27. Juli

Die Julihitze wird schon wieder aufgerissen durch ein brutales Gewitter. Blitz, Donner, Regen wie aus Kübeln; die hoch aufgeschossene, eben noch wogende Wiese im Parkgarten liegt wie gedroschen am Boden, die feinen Blüten sind zermatscht und weit verstreut, selbst den Duft der Wiese und das Summen der Insekten hat das Gewitter niedergeschlagen. Erstmals hängt heute … schon wieder hängt nun der Herbst in der Luft, obwohl sich das Laubgrün noch voll behauptet, doch das Strotzen ist vorbei, die Erschlaffung beginnt und damit der Zug nach unten. Könnte … sollte der ganz normale, endlos sich wiederholende Niedergang in der Natur – mit dem Auferstehungsversprechen! – auch in kulturellen Dingen seine Normalität, mithin seine Richtigkeit haben? Kanonisierung, Entkanonisierung! Dominantenwandel! Gesunkenes Kulturgut! Innovation durch Archaisierung! Usf. – Bei mir sind Kopf und Bauch im Clinch, die Migräne überzieht mich mit einem schmerzhaften Kribbeln, hindert mich an der Arbeit … hindert mich am Schlafen; ich versuche die leeren Nachtstunden zum Lesen zu nutzen, komme aber nicht weit (mit Hultberg, Krasznahorkai – nein!), notiere mir dies und das zu Andrej Markows Kettentheorie. Erst gegen Morgen – der Regen hat nachgelassen – komme ich mit Magdalena Tulli endlich wieder in die Konzentration, lese den Roman ›In Rot‹, starke Prosa … etwas vom Stärksten, das heutige Erzählkunst, soweit ich sie übersehen kann, zu bieten hat. Doch wer spricht von der Tulli … wer bespricht diese exzellente Autorin? Es ist schon merkwürdig, dass ich als Leser in aller Regel am Rand fündig werde, dort, wo kaum jemand sonst auf der Suche ist – übersehene, verkannte, unverstandene Bücher entsprechen meinen Qualitätskriterien oft weit mehr als alles, was gemeinhin durch die Ratings als das »Beste« oder das »Bestverkaufte« ausgewiesen ist. Was im heutigen Literaturbetrieb zu saisonalem Erfolg kommt, kann – so fürchte ich – in künstlerischer Hinsicht auf Dauer nicht bestehen. Doch darum geht’s ja auch längst nicht mehr. Bestehen! Auf Dauer! Wem liegt noch an solchen Qualitäten? Auch Literatur wird heute fast ausschließlich zum Verbrauchen gebraucht … ist Verzehr, ist nicht Vorrat. – Herrlich der Wald heute unter leisem Regen, unter einer leisen Glocke von Duft und Dunst, in der auch alle Geräusche – Knacken, Girren, Rauschen, Klopfen, Säuseln, Sirren – schön versöhnt sind. – Bin jetzt bei Jan Potocki lesend und staunend unterwegs (Briefe, Journale, Abhandlungen usf.), erkenne in ihm einen fernen Doppelgänger – was für ihn seine endlosen Reisen waren, sind für mich, den Stubenhocker und Schreibtischtäter, die Lektüren und … aber auch das Schreiben. Potocki – als Generalist ein zeittypischer Intellektueller der europäischen Aufklärung – war ein ungemein produktives Multitalent in vielen Lebens- und Forschungsbereichen; er versuchte sich als Militär und Diplomat, als Abenteurer und Familienvater, als Großgrundbesitzer und Literat, als Gelehrter, als Theatermacher, als Flugpionier, zuletzt auch als Selbstmörder. Als Vorgabe für einen Roman … für eine Nacherzählung ist das womöglich des Guten zu viel? Doch vielleicht könnte ich auf der Folie von Potockis Vita so etwas wie eine verkappte Autobiografie schreiben? Oder … aber sollte ich nicht doch eher meine Bibliothek katalogisieren? Fünfzehn-, sechzehntausend Bände, nach Titeln auf einer Liste verzeichnet, würden sich insgesamt zu einem enumerativen Text zusammenschließen, der wohl, implizit gelesen, ebenfalls als eine Art Autobiografie gelten könnte! Vorab bleibt allerdings noch anderes zu tun. – Bin mal wieder in Wien, es ist ein Zwischenhalt unterwegs in die USA. Ich möchte bei dieser Gelegenheit wenigstens kurz mit Aage Hansen und Karin Löve zusammentreffen, rufe an, Hansen schlägt ein gemeinsames Abendbrot in einem Gasthof am Stadtrand vor. Wir verabreden uns auf sieben Uhr, bin erfreut, dass sich das Treffen so kurzfristig arrangieren lässt, höre aber (also) nicht mehr so richtig zu, als mir Aage erklärt, wie ich den Ort erreichen kann; den Namen des Restaurants überhöre ich, auch die Adresse, merke mir nur, dass ich zur Endstation der U-Bahn – Sèvres-Babylone – fahren muss und von dort wären es dann nur noch ein paar Schritte. Die U-Bahnanlage ist veraltet, verschmutzt, voller Lärm und Gestank. Da ich keine Fremdwährung dabei habe, gibt es Schwierigkeiten beim Ticketkauf. Ein unbekannter Passant hilft mir mit ein paar Münzen aus. Ich fahre mit dem klappernden Zug Richtung Endstation, doch die Endstation wird nicht mehr bedient. Bei der vorletzten Station muss »alles aussteigen«, und ich befinde mich nun an einem mir völlig unbekannten Platz, auf dem unentwegt Trams und Autobusse und Taxis zirkulieren. Keine Ahnung, wo ich bin und wohin ich muss. Die mehrgliedrigen Busse und Trams fahren, gemäß Aufschrift, nach Luzern, ins Berner Oberland, nach Bratislava usf. All das kann ja nicht richtig sein für mich und … aber die Zeit drängt, ich bin bereits zu spät, suche vergeblich nach einem Taxistand. Erst als es schon dunkel ist, kann ich in einem Hinterhof einen fettleibigen Arbeitslosen dazu überreden, mich mit seinem schrottreifen Simca zum Treffpunkt zu fahren. Endlich sind wir unterwegs, doch bleibt das Problem, dass ich keine Adresse habe, nicht einmal die Richtung nennen kann. Plötzlich sehe ich – es ist nun wieder hell − den menschenleeren Platz mit dem Restaurant vor mir. Aage und Karin sind noch nicht oder nicht mehr da, statt dessen erwartet mich Krys; sie begrüßt mich ohne jede Überraschung, so, als wären wir hier vor Ort seit langem verabredet. Obwohl wir beide kein Gepäck dabei haben, entschließen wir uns zu einem zweiten, diesmal ganz und gar wahren Leben.

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