Edmond Jabès: Die Schrift in der Wüste

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Edmond Jabès: Die Schrift in der Wüste

Jabès-Die Schrift in der Wüste

DIE TÜR

Schatten alleingeblieben
inmitten des Morgens
Die Sonne pocht an die Schwelle
Das unstete Auge späht die Stunde aus
da der Mensch dem Menschen nachgibt
der ihn verdrängt Du
gehst kehrst zurück zum stummen
Leben zum Salz zum Feuer
die sein Mark aufzehren
Hier bist du Meister
Eine Tat ein Traum zu leben
Das Schauspiel beginnt
mit der Einsamkeit

 

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„… aus Büchern in Bücher…“

– Für Edmond Jabès. –

1
Die Sprache beherrschen das heißt… von der Sprache sich beherrschen lassen von ihr besessen sein. So mußt du ihr gerecht werden, sie annehmen, damit sie sich deiner annehmen kann. Die Sprache ist es, die das Sagen hat… die Autorität des „Autors“ bezieht sich… beschränkt sich… auf seine Lektüre. Der Stil des Schriftstellers ist nichts anderes als seine Art zu lesen.

 

2
All die vielen „Rabbiner“, die Jabès zum Sprechen bringt, sind weder reale Menschen noch imaginäre Wesen; vielmehr sind es die ständig wechselnden Namen, unter denen die Sprache… selbst… sich ausspricht.

 

3
Im Text kann der Autor… als erste Person der Einzahl… niemals präsent, stets nur repräsentiert sein; zum Beispiel durch das Personalpronomen der ersten Person Einzahl. Ich. Das Personalpronomen der ersten Person Einzahl ist das am wenigsten persönliche Wort überhaupt; denn… jedermann kann es… für sich… als Namen benutzen und… jeder nennt sich „ich“. Aber „ich“ ist ein Name ohne Referenz. Wer „ich“ sagt… der tut nicht „ich“; ich sage „ich“… also bin ich’s nicht. Der „Ich“-Erzähler bleibt aus dem von ihm erzählten Text ausgeschlossen. Der Text der Erzählung ist die Krypta des Erzählers. Der Name des Erzählers ist… personne… das Kryptonym des Autors. Ich: „Je“… als Palindrom gelesen… ergibt E.J.

 

4
Darauf, daß das Wort… indem es wiederholt und also immer wieder in die Gegenwart geholt wird, ist das „Leben“ der Texte zurückzuführen… ein Leben, das sich fortwährend von selbst und stets von neuem regeneriert im Zitat, in der Allusion, im Resümee, in der Übersetzung, ja sogar im Plagiat und auch dort noch, wo das Wort verschwiegen, ausgetrieben wird. Lebendig ist das Wort, kraft dessen die Texte überdauern, deshalb, weil es… nach Lévinas… ebenso viele Sinne, ebenso viele Stimmen hat… oder zuläßt… wie es Menschen gibt.

 

5
Eigenhändig schreiben; eigenhändig sterben. Leben ist das… was zuviel ist; deshalb überleben wir bloß.

 

6
Der wesentliche Dialog ist der stumme Dialog; ein Händedruck. Das Gedicht. „Worte und Gegenstände wären demnach“, so könnte man… in ganz anderm Zusammenhang bei Canetti weiterlesend… wohl vermuten, „Ausfluß und Ergebnis eines einzigen einheitlichen Erlebnisses, eben der Darstellung durch die Hände.“ Die Hände wiederum… „unsre zwei offenen Hände“… sind das aufgeschlagene Buch, durch das wir während wir lesen darin… lesbar werden. Das Buch so Jabès gegenüber Velter… ist „zutiefst unser eigen“; wir eignen es uns im Akt des Lesens an, der auch ein Liebesakt ist… Akt der Selbstfindung, der Selbsterfindung; denn beim Lesen des Buchs verlieren wir uns.

 

7
„Schreibt man“, fragt Jabès, „mit dem Blut der Vokabel, die mit dem eigenen Blut vermischt ist?“ Auch wer mit Blut schreibt… und sei’s das eigene… schreibt bloß mit Tinte… rot „wie“ Blut.

 

8
Hunger, Lesehunger; und also, zu Tisch bei Lagercrantz, „wieder und wieder den Text lesen, bis er beginnt, in einem zu leben, als hätte man ihn verschluckt – das ist die Methode“. Selbst der Prophet… Künder vom Ende der Welt… ißt das Buch, das der Engel ihm reicht, in sich hinein; das Buch, mithin, ist Himmelsgabe… der Text unser tägliches Manna. Aufgelesenes… Gelesenes… wird verdaut… zerfällt… was bleibt, ist ein Haufen von Lettern. Der Sprachverfall ist Voraussetzung für die Wiederherstellung der Würde des Buchstabens… für die Wiedererkennung seiner Physiognomie. Die Pflege des Buchstabens… sagt Heidegger… tut niemals so not wie in Zeiten der Not.

 

9
Alle Literatur ist sichtbar gemachte, sichtbar gewordene… gerettete… Schrift. Der Schriftsteller… „ich bin abwesend, da ich der Erzähler bin, wirklich ist nur das Erzählte“… erfindet seine Texte nicht, er findet sie; er stellt sie nicht her, er entziffert sie, schreibt sie nach. Der Schriftsteller ist der ideale Leser, das Lesen geht dem Schreiben notwendigerweise voran, gibt ihm die Perspektive, vermittelt und erbringt erst eigentlich den Text. Darin liegt vordergründig, das poetisch „Rätselhafte“, von dem Gottfried Benn in seinem späten Vortrag über Probleme der Lyrik gehandelt hat: „Das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er (der Autor) weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist.“ – Jeder Text wäre somit als Zitat aus… beziehungsweise als Kommentar zu… einem in seiner Gesamtheit unübersehbaren und undurchschaubaren kontextuellen Zusammenhang zu verstehen… eine Vorstellung, die wohl nicht zufällig an Mallarmés kosmologische Konzeption eines totalen Buchs erinnert, in dem alle denkbaren Bücher aufgehoben, alle Konstellationen des gestirnten Himmels festgehalten sein sollten; eine Vorstellung auch, die manches mit der Borges’schen Vision der Bibliothek von Babel gemeinsam hat, in der alle „Bücher“… selbst die ungeschriebenen… verwahrt sind, darunter… vielleicht… gar jenes eine Buch, „das Inbegriff und Auszug aller ist“.

 

10
„… bis zu den Zähnen mit Sprache bewaffnet…“ (Thomkins); die Sprache als selbstmörderisches Waffenarsenal… Man spricht, um sich von sich selber abzubringen; um sich daran zu hindern… wie Nietzsche es gefordert hat…: „ich“ zu tun. Die Angst, bei sich selber anzukommen; die Angst, mit sich allein zu sein… ist eine Todesangst.

