Michael Braun (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2017

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Michael Braun (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2017

Braun (Hrsg.)-Lyrik-Taschenkalender 2017

INS SCHRÄGE LEBEN HINEIN

Der Lärchenstamm funkelt
wie ein Leopardenschweif
vor der Haustür, aber in Feldafing
knurren zwei Traktoren
und springen über den Starnberger See.

Warum muß ich immer
die bulligen Berge boxen
und in die Handtücher der Täler fallen
wie zu heiß gebadet.

Warum bin ich dein Hahn, Gott,
muß dauernd die Welt bewachen,
den Hof, der nichts bringt?

Warum bin ich bloß so ein früher
auf Treppen die Felder Hinuntergeher
und gewahre drunten
in der Form zerknüllter Putzlumpen
Städte die mich nichts angehn.

Warum mein höhnischer Blick
auf die Köpfe der Klugen
herunter, der Wissenschaftler,
wie auf erloschene Krater?
Ganz leer drinnen,

nichts raucht –
Nur im Geldsack
werden Wertpapiere umgeschmolzen

Warum bin ich so schräg
ins Leben hineingeweht?
Meine Großmutter hatte den Pröschlhof
und erntete Hopfen

Warum muß ich immer
auf Türme hinauf, ohne Lohn,
den Ausguck machen,
allen melden, wer kommt?

Warum bin ich einfältig, Gott?
Wenn ich einen See betrachte;
will ich ihn reiben,
daß er besser glänzt

Warum bin ich heikel?
Alles schwappt in mich herein
wie in die Muschel Wasser

Sags mir,
warum bin ich so schräg
ins Leben hineingeweht –
meine Großmutter erntete Hopfen

Wolfgang Dietrich

 

KOMMENTAR

Manchmal ist ein Dichter einer, der Gedichte schreibt und manchmal meinen wir damit viel mehr. Auch im angedeuteten Sinn gehört Wolfgang Dietrich zu den Dichtern. Als ich ihm 1988 begegnete, galt er als Nummer 1 der jungen Münchner Dichterszene. Er wollte mich abholen aus einer Schwabinger WG, wo ich für einen Sommer untergekommen war. Schon vom Fenster aus sah ich, dass er nicht ganz von dieser Welt ist, denn kurz vorm Erreichen drehte er selbstvergessen ab, eine Auslage faszinierte ihn so sehr, dass ich fürchten musste, er wisse nicht mehr, warum er hier war – ich fing ihn auf der Straße ein. So ging der Tag weiter. Alle Lokalitäten, die er vorschlug, hatten Ruhetag oder waren für immer geschlossen, stets redete er liebenswert und inspiriere, auch an Verkehrsknotenpunkten machte er vorm Lärm keinerlei Konzessionen und sprach dann in die Unhörbarkeit hinein, später vom verlorenen Prozess gegen den Freistaat Bayern, nachdem er des nachts in eine Baugrube gefallen war und sich die Schreibhand verletzte.

Warum bin ich heikel?
Alles schwappt in mich herein
wie in die Muschel Wasser

Was mich an seinen Gedichten fasziniert, ist die unverkennbare Stimme. Nichts klingt wie Dietrich. Einer zwischen Klopstock und Baader, der gelegentlich Gott befragt, vom Fußballplatz schreiben kann, aus der Zeit der Schleyerentführung, stets im hohen Ton, welcher sich mit seinem Schimpfen, Hadern erstaunlich gut verträgt, mit einer Begabung gesegnet, die kein vernünftiger Mensch neidet. Als ich zuletzt nach München kam, merkte ich anhand der Stationen, dass München für mich Dietrich-Stadt ist. Seine Gedichte funkeln weiterhin wie Lärchenstamm & Leopardenschweif.
Wolfgang Dietrich wurde 1957 in Sebusein (ČSSR) geboren und wuchs in München auf, wo er promovierte, er veröffentlichte in den achtziger und neunziger Jahren Bände in kleineren Verlagen und lebt, so weit ich weiß, seit längerer Zeit im Dresdner Raum.

Dieter M. Gräf

 

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Editorial

Was will ein Gedicht? Was kann es? Welche Sprache spricht es im 21. Jahrhundert, in dem alle Redeweisen und Artikulationsmodi zwischen Tradition und Avantgarde längst durchgespielt sind? Die Rezeptur, die Hans Magnus Enzensberger vor einem halben Jahrhundert entwickelt hat, ist immer noch gültig:

Die Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußersten Hitze bis zur extremen Kälte zu jagen, und zwar möglichst mehrfach. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertreibung und Understatement, Ausbruch und Ironie, Raserei und Kristallisation, äußerste Nähe zum glühenden Eisen des Gegenstandes und äußerste Entfernung von ihm fort zum Kältepol des Bewußtseins ist die Sprache einer unausgesetzten Probe zu unterziehen.

Ein Ort für solche sprachlichen Entzündungsprozesse und Zerreißproben ist der Lyrik-Taschenkalender, ein poetisches Gemeinschaftsunternehmen. Der Lyrik-Taschenkalender 2017 webe wie seine kalendarischen Vorgänger ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und ein „Special guest“ haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.

Michael Braun, Vorwort, Frühjahr 2016

 

Die Rezeptur,

die Hans Magnus Enzensberger vor einem halben Jahrhundert entwickelt hat, ist immer noch gültig: „Die Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußersten Hitze bis zur extremen Kälte zu jagen, und zwar möglichst mehrfach. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertreibung und Understatement, Ausbruch und Ironie, Raserei und Kristallisation, äußerste Nähe zum glühenden Eisen des Gegenstandes und äußerste Entfernung von ihm fort zum Kältepol des Bewußtseins ist die Sprache einer unausgesetzten Probe zu unterziehen.“ Ein Ort für solche sprachlichen Entzündungsprozesse und Zerreißproben ist der Lyrik-Taschenkalender, ein poetisches Gemeinschaftsunternehmen.
Der Lyrik-Taschenkalender 2017 webt wie seine kalendarischen Vorgänger ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und ein „Special guest“ haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.
Mit Gedichten und Texten von u.a.: Sonja vom Brocke, Alexandru Bulucz, Dieter M. Gräf, Guy Helminger, Adrian Kasnitz, Sina Klein, Uwe Kolbe, Georg Leß, Jürgen Nendza, Karla Reimert, Marcus Roloff, Ulrike Almut Sandig, Walle Sayer, Daniela Seel, Volker Sielaff, Uljana Wolf, Kathy Zarnegin, Henning Ziebritzki

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

Fakten und Vermutungen zum HerausgeberKalliopeLaudatio & Dankesrede
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