Begriffsbildung als Übersetzungsverfahren – Jacques Derridas poetische Rhetorik (5)

Unzusammengehöriges, Unpassendes zusammenzuführen und damit überraschende Bedeutungsperspektiven zu eröffnen, gehört zu Derridas philosophischen, vielleicht aber auch bloß rhetorischen Prioritäten. Von daher erklärt sich sein besonderes Interesse gerade an gleichlautenden Begriffen, die beliebige Widersprüche in sich aufzunehmen und gleichzeitig sie aufzuheben scheinen − für ihn offenbar die Bestätigung dafür, dass der Sprachgebrauch, der philosophische wie der alltägliche, oft defizitär, missverständlich, wenn nicht lügenhaft oder nur einfach beliebig ist.
Doch auch das Gegenteil kann sich einstellen, dann nämlich, wenn die Wörter kraft ihres Gleichklangs oder ihrer Klangähnlichkeit die Zusammengehörigkeit beziehungsweise Gleichartigkeit des durch sie Bezeichneten bestätigen, wenn nicht gar postulieren. Wie beispielweise in der nachstehenden Wortfolge, mit der Jacques Derrida auf die Sonne anspielt, ohne sie direkt zu nennen: „le plus illustre, l‘illustrant par excellence, le lustre le plus naturel …“, also „das Glorreiche, das schlechterdings Erhellende, der allernatürlichste Lüster …“ − Statt schlicht die „Sonne“ zu benennen (und damit alles klar zu machen), entfaltet Derrida das Wurzelelement „-lustr-“ (-leucht-) im Leitwortstil zu einer mehrteiligen Aufzählung, die indirekt beziehungsweise metaphorisch umschreibt, wodurch die nicht genannte Sonne sich auszeichnet. Auf sie ist aber leicht zu schließen anhand ihrer Eigenschaften und des Vergleichs mit einem Lüster.

Gern setzt Jacques Derrida auch allgemein gebräuchliche Ausdrücke als Kofferwörter ein. Dafür genügt in vielen Fällen die Rückführung des jeweiligen Begriffs auf seine ursprüngliche Kernbedeutung oder auch seine Anreicherung durch diverse Nebenbedeutungen. Eben dies geschieht, wenn er das alltagssprachliche Wort für „Löschung, Verwischung, Verbergung, Schwund“ (effacement) auf face (Gesicht, Antlitz) fokussiert und daraus die Bedeutung „Entgesichtlichung“ gewinnt, die im Französischen unmittelbar einsichtig wird, im Deutschen jedoch ein abstruses Begriffsgebilde hervorbringt. Man vergleiche das Heraus- oder Hineinlesen der Bedeutung von „Ei“ (œuf) in das Wort für „Werk“ (œuvre) oder von „das Schlimmste“ (le pire) in die Bezeichnung der „Pyramide“ (von griech. pyr, „Feuer“), ohne dass hier irgendein plausibler etymologischer Zusammenhang bestünde.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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