 

11
Ich stelle den Autor als Autorität in Frage, weil… erst nach Preisgabe der eigenen Autorität… das heißt nach Aufgabe des Primats der Aussage… des Sagen-Wollens… das Sagen der Sprache kraft des sprechenden Subjekts sich artikulieren kann als ein Sagen-Lassen. Das Verschwinden des Autors ist Voraussetzung für die Wiederkehr des Subjekts, und vielleicht könnte man, ein Wort von Musil variierend, sagen, die Auflösung des auktorialen Ich-Bewußtseins, das „nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden“ ist, sei „endlich beim Ich selbst angelangt“; und… aber… also… wo?… bei wem?

 

12
Von der „immensen Genugtuung“, sich restlos ausgesprochen… sich ausgeschrieben und schreibend sich vernichtigt zu haben… ist die „panische Angst“, unwiderruflich zum Schweigen verurteilt zu sein, nicht zu trennen. Oder wird… umgekehrt… die beharrliche, auf die Erschließung extremer Domänen… der Wüste, der Weiße… angelegte Schreibarbeit überhaupt erst Voraussetzung dafür, daß einer die eigene Sprache findet und zur Rede fähig wird?
Doch wozu?
Was hätte er davon?
Und was gäbe es für den, der das Sagen hat, noch zu sagen?

 

13
Das ist das Desaster; daß gerade die Kunst… und gerade die Wortkunst auch… uns zu „Verbrechern“ macht und zu Gebrochenen; indem sie uns in unserm Einssein entzweit. Die Kunst… und gerade die Wortkunst auch… ist die am höchsten entwickelte Form menschlicher Selbstrepräsentation und verhindert… als solche… die einfache… die schweigende Präsenz des Subjekts diesseits von Wort und Bild… jenseits jeder Ähnlichkeit und jeglichen Vergleichs. Unsre präsenzlose Verlorenheit hienieden wird durch den Tod „beschlossen“… und nur in der Fiktion, nur in der Selbstherrlichkeit unsrer Repräsentationen überleben wir. Die Krypta des Kunst-Werks ist Lebens-Raum. Lebens-Raum für die Gestorbenen; die meisten Autoren, deren Texte wir lesen… deren Bilder und Bauten wir betrachten… sind tot.

 

14
Der poetische Diskurs… bei Jabès… hat eine paradoxale, eine unverkennbar utopische Perspektive; er tendiert, indem er sich dem „Buch vor allen Büchern“, dem „Buch der Nicht-Ähnlichkeit“, dem allerersten und letztlich einzigen Buch anzunähern versucht, zur totalen Intertextualität:

Tous les livres seraient dans le dernier où ils auraient pulsé.

Der Autor tritt… da er „nichts mehr zu sagen hat“… hinter den Text zurück; das von ihm Geschriebene ist mit dem von ihm Gelesenen identisch:

Ecrire ne serait, alors, à ce degré de pénétration du texte que lire ce qui vo, docilement, s’écrire.

Die Produktion des eigentlichen Texts wird somit vom Autor auf dessen Leser verlagert; die Lektüre wird zum kreativen Akt, in ihr erst konstituiert sich der Sinn, den der, der die Schrift stellt, nicht mehr zu stiften vermag.

 

15
Nicht was ich habe, muß ich dem Andern schuldig bleiben; vielmehr was ich bin. Was… oder wer… ich ist.

 

16
Doch wer würde diese Würde verdienen… nämlich nichts bedeuten zu müssen.

 

17
Was Ich… unverlierbar… weiß, ist das… was ich vergessen habe; also habe.

 

18
Wer bin ich… was ist Ich… heute früh um drei Uhr zwölf; zu spät.

 

19
Schwör… so heißt es an einer Stelle bei Shakespeare… auf dich selbst; dann erst kann ich dir glauben. Ein leichter Glaube; denn auf wen ist weniger Verlaß als auf den, der an sich selber glaubt.

 

20
Der Beruf des Schreibens als fatale Berufung… „Auserwähltheit“, zu der man, ohne es wünschen oder abwenden zu können, bestimmt ist. Schriftstellerei wäre somit… wie Jabès mit zunehmender Insistenz wiederholt… eher Fluch als Privileg, kann nicht mehr als Profession ausgeübt und verantwortet, muß als Passion erfahren werden, um glaubhaft und sinnvoll zu sein. Dem „Auserwählten“… dem Schriftsteller wie dem Juden… ist die Freiheit zur Wahl genommen; der Gewählte selber hat keine Wahl, kann folglich nicht als Subjekt der Geschichte… oder der „Geschichte“… auftreten, ist vielmehr deren Gegenstand, ihr lebendiger Vorwurf. Autor zu sein, heißt… wie Derrida mit Bezug auf Platons Phaidros (275e–276d) unterstreicht… „die Rede sein zu lassen, sie ganz von sich aus sprechen zu lassen, was sie nur in der Schrift zu leisten vermag.“ – In diesem Sinn ist der Schriftsteller… und ist auch die Literatur… am Ende; die Zukunft beider hängt davon ab, inwieweit es gelingt, ein „neues“… will sagen: ein uraltes, homerisches… Selbstverständnis des Autors durchzusetzen, welches seine Identität zu relativieren, sie sogar zu negieren vermöchte: „Ich“, das bin nicht ich, nie!

Felix Philipp Ingold, Nachwort

 

Der Wind in der Wüste

– Interview mit Enrico Filippini.  –

Eines der eindrücklichsten und in gewisser Weise verborgensten Werke der französischen Nachkriegsliteratur ist vor wenigen Monaten dank der intelligenten kleinen Buchreihe In forma di parole bei den Edizioni Elitropia in Reggio Emilia erschienen: Das Buch der Fragen. Und seinem Autor, Edmond Jabès, wurde anderntags der Pasolini-Preis verliehen. Ein guter Anlaß, um zu versuchen, uns mit der freundlichen Hilfe des Autors einem rätselhaften, mindestens ebenso unbegreiflichen wie faszinierenden Buch zu nähern, von dem schon vor fünfzehn Jahren Jacques Derrida sagte, daß „es sich jeglicher Interpretation entzieht“ und „jeden Kommentar zurückprallen läßt“.

Ich frage den Autor, der mich lächelnd betrachtet:

Enrico Felippini: Ich möchte mit Ihrem Leben beginnen. Ich habe irgendwo gelesen, daß Sie in Kairo geboren und aufgewachsen sind:

Edmond Jabès: In der Tat. Und ich habe bis 1957 dort gelebt bis zur Suezkrise.

Felippini: Dann wurden Sie vertrieben?

Jabès: Nicht eigentlich. Doch sah ich, daß es unmöglich würde zu bleiben; meine Frau war mit meiner Tochter bereits in Frankreich und sah sich an einer Rückkehr gehindert; mein Besitz wurde konfisziert.

Felippini: Und was hieß es kulturell, vor, während und nach dem Krieg in Ägypten zu leben?

