immer dazu gesagt, daß die anderen, die sozusagen das Aussteigen aus der bisherigen Redeweise suchen, sehr wichtig sind. Dieses Aussteigen gibt aber dem Beharren auf Tradition und althergebrachter Redeweise auch wieder seine Berechtigung. Bei massenhaftem Avantgardismus besteht die Gefahr, daß das wiederum zum Klischee wird. Mittlerweile weiß jeder, daß der Dichter der Unverstandene ist und der unartikuliert Redende. Inzwischen konnte es ja wieder so sein, daß dieses einfache Angucken der Dinge und doch noch beschreiben, den Versuch bedeutet, Wege zu finden zu einer bestimmten Kommunikativität, indem ich zu mir selber noch rede. Das hat vielleicht wieder eine Funktion, und im Grunde genommen dürfen die verschiedenen Sprechweisen nie ganz verschwinden.

Weerdenburg: Ja, denn auch ein sehr radikaler Neuansatz kann zum Kunstgewerbe werden.

Rosenlöcher: Das ist eben die Gefahr. Aus dem Gedicht muß trotzdem hervorgehen können, was los ist, in welcher Welt es geschrieben wird.

Weerdenburg: Nun gibt es aber in der jüngsten Dichtergeneration der DDR die unterschiedlichsten Töne.

Rosenlöcher: Ja, diejenigen, die nicht so weit außen sind, wie z.B. Steffen Mensching und Hans-Eckardt Wenzel, sind mir bedeutend näher, weil die auch von vornherein kommunikativere Konzepte haben. Wobei ich nun, wie gesagt, meine, daß dieses Aussteigen aus der normalen Sprechweise auch schon wieder zum Klischee wird; es ist so üblich, daß es nun fast jeder macht. Wenn ich zum Beispiel eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik (dankenswerterweise erscheint ja in der BRD so was) lese, so habe ich den Eindruck, daß manche Leute so weit gehen, bis sie ununterscheidbar werden. Es passiert durch dieses Verweigern eine Entsinnlichung, und so kriegt eine andere Sprechweise, die den Zugang zu den Dingen sucht, eine Funktion.

Weerdenburg: Dieser Zugang zu den Dingen beschränkt sich in Ihrer Lyrik dann ja nicht auf die natürliche Umgebung, sondern stimmt auch Hymnen auf Mangelwaren an, wodurch traditionelle Formen in Ihrer Lyrik ironisch gebrochen werden. Man stimmt eine Hymne an, wenn es mal wieder Klopapier oder gute Seife gibt.

Rosenlöcher: Ja, wie Sie sagen, man ist schon froh, wenn es bestimmte Dinge erstmal gibt. Man kann dann gleich in eine Hymne verfallen. Da es bei uns ja alles gibt, nur dann nicht, wenn man es gerade haben will.
Es meint aber eigentlich das Sachliche, die einfachen Dinge sind das, womit ich lebe. Das ist die Wirklichkeit, und das ist eigentlich preisenswert. Jeden Gegenstand, der noch so gut ist, zu mir zu halten.

Weerdenburg: Vor ein paar Tagen wurde der zehnte Schriftstellerkongreß abgeschlossen, auf dem auch einiges von den Liberalisierungstendenzen der Politik Gorbatschows spürbar war. Es wurde u.a. viel über die Zensur und die Rolle des Schriftstellers in der DDR gesprochen. Wie schätzen Sie Ihre Rolle/diese Entwicklungen ein?

Rosenlöcher: Mit der Zensur habe ich eigentlich kaum Schwierigkeiten. Das rührt vor allen Dingen daher, daß meine Lyrik nicht mit Volksmund daherkommt. Man ist gefährdet, wenn alles wiedererkennbar ist. Es ist immer so angelegt bei mir, daß ich eine etwas abgehobenere Geschichte brauche, um ins Schreiben zu kommen. Das bedauere ich halb, halb ist es so, und es gibt dadurch auch wieder andere Möglichkeiten des Sprechens. Eben nicht Wirklichkeitswiedergabe, sondern Suche nach einer Lebensmöglichkeit, nach Sinnlichkeit und Kreativität. Dadurch habe ich keine größeren Zensurprobleme.
Gesellschaftlich dagegen ist es höchste Eisenbahn, daß etwas passiert, daß dieses Land eine höhere Produktivität findet. Das hängt mit der Demokratie zusammen, das kann man nicht mehr trennen. Im Grunde hätte das alles in den sechziger Jahren passieren müssen.
Die Zerstörungen sind jetzt so weit fortgeschritten, daß mir wirklich Angst wird. In den letzten Zug, wenn immer noch ein Zug fährt, und er fährt schon sehr spät, werde ich also immer noch einsteigen. Das wäre natürlich dumm zu sagen, jetzt kommt er so spät, jetzt fahre ich eh nicht mehr, wenn ich woanders hin will. Also steige ich natürlich ein, und in dieser Hinsicht sind die Zustände eben so, daß das Gedicht im Kleinen das Soziale reflektiert. Ich muß mich da eben noch ermuntern und ermahnen, genauer zu sein, genauer hinzugucken. Ich will mich im kommenden Jahr auch mehr umtun. Auch mal wieder ein bißchen arbeiten gehen, was man nach dem „Bitterfelder Weg“ eigentlich gar nicht mehr laut sagen darf. Ich muß mich anderen Situationen aussetzen.

Weerdenburg: Klein-schaff-witz?

Rosenlöcher: Ja, es fängt eben damit an, daß ich in einem Haus wohne, von dem ich weiß, daß es fünf Jahre noch so steht, obwohl es ein sehr schönes Haus ist. Das ist eine Massenerscheinung in diesem Land. Man kann eben nicht nur vom Waldsterben, sondern auch vom Gebäudesterben reden, und das unter der Regierung eines Dachdeckers.

Aus Deutsche Bücher, Heft 1, 1988

 

 

Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017

 

Allein ein Kichern ändert schon die Welt – Ahmad Mesgarha liest in Hoppes Hoftheater Lyrik und Prosa von Thomas Rosenlöcher

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017

Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017

Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017

Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + InstagramKLGÖM + IZAIMDbArchiv + Kalliope
Porträtgalerie: akg-imagesBrigitte Friedrich Autorenfotosdeutsche FOTOTHEKDirk Skibas AutorenporträtsGalerie Foto Gezett + IMAGOKeystone-SDA
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Nachrufe auf Thomas Rosenlöcher: Berliner Zeitung ✝︎ DNN ✝︎ FAZ ✝︎ LiteraturLand THÜRINGEN ✝︎ MDR ✝︎ nd ✝︎ Sächsische Zeitung ✝︎ signaturen ✝︎ SZ ✝︎ Zeit 12 ✝︎

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rosenlöcher“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Thomas Rosenlöcher

 

Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.

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