Trauriger Lebemann
Kurzes Gedenken an Reinhard Goering
Teil 1 siehe hier …
Tatsächlich hatte Reinhard Goering in seinem allzu kurzen Leben Herausforderungen und Probleme zu bewältigen, die alles übersteigen, was man sich im Rahmen einer Dichterbiographie gemeinhin vorstellt – sein reales «Schicksal» erinnert an althergebrachte tragisch-heroische Legenden und nimmt sich insgesamt so aus, als hätte er es eigens als Teil seines dramatischen «Werks» inszeniert. Was vorab auffällt, ist seine nomadische Getriebenheit in Verbindung mit dem ständigen, meist abrupten Wechsel von Rollen und Überzeugungen: Alles scheint hier mit allem verschmolzen und zugleich unvereinbar zu sein, und Goerings Vita erweist sich denn auch als eine lebenslange Zerreissprobe – der Vater wählte bald nach seiner Geburt den Freitod, die Mutter starb früh in geistiger Umnachtung, er selbst wuchs als Vollwaise auf, und nie (auch nicht als mehrfacher Ehemann und sozial engagierter Aktivist) verliess ihn in der Folge das Gefühl, zu Einsamkeit und Heimatlosigkeit verdammt zu sein.
Es genügt schon, Goerings Lebensstationen und die vielen Berufe und Berufungen, die er neben seinem literarischen Schaffen absolviert hat, nacheinander aufzuzählen, um seine nomadische Existenzform wie auch die Widersprüchlichkeit seines Verhaltens und Denkens zu vergegenwärtigen.
Die Orte: Jena, Berlin, München, Paris, Bonn, Saarland, Davos, Ascona, Braunschweig, Hannover, Helsinki und immer wieder – Berlin; dazwischen lange, ziellose («buddhistische») Wanderungen, die Goering anonym als Landstreicher und Bettler unternahm, um sich vom bürgerlichen Dasein abzusetzen und dem eigentlichen Sein näherzukommen.
Funktionen, Fähigkeiten, Anschauungen: promovierter Mediziner (Militär-, Natur-, Nervenarzt); Sozialarbeiter, Heilpraktiker, Vegetarier, Koch; Dramatiker, Lyriker, Essayist, Rezitator; Maler, Graphiker; Lebemann und Asket; Buddhist, Katholik, Kommunist, Faschist, Anarchist – all dies in stetigem Wechsel, oft auch gleichzeitig praktiziert, so wie er es in seiner Prosaskizze «Der westliche Buddha» (1926) dargelegt hat: «Er würde auf diesem Wege der tätigste und zugleich der unpersönlichste aller Menschen, der aktivste und zugleich der ruhendste, der überwindende und zugleich der am meisten überwundene.»
Über viele Jahre hin musste Reinhard Goering als schwerkranker Patient (Tuberkulose, Schizophrenie, Morphinismus) in Kliniken und Sanatorien behandelt werden. Da er überdies wegen diverser Delikte offiziell als «gemeingefährlich» galt, war auch sein bürgerlicher Status stark angeschlagen. Bereits in seinem Roman «Jung Schuk» von 1913 hatte er einen fiktiven, ebenso ausschweifenden wie leerlaufenden Lebensgang entworfen, der sich dann als selbsterfüllende Prophetie erweisen sollte: Das sentimental überhöhte Erzählwerk endet, wie später auch Goerings eigene Geschichte, mit dem Suizid des tragischen Antihelden – gleich doppelt (mit Gift und mit einem Pistolenschuss) hat er sich, als Autor fast schon vergessen, im November 1936 unweit von Jena in freier Natur umgebracht. So fand sein bedeutendstes Werk – das qualvoll gelebte Leben – ein durchaus passendes, zutiefst absurdes Ende.
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik







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