Jabès: Es bedeutete einerseits, in einer kosmopolitischen Gesellschaft zu leben und an einem sehr intensiven geistigen Leben teilzunehmen, das auf Frankreich ausgerichtet war, und das war für mich wichtig.

Felippini: Aber ich habe auch gelesen, daß Sie italienischer Nationalität waren.

Jabès: Ich hatte in der Tat einen italienischen Paß. 1882 hatte die nationalistische Revolution von Auraby Pascha stattgefunden, die ein Klima der Fremdenfeindlichkeit schuf. Die Familien europäischer Abstammung hatten damals den Schutz irgendeiner großen Macht gesucht, denn auch für eine Familie wie die meine, die seit drei Jahrhunderten in Ägypten ansässig war, war es unmöglich, die ägyptische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ohne türkisch oder arabisch zu sein. Die Familie suchte also den italienischen Schutz und erhielt ihn, doch in der Folge teilte sie sich in zwei verschiedene Äste, einen ganz und gar italienischen und einen andern – denjenigen meines Vaters – mit französischer Ausrichtung. So war meine Muttersprache das Französische.

Felippini: War Ihre Ausbildung eher eine philosophische oder eine literarische?

Jabès: Literarisch. Ich hatte Kontakte mit Max Jacob, der mir Lektionen gegeben hat, die eigentlich in dem Versuch bestanden, mich davon abzuhalten, ihn zu imitieren. Dann lernte ich die Gruppe der Surrealisten kennen, und schließlich stieg ich bis zu Mallarmé auf. Mit einem Freund zusammen versuchte ich, diese Kultur in Ägypten einzuführen, ohne großen Erfolg.

Felippini: Gab es eine ägyptische Literatur von Belang?

Jabès: Nein, es war eine sehr arme Literatur.

Felippini: Als Sie 1957 nach Frankreich kamen, waren Sie da schon ein französischer Schriftsteller?

Jabès: Ich hatte einige kleine Gedichtsammlungen veröffentlicht und viel für antifaschistische Zeitschriften geschrieben. Während des Kriegs war ich Mitglied der italienischen Antifaschistischen Gruppe von Umberto Calosso gewesen. 1959 dann sammelte ich alles, was ich von 1943 bis 1957 geschrieben hatte, in einem 400-seitigen Band – 400 Seiten Gedichte! –, der bei Gallimard erschien, vor allem aufgrund des Interesses von Albert Camus.

Felippini: Der Titel war Je bâtis ma demeure (Ich baue mir eine Behausung)?

Jabès: Richtig.

(…)

aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
zuerst erschienen in La Repubblica, 5.5.1983
aus dem Italienischen von Hans Ulrich Brunner

Die Schrift der Wüste

– Gespräch mit Philippe Boyer. –

Philippe Boyer: Man hat zunächst den Eindruck, daß Ihre Bücher, die alle innerhalb der beiden Werkfolgen des Buchs der Fragen (Le Livre des Questions) und des Buchs der Ähnlichkeiten (Le Livre des Ressemblances) miteinander verbunden sind, aus weiter Ferne kommen, und zwar nicht bloß in geographischer Hinsicht, sondern auch sprachlich und geschichtlich… Wie also hat das alles angefangen.

Edmond Jabès: Mit einem Bruch. Diese Bücher sind nicht absichtsvoll entstanden. Sie haben sich mir aufgedrängt nach meinem Bruch mit Ägypten, wo ich geboren bin. Ich war gezwungen, dieses Land im Jahr 1957 zu verlassen, ohne daß ich damals geahnt hätte, wie sehr es ein Teil von mir selbst war. In der Tat fiel es mir schwer, darüber Klarheit zu gewinnen. Ich war französisch erzogen und 1967 naturalisiert worden, weshalb mein Blick stets auf Frankreich gerichtet blieb. Und außerdem lebte ich dort unten vor allem in Abhängigkeit von meiner gesellschaftlichen Stellung sowie von meinem Beruf, der mit Literatur nichts zu schaffen hatte.
Die Tatsache, daß ich schrieb, kam dann noch dazu. Ich litt nicht zuletzt darunter, daß man mich ein wenig wie einen Amateur behandelte, obwohl ich mich schon voll in die französische Literatur integriert fühlte und auch vielen Schriftstellern nahestand. Ich sah mich in einen Herkunftszusammenhang gestellt, den man in den Gedichten des Bandes Ich baue mir eine Behausung (Je bâtis ma demeure) noch erkennen kann. Als ich sehr jung war, wurde ich von Baudelaire und Rimbaud geprägt. Danach ist für mich die Begegnung mit Max Jacob bestimmend geworden.
Später kamen dann noch die Surrealisten dazu. All diese Dichter bildeten meine Familie. Als ich freilich in Frankreich ankam, vollzog sich, obzwar ich der Ansicht war, in dieser literarischen Familie vermehrt heimisch werden zu können, ein Bruch. Dies ist um so widersinniger, als Ich baue mir eine Behausung – erschienen 1959, also zwei Jahre nach meiner Niederlassung in Paris – von meinen Freunden und auch von Schriftstellern, die ich verehrte und die mich ihrerseits voll akzeptieren konnten, sehr gut aufgenommen wurde. Merkwürdigerweise hatte ich gerade zu jenem Zeitpunkt das Gefühl, von meiner literarischen Herkunft am meisten abgekoppelt zu sein, als man mich ihr zutiefst verpflichtet glaubte.
Ich befand mich in totaler Dunkelheit. Einzig meine Frau und ich waren sich dessen bewußt, was damals im Entstehen war. Ich begann mit der Niederschrift des Buchs der Fragen, welches dazu beitrug, mich von der Literatur fernzuhalten. Ich sprach mit niemandem von diesem Mißbehagen. Nicht einmal mit Gabriel Bounoure, der sich darüber freilich sehr bald Rechenschaft ablegte, und auch nicht mit andern engen Freunden. Mehr als je war ich an die französische Sprache, meine einzige Sprache, gefesselt, aber ich war es durch ein Buch, das mich selber überstieg und das in nichts jenem Buch glich, das man von mir hätte erwarten können.
Ich füge hinzu, daß der subversive Anteil, den es, wie ich glaube, in all meinen Werken gibt und den Sie auch schon mehrfach unterstrichen haben, in einer ganz und gar klassischen Sprache zum Ausdruck kommt. Mag sein, daß man nicht immer erkennt, was es an Subversivem in diesen Büchern gibt, was hinter den Worten steht; aber jedenfalls ist ihre Schreibweise lauter und klar. Nirgends wird der Satz aufgebrochen. Wozu ich übrigens bereits früher Stellung genommen habe.

Boyer: Ich möchte auf den fundamentalen Bruch zurückkommen, aus dem letztlich die Gesamtheit Ihrer Arbeit hervorgegangen ist. Bruch mit Ägypten – doch weshalb kam es denn im einzelnen zu diesem Bruch? Was bedeutete Ägypten damals für Sie? Was für eine Art von Ort? Oder von Un-Ort?

Jabès: Ja – weshalb? Das ist wichtig. Ich habe Ägypten verlassen, weil ich Jude bin. Ich hatte zum Judentum eine sehr distanzierte Beziehung. Allerdings habe ich nie in Abrede gestellt, daß ich Jude bin. Doch brauchte man sich damals in Ägypten über seine Herkunft nicht zu äußern. Man wurde als der akzeptiert, der man war. Es gab Franzosen, Engländer, Italiener, und unter diesen gab es jüdische Franzosen, jüdische Engländer, jüdische Italiener. Ich habe in Ägypten niemals etwas von Antisemitismus verspürt, außer in den letzten Jahren, als das Leben für die Israeliten unhaltbar geworden war.
Als ich nun Ägypten wegen meines Judeseins verließ, fand ich mich als Exilierter ziemlich ungewollt mit der Tatsache, jüdisch zu sein, konfrontiert. Und der Ort, der Un-Ort, von dem Sie vorhin sprachen und der zugleich der Ort all meiner Bücher ist – dieser Ort ist die Wüste. Die Erfahrung der Wüste, die ich in Ägypten gemacht hatte und deren Schrift sich erst nach dem Bruch mit diesem Land durchzusetzen vermochte, ist für mich bestimmend geworden. Die Wüste zwingt einen dazu, sich von allem zu lösen und alles abzuwerfen, was überflüssig ist. Und man stellt fest, daß so gut wie alles überflüssig ist.
Dieses Loslassen in der Wüste ist schwer zu verwirklichen, es ist fast gleichbedeutend mit dem Tod.
Erst bei meiner Ankunft In Frankreich begann diese Erfahrung für mich erneut – jetzt von innen – zum Erlebnis zu werden. Und von daher hat sich am Leitfaden eines Gedächtnisses, das älter ist als die Erinnerungen, ein ganzer Fragenkomplex ergeben. Und Erzählungen. Insbesondere der Bericht über die Lager. Ich selbst war nicht in den Lagern, aber es versteht sich, daß ich als Jude, daß ich als Mensch diese ganz und gar unerträgliche Ungerechtigkeit, dieses Unglück zutiefst empfunden habe.
So hebt denn das Buch der Fragen mit einer solchen Erzählung an, einer phantastischen und zugleich banalen Erzählung, die banal geworden ist dadurch, daß das Drama sich wiederholt hat, daß es die Lager gab. Es handelt sich um ein junges Paar, Sarah und Yukel, zwei Jugendliche, die deportiert worden sind und die einander lieben. Bei ihrer Rückkehr nach Frankreich verliert Sarah den Verstand, und Yukel bringt sich schließlich um. Sarahs Wahnsinnsschreie vermählen sich dann mit der jahrtausendealten Klage, dem jahrtausendealten Schrei einer unterdrückten Gemeinschaft. Es sind also Symbole.
Und von diesem Ansatz her hat sich eine große – nicht bloß intellektuelle – Reflexion entwickelt. Die Frage, die sich stellte, war eher diese: Was kann Kultur nach Auschwitz noch bedeuten? Was bedeutet es, Opfer einer Ungerechtigkeit zu sein – und warum? Was bedeutet es, Jude zu sein? Und damals ist mir die Befindlichkeit des Fremden einsichtig geworden als die tatsächlich aktuelle Befindlichkeit von nahezu jedermann.
Die Dinge haben sich so entwickelt, daß niemand mehr sich mit irgendeiner Antwort zufriedengeben kann.

Boyer: Dieses Gefühl des Fremdseins findet man in Ihren Büchern stetig wieder. Ist es nicht vielleicht gerade an jene Erfahrung der Wüste gebunden, von der Sie gesprochen haben? Und ist es nicht auch gleichzeitig die Erfahrung des Schreibens?

Jabès: Es stimmt schon, daß der Ort dieser Bücher die Wüste ist, dieses Unendliche, wo es nichts mehr gibt. Das ist, im Grunde genommen, die weiße Seite. Meine Befragung des Buchs, meine Besessenheit vom Buch – sie gehen aus dieser weißen Seite hervor, die eine beschriebene Seite sein wird. Mir hat nie ein Buch im Sinn Mallarmés vorgeschwebt. Ein Buch im Rahmen eines Projekts vorab sich auszudenken, bedeutet, daß man ihm Grenzen setzt. Für mich jedoch sollte das Buch grenzenlos sein, wie die Wüste, also ein aufgesprengtes Buch.
Diese Form hat sich von sich aus so ergeben, es ist eben gerade die Form der Wüste, deren einzige Schranken die vier Horizonte sind. Das Personal wiederum ist in einen gewaltigen Dialog einbezogen, der sich in der Zeit wie auch außerhalb der Zeit in Gestalt von Aphorismen aufbaut. Das sind die Stimmen, welche das Buch und auch den Ort aufsprengen.
Freilich ist dieser Ort auch der Ort der Gottesfurcht. In der jüdischen Tradition lautet einer der Namen GOTTES – Ort. GOTT ist die unerträgliche Abwesenheit der Wüste. Für mich ist dies nicht der GOTT der Religionen. Oft hat man mich als Mystiker bezeichnet, weil ich das Wort GOTT verwende. Aber das Wort steht im Wörterbuch. Wenn man dieses Wort in der Literatur nicht verwendet, so deshalb, weil man Angst davor hat, weil man ihm also genau jenen Sinn verleiht, den auch der Gläubige ihm beilegt. Für mich ist es das Wort der Abwesenheit, etwas Ungedachtes, etwas Undenkbares, das einen dazu zwingt, die Befragung immer weiter voranzutreiben. GOTT – das bedeutet auch das Wort als solches, ein jedes Wort, das die Grenzenlosigkeit zerteilt.
Reduziert man das Wort auf das, was es bedeutet, so erstickt man es. Man muß ihm die Möglichkeit lassen, sich auf sämtliche Wörter hin zu öffnen, von denen es bewohnt ist. Und gleichwohl – trotz diesem grenzenlosen Aspekt der Sprache – ist mir sehr an der Genauigkeit der Wörter und Sätze gelegen. Die Vokabeln zu zerbrechen, führt zu nichts. Man kann die Offenheit nicht erzwingen. Es ist der Andere, der Leser, der die Wörter, der den Sinn zu eröffnen hat. Die Genauigkeit ist eine Pforte. Was der Leser dahinter vorfinden wird, hängt weitgehend von ihm selber ab.
Darin besteht meine Schreibarbeit – auszugehen von der höchsten Genauigkeit, um zur größten Offenheit zu gelangen. Und was ich hier bezüglich der Wörter sage, das könnte ich auch von jedem einzelnen meiner Bücher sagen, von denen jedes wiederum andere Bücher enthält und sich auf andere Bücher hin auftut.

Boyer: Und dennoch, trotz diesen Offenheiten und Sprengungen – kann man in der Gesamtheit Ihrer Bücher eine offensichtliche Einheit erkennen.

Jabès: Ich glaube, die Einheit rührt zunächst von der Beharrlichkeit des Fragens her, welches nie zu einem Ende kommt und von Buch zu Buch weitergeführt wird, allerdings jeweils erst nachdem es durch eine Art von Selbstvergessenheit hindurchgegangen ist. So stößt man beispielsweise im ersten Buch auf eine Fragestellung, auf die eine erste Antwort gegeben wird. Diese Antwort wird sich als unbefriedigend erweisen. Im dritten Buch wird man dieselbe Frage wiederfinden, nun aber mit einer andern Antwort. Es ist der unabsehbare Fortgang einer und derselben Befragung, welcher die Einheit ausmacht und welcher gleichzeitig auch immer wieder neue Lesarten hervorruft, die den Rückgriff auf die früheren Bücher notwendig machen. Die Lektüre gewinnt also niemals einen Halt.

Boyer: Sie setzen also großes Vertrauen in den Leser?

Jabès: Gewiß, die Rolle des Lesers hat wesentliche Bedeutung. Dadurch, daß er kein wirkliches Fundament hat, wird er in seinen eigenen Fragestellungen immer weiter vorangetrieben. Beim Lesen des zweiten Buchs wird er sich fragen, ob er denn das erste überhaupt gelesen habe. Liest er das dritte, so wird ihm bewußt, daß das, was Ihm bei der Lektüre bislang besonders wichtig gewesen ist, nun möglicherweise völlig verschwunden ist, daß es etwas anderes, etwas Wichtigeres gegeben haben muß, das er übersehen hat. Es ist dies eine unabschließbare Lektüre, weil sie einen jedesmal zum Ausgangspunkt zurückführt.

Boyer: Und dennoch gibt es in jedem Ihrer Bücher und auch von einem Buch zum andern ein ständiges Fortschreiten – verschiebt sich denn also der Ausgangspunkt?

Jabès: Er verschiebt sich, weil es in Wirklichkeit einen Ausgangspunkt nicht gibt. Gerade darauf wollte ich zu reden kommen. Es gibt keinen Ursprung. Man hat oftmals gesagt, in meinen Büchern werde eine Theorie entwickelt. Ich glaube nicht, daß man diese sagen kann. Denn jedesmal habe ich mit Mitteln, die allein der Schrift zu eigen sind, versucht, die Dinge physisch sichtbar zu machen, und dies ohne jede theoretische Erklärung. Und eines dieser Mittel sind die Fragen und Antworten der literarischen Figuren. Und diese Figuren stehen immer in der Vergangenheit. Auf all ihre Worte folgt der Zusatz „sagte er“ oder „hat er gesagt“. Doch was ist jetzt, in der Gegenwart? Nichts. Es gibt den Anfang. Es geht hier keineswegs um eine nostalgische Rückwendung zur Vergangenheit. Die Vergangenheit ist das, was sich auf die stets unbekannte Gegenwart hin öffnet.

Boyer: Aber es ist doch auch die Gegenwart des Lesens, einer Lesart, die Ihnen, Edmond Jabès, entgeht, weil sie unter allen möglichen Lesarten Ihrer Bücher eine ist, die Sie nicht vorhersehen können.

Jabès: Ich habe immer wieder gesagt, daß man nicht der Lesart des Autors Vorrang geben sollte. Es ist eine Lesart unter andern. Schreiben – das heißt, man stellt eine besondere Lesart des Buchs her. Ich habe im übrigen feststellen können; daß man von meinen Büchern ganz unterschiedliche Lesarten hergestellt hat. Ich bin weder gläubig, noch bin ich religiös, und gleichwohl hat es Lesarten von sehr gläubigen, sehr religiösen Menschen gegeben, die für mich erschütternd waren. Übrigens wußte man anfänglich nicht so recht, von weicher Seite man meine Bücher angehen sollte. Selbst der Verleger wußte nicht, unter welcher Rubrik er sie ankündigen sollte. Die Offenheit verlangt daß man auch ihre Konsequenzen auf sich nimmt, und das heißt – alle möglichen Lesarten, selbst jene, die von der eigenen denkbar weit entfernt sind.

Boyer: Nehmen Sie nicht gerade damit wiederum die jüdische Tradition auf – mit den unerschöpflichen Lesarten eines und desselben Buchs?

Jabès: Ja, in mehrfacher Hinsicht. Meine Bücher sind für mich Durchgangsorte und zugleich sind sie der einzige Ort, wo ich leben kann. Ist es nicht staunenswert, daß das Wort GOTTES aus der Wüste kam, daß einer der Namen GOTTES auf hebräisch Ort bedeutet und daß das Buch bei den Juden während Jahrtausenden als Ort des Worts erfahren wurde? Doch gleichzeitig kann ich das Buch nicht so akzeptieren, wie es ist. Ich glaube, daß auch solche Ablehnung in der jüdischen Tradition vorkommt.
Das Volk Israel hat Moses dazu veranlaßt, die Tafeln zu zerschlagen. Der Ursprung des Buchs liegt auch im Bruch. Es ist, als hätten die Israeliten Moses verdrängt, um mit dem Buch in unmittelbaren Kontakt zu treten, ohne Vermittlung, um aus dem Text die Entsprechung GOTTES zu machen. Die Entsprechung jenes unsichtbaren GOTTES, von dem selbst der Name unausprechlich ist.
Es bleibt bloß der Text, das Wort. Die Juden hören nicht auf, das Buch zu befragen, weil darin ihre Wahrheit liegt. Und zugleich kann dort ihre Freiheit sich ausleben, eine Freiheit, die man ihnen überall sonst vorenthalten hat. Übrigens findet man den Interpretationszwang in den semitischen Sprachen angelegt, wo es keine Selbstlaute gibt. Es gibt ganz unterschiedliche Wörter, die alle auf die gleiche Art und Weise geschrieben werden, mit denselben Mitlauten. Es handelt sich also stets um eine Sprache, die entschlüsselt werden muß und wo keineswegs alles schon vorgegeben ist.

Boyer: Aber was ist denn für Sie letztlich jenes Buch, an dem Sie, Band auf Band folgen lassend, schreiben?

Jabès: Schwer zu sagen. Für mich war das zunächst einfach Literatur – ein für Schriftsteller, für Dichter bestimmtes Buch. Doch gleichzeitig wußte ich eigentlich nicht, was das war. Ich entdeckte das Buch in dem Maß, wie ich es niederschrieb – es ist gleichsam ein unablässiges Beginnen kraft der Schrift. Jedes Wort hat sein Eigenleben, und mein eigenes Leben hat Anteil am Leben der Worte. Wenn man sagt, daß das Buch uns verwerfe, ist dies falsch. Es verlangt von uns bloß, daß wir es reden lassen.
Es ist, als sagte in einem bestimmten Augenblick das Buch zu mir:

Nun, da du, für mich, das Wesentliche gesagt hast, kann ich endlich mich selbst ausdrücken. Wenn du dich einschaltest, wenn du deine Stimme mitschwingen läßt, verfälschst du alles.

Die Schrift hat die ihr eigene Bewegung. Sie muß die Dinge reifen lassen können, muß sie verdauen, bevor sie sie offenbaren kann. So daß also das Eingreifen des Schriftstellers zu einem überflüssigen Akt wird. Dies ist einer der Gründe dafür, daß der traditionelle Roman mich schon immer irritiert hat.
Der Romancier ist in den meisten Fällen jemand, der nicht auf das Buch hört, der vielmehr selber gehört werden will. Er setzt sein Personal, seine Geschichte durch. Und die Schrift leistet nichts anderes mehr als Wiederholung. So wird sie denn Werkzeug, sie wird zu einem simplen Instrument der Kommunikation. Die Schrift ist etwas völlig anderes.
Merkwürdig ist übrigens die Tatsache, daß man sehr rasch zur Einsicht kommt. daß man sich niemals besser ausdrückt als dann, wenn man schweigt, um die Schrift reden zu lassen. Immer dann, wenn man sie einem Zwang aussetzt, verrät man sie. Ich will nicht behaupten, daß man einen Text nicht korrigieren darf. Was mich angeht, so hat es für jedes meiner Bücher drei bis vier unterschiedliche Varianten gegeben. Doch diese Arbeit ist nichts anderes als ein Hin- und Abhören.

Boyer: Da wir uns nun im Zentrum der Frage nach der Schrift befinden, möchte ich auf das zurückkommen, was Sie schon früher gesagt haben. Sie haben von Stimmen gesprochen. Sarah, Yukel, Yaël, Elya, Aely – das sind Stimmen redende Figuren. Und dann gibt es auch die andersgearteten Stimmen der Rabbiner. Es will mir scheinen, als käme in Ihren Büchern dem gesprochenen Wort eine wesentliche Rolle zu. Und gleichzeitig haben Sie doch eben gesagt, das Wort des Schriftstellers müsse angesichts der Schrift verschwinden.

Jabès: Ihre Frage scheint mir wichtig zu sein. Um festzuhalten, daß es sich in der Tat um das Wort des Buchs handelt, und nicht um das meine, habe ich mich des Begriffs „Vokabel“ bedient. Dieser Begriff wird von den Schriftstellern schon seit langem völlig abgelehnt. Ich pflege lebhaften Umgang mit dem Wörterbuch, und wenn ich sehe, daß ein Wort „veraltet“ ist, tut mir dies weh. Es gibt den griechischen logos, das lateinische vocabulum. Im Französischen müßte man auf das Wort vocable zurückkommen. Das Wort parole (für „gesprochenes Wort“) kommt aus der kirchlichen Sphäre, es kommt aus den Gleichnissen Christi. Das Wort „Vokabel“ ist für mich fast schon ein Neologismus, es ist das lebendige Wort des Buchs.

Boyer: Indem sie diesen Begriff – „Wort des Buchs“ – einführen, gehen Sie über die in unserer Kultur klassisch gewordene Dichotomie zwischen Wort und Schrift weit hinaus.

Jabès: Ja. Das kommt wohl daher, daß ich im Orient gelebt habe, wo das mündliche Erzählen hohe Wertschätzung genießt. Ich bin aber eigentlich ein visueller Typ, ich muß die Wörter sehen können. Aber gleichzeitig habe ich auch ein sehr empfindliches Gehör.
Es gibt ja auch den musikalischen Aspekt des Satzes. Die Assonanz ist etwas Ähnliches wie die Wiederholung, aber es ist auch eine Art von Wühlarbeit im Innern der Wiederholung – übrigens eine gefahrvolle Sache. Weil nämlich die Musik des Satzes dem Ohr schmeichelt. Doch ist es ein Verfahren, welches all jenes besser hörbar zu machen erlaubt, was gleichzeitig in der Schrift sich auflöst und zerstört wird. Das gilt auch für das Weiße zwischen den Wörtern, das für mich Bestandteil der Schrift ist.
Manch ein junger Schriftsteller ist der Meinung, das Weiße werte den Text auf. Doch das Weiße ist weit stärker, es ist heftiger als der Text selbst. Also vernichtet es ihn. Die Schrift muß schon eine enorme Eigenkraft haben, um das Weiße ertragen zu können.

Boyer: Das Weiße ist auch das Ende. Was bedeutet das für Sie – das Ende des Buchs, das Ende eines Buchs? Mir kommt es so vor, als wäre von Beginn an, seit dem ersten Buch der Fragen, das Ende als Bezugspunkt schon immer präsent gewesen in Ihren Büchern.

Jabès: Tatsächlich kann man in diesen letzten Bänden, dem Buch der Ähnlichkeiten, immer wieder auf die Befragung desselben Buchs stoßen, doch diesmal über den Umweg der Ähnlichkeit. Wir alle sind Opfer von Ähnlichkeiten. Wir werden etikettiert, man bezieht uns auf Anderes. Und der Leser wendet sich eher dem zu, was dem ihm schon Bekannten ähnlich ist. Jedes dieser drei Bücher endet mit einem Prozeß. Der erste Prozeß – das sind Richter, die nicht verstehen wollen, daß ein Schriftsteller sagen kann, das Buch existiere nicht; daß ein Jude sagen kann, das Judentum existiere nicht, es sei eine Erfindung. So klagt man ihn denn des Verrats an und verurteilt ihn. In Wirklichkeit sind Richter und Angeklagter tot, es sind Geister. Der Angeklagte antwortet:

Um mich zu verurteilen, mußten Sie mich erkennen, doch würde ich hingerichtet, so wäre ich wirklich der Fremde – der zu sein ich gewünscht habe, der Fremde des Fremden.

Im zweiten Buch ist es der Prozeß der Richter. Sie befragen einander über die Kriterien der Verurteilung, die sie ausgesprochen haben, und schließlich wissen sie selbst nicht mehr, ob sie Richter, Juden, Schriftsteller sind. Da beschließen sie, nicht mehr Recht sprechen zu wollen. Und endlich dann, im dritten und letzten Buch der Ähnlichkeiten, sind es die Andern, welche die Richter verurteilen. Denn wenn es keine Richter mehr gibt, können sie nicht mehr wissen, wie es um sie steht was wahr ist und was nicht. Was bedeutet dies? Vielleicht nichts. Bloß, daß wir voller Widersprüche sind; daß es keine definitive Antwort gibt, keine Wahrheit.

Boyer: Keine Wahrheit? Und doch haben Sie In Ihren Büchern von der Subversion gesprochen, oder vom Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit bezüglich der Juden. Was also bedeutet es, auf der Ebene der gesellschaftlichen Realität, für Sie, als einen Schriftsteller, der in der Sprache lebt, der die Schrift bewohnt, daß es keine Wahrheit gibt? Auf der politischen, der Ideologischen Ebene?

Jabès: Auch da, denke ich, gibt es keinerlei Wahrheit. Auf der politischen Ebene ist die Antwort stets sehr gefährlich. Die totalitären Regime, welche die Antwort vorleben, welche die Antwort erzwingen, können die Frage nicht mehr tolerieren. Dies muß angeprangert werden, und man kann das einzig dadurch tun, daß man der Frage Vorrang zugesteht – durch eine kritische Haltung.
Aber ich glaube, daß sich heute viele Menschen dessen bewußt sind. Wir sind von allem, was wir zu verteidigen suchten, derart enttäuscht worden, daß wir den Kampf neu denken müssen, daß wir dafür sorgen müssen, daß er weniger blind ist. Ich habe, als ich jung war, viel gekämpft, es war eine leichte Sache.
Auf der einen Seite gab es da, was man Faschismus nannte, und auf der andern Seite das, was man Demokratie nannte. Ich war elf Jahre alt, als Mussolini, 1923, an die Macht kam. Und es war völlig klar für mich – der Faschismus mußte niedergeschlagen werden. Heute aber ist es nicht immer einsichtig, was als faschistisch zu bezeichnen ist und was nicht.
Also sollte man sich immer, auch dann, wenn man an eine Sache glaubt, wenn man sich einer Partei zugehörig fühlt, die Möglichkeit offenhalten, Kritik zu üben, und sei es bisweilen auch auf äußerst vehemente Weise. Wir finden uns wieder angesichts einer totalen Offenheit, die zu bewahren unsere Aufgaben ist. Ich glaube, man muß sich daran gewöhnen, mit dieser Idee zu leben. Für mich jedenfalls ist es die einzig mögliche Gewißheit – die einzige, die ein Intellektueller haben kann.
Das bedeutet nun nicht, daß man zu gewissen Zeiten nicht innerhalb einer Partei oder einer Gruppe für ein genau bestimmtes, ein situationsbedingtes punktuelles Unterfangen tätig werden sollte. Doch bedingungslos einer „Wahrheit“ anzuhängen heißt seine Verantwortung als Intellektueller aufzugeben. Die wahre Subversion, heute, ist das Fragen. So etwas gibt es auch in der jüdischen Tradition. Zum Beispiel diese Geschichte, die ich sehr schön finde. Ein Rabbiner sagt zu einem Schüler: Dieser Kommentar von Rabbi Soundso ist meines Erachtens der beste, den man überhaupt machen kann, denn dieser Rabbiner ist der weiseste und heiligste überhaupt. Es sei denn, es gebe einen andern Rabbiner, der mir unbekannt ist, der ebenso heilig und ebenso weise wäre, und der das Gegenteil gesagt hätte. Diese Geschichte entspricht wirklich genau dem, was ich heute empfinde.
Wir können uns nur von dem her engagieren, was wir wissen, das heißt, wir können es immer nur in beschränkter Weise. So ließe sich die Zerrissenheit vermeiden, welche von jenen erlebt werden muß, die alles auf eine Partei gesetzt haben und sich unvermittelt verraten fühlen. Man kann in gar keinem Fall auf die Geschichte setzten. Vielleicht sind wir nicht dafür geschaffen, an das Morgen zu denken. Jeder Tag kann alles in Frage stellen. Wir können uns nicht auf lange Sicht festlegen.
Was bedeutet im übrigen die Identität? Es ist etwas, das sich tagtäglich herausbildet. Wenn ich Sie frage: Wer sind Sie? Was werden Sie mir antworten? Daß Sie Soundso heißen, daß Sie Soundso’s Sohn sind. Doch eine Herkunft ist das nicht. Es gibt keine Herkunft, keine vorgegebene Identität. Man muß einsehen, daß man sich lediglich für das engagieren kann, was man zu finden hofft.
Man hat beispielsweise Intellektuelle beobachten können, die nach Ihrem Austritt aus der kommunistischen Partei das Bedürfnis verspürten, in sämtlichen Zeitungen die Gründe für ihren Entscheid auszubreiten. Als hätte es sich dabei um einen dramatischen Abschied gehandelt. Aber das ist ganz normal. Man ist während zehn Jahren in irgendeiner Partei aktiv gewesen, und dann verläßt man sie. Was nun? Man kann auch während zehn Jahren in einem Land ansässig gewesen sein und danach es verlassen. So ist das Leben. Ich denke, daß das, was die jungen Menschen an meinen Büchern angezogen hat, eben der große Raum ist, der dem Fragen zugestanden wird und der mir dazu verholfen hat, mit meinen Widersprüchen und mit den Widersprüchen der Andern zu leben.
Die Frage erlaubt es uns gleichwohl, wachsam zu sein; für unsere Handlungen einzustehen. Wie notwendig ist heute solche Wachsamkeit in jedem einzelnen Augenblick! Die Frage bleibt unser stärkster Trumpf.

Boyer: Eine letzte Frage, die das, was Sie vorhin sagten, weiterführt: Was können Sie nach allem, was Sie eben erwähnt haben, zu Ihrem letzten Buch sagen, das im vergangenen Winter erschienen ist?

Jabès: Das ist zunächst ein Buch, das eigentlich viel länger hätte sein sollen. Viele Seiten habe ich zerrissen. Im Grund ist es ein Buch, das für einige nahe Freunde bestimmt war. Und ich war erstaunt darüber, daß selbst die Freunde, denen es gewidmet war, kein volles Verständnis dafür aufzubringen vermochten. Sie haben es wie meine übrigen Bücher aufgenommen. Und da habe ich nun wirklich gespürt, wie weitgehend man unfähig bleibt all das zu vermitteln, was man sagen wollte. Die letzten Seiten dieses Buchs sind für mich so etwas wie ein Testament. Man kann niemandes Lektüre umlenken, auch nicht die Lektüre des intimen Freundes. Auch dies gehört zum Risiko des Schreibens.

Zuerst erschienen in Liberation, 18./19.10.1979
Aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold

4. April

Als Edmond Jabès Anfang 1991 im Alter von neunundsiebzig Jahren starb, galt er weit über seine französische Wahlheimat hinaus – vor allem in Italien und den USA – als wegweisender Protagonist eines »poetischen Denkens«, das seine Energie und seine Aussagekraft nicht aus der Begrifflichkeit, vielmehr aus der Materialität der Sprache gewinnt, aus ihrem Klangcharakter einerseits, aus ihrer Schriftbildlichkeit anderseits. Noch in seinen letzten Lebensjahren hat Jabès ein halbes Dutzend Bücher vorgelegt, bei internationalen Kolloquien wurde sein Werk auf höchstem Niveau gewürdigt, er selbst fand mit Lesungen und Vorträgen (auch in Deutschland) ein enthusiasmiertes Publikum, und nicht zuletzt die damals in rascher Folge veröffentlichten fremdsprachigen Buchausgaben trugen zu seinem späten Ruhm bei. Doch hielt dieser Ruhm nicht lange an. Wenn Jabès heute – einundzwanzig Jahre nach seinem Tod und ein Jahrhundert nach seiner Geburt – längst wieder der Geheimtipp ist, der er bis in die mittleren 1960er Jahre gewesen war, so entspricht dies zwar seinem dichterischen Selbstverständnis, das Anonymität und Subversion weit höher veranschlagte als Erfolg und Einfluss. Als »subversives Werk« hat Jabès in einem kleinen Essay das Schaffen des Komponisten Luigi Nono charakterisiert – und damit, implizit, auch sein eigenes: „Subversiv, indem es bloß versucht, das auszudrücken, was im Herzen dessen verborgen bleibt, was sich entblößt. Bisweilen weckt etwas mit leiser Stimme Geäußertes mehr Echos als jedes Geschrei; aber das sind innere Echos…“ – Edmond Jabès’ Rückkunft „ins Geheime“ hat verschiedene Gründe. Mit dem schwindenden Einfluss der „dekonstruktiven“ Textauslegung und mit dem gleichermaßen schwindenden Interesse an einer autopoietischen, aus der Sprache selbst generierten Wortkunst ist auch sein Werk „unzeitgemäß“ geworden. Im Vergleich zur derzeit weithin dominanten Befindlichkeitslyrik, für die Seelenzustände und Alltagswelten mehr Relevanz haben als das »Sprechen der Sprache« oder formalistische Wortspiele, wirkt seine philosophisch, wenn nicht gar mystisch imprägnierte Dichtung elitär – abgehoben von aktuellen Problemzusammenhängen, zu sperrig für eiliges Verstehen, nicht zitierbar zu praktischer Lebenshilfe oder als politisches Diktum. Doch das Unzeitgemäße behauptet sich bei ihm als das Überzeitliche, als das, was resistent bleibt im Verschleiß der Trends und der Hits, die den aktuellen Literaturbetrieb auf Touren hält. »Das Wort gewinnt seine Heraufkunft von dem, der es wahrgenommen hat. Entblößt läuft es Gefahr zu gefallen oder zu missfallen; beurteilt zu werden«, heißt es in einer postum in der ,Quinzaine littéraire‘ publizierten Stellungsnahme des Autors:

Was sollte es im Übrigen anderes sein als ein Denken, das dem Tag entlockt wird? Ich denke, und mein Denken erfüllt mich mit Worten. Ich höre, und mein Denken erfüllt mich mit Stille; denn Wort und Stille sind Denken, gerade dort, wo sie sich treffen, um ineinander aufzugehn. In intimstem Sein.

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Leben & Werk. Tagesberichte zur Jetztzeit, Matthes & Seitz, 2014

Der Schriftsteller Edmond Jabès

Kein französischer Autor hat in den letzten Jahren mehr profunde kritische Beachtung und Lob erhalten als Edmond Jabès. Maurice Blanchot, Emmanuel Levinas und Jean Starobinski haben sich enthusiastisch über seine Arbeiten geäußert, und Jacques Derrida stellte fest, daß „in den letzten zehn Jahren in Frankreich nichts geschrieben wurde, das nicht irgendwie auf Texte von Jabès zurückgeht“. Mit dem ersten Band von Das Buch der Fragen, 1963 in Frankreich erschienen, und mit den darauffolgenden Bänden hat Jabès eine neue und geheimnisvolle Art von Literatur geschaffen – so verwirrend wie schwer zu definieren. Weder Roman noch Gedicht, weder Essay noch Drama – die sieben Bände von Das Buch der Fragen und dann Das Buch der Ähnlichkeiten kombinieren alle diese Formen, sind ein Mosaik von Fragmenten, Aphorismen, Dialogen, Gesängen und Kommentaren, die unaufhörlich um die zentrale Frage des Buches kreisen: wie das Unaussprechliche auszusprechen sei. Die zentrale Frage ist der jüdische Holocaust, aber es ist auch die Frage der Literatur selbst.
Jabès wurde 1912 als Sohn wohlhabender ägyptischer Juden geboren und wuchs in der frankophonen Gemeinde Kairos auf. Frühe literarische Freundschaften verbanden ihn mit Max Jacob, Paul Eluard und René Char, und in den vierziger und fünfziger Jahren veröffentlichte er mehrere kleine Gedichtbände, die 1958 in Je bâtis ma demeure (Ich baue mir eine Behausung) gesammelt erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Jabès’ Ruf als Dichter etabliert, doch war er kaum bekannt, da er außerhalb Frankreichs lebte.
Die Suez-Krise 1956 änderte alles für Jabès – sowohl in seinem Leben wie in seinem Werk. Vom Nasser-Regime gezwungen, Ägypten zu verlassen und sich in Frankreich niederzulassen, verlor er seine Heimat und seinen ganzen Besitz – und empfand zum ersten Mal die Bürde, Jude zu sein. Bis dahin war sein Judentum nicht mehr als eine kulturelle Tatsache gewesen, ein zufälliges Element seines Lebens. Jetzt hatte er leiden müssen, nur weil er Jude war; er war der Andere geworden, und dieses plötzliche Erlebnis des Exils sollte sich in seiner Literatur in eine metaphysische Selbst-Darstellung verwandeln.
Schwierige Jahre folgten. Jabès fand eine Stellung in Paris und konnte nur auf der Hin- und Rückfahrt zu seinem Arbeitsplatz in der Metro schreiben. Als Gallimard, nicht lange nach seiner Ankunft, Jabès’ gesammelte Gedichte veröffentlichte, war dieses Buch weniger die Ankündigung von etwas Zukünftigem als eine Grenzmarke zwischen seinem neuen Leben und dem, was nun unwiderbringlich Vergangenheit war. Jabès begann, jüdische Texte zu studieren – den Talmud, die Kabbala –, und auch wenn diese Lektüre nicht zu einer Rückkehr zu den religiösen Lehren des Judentums führte, so war sie für Jabès doch ein Weg, seine Bindung an jüdische Geschichte und jüdisches Denken zu festigen. Mehr als die Primärquelle der Thora waren es die Schriften und rabbinischen Kommentare der Diaspora, die Jabès bewegten, und er begann, in diesen Büchern eine eigene Stärke der Juden zu sehen, etwas, das sich – buchstäblich – in eine Weise des Überlebens umsetzte. In der langen Zeit zwischen dem Exil und dem Kommen des Messias war aus dem Volk Gottes das Volk des Buches geworden. Das hieß für Jabès, daß das Buch das ganze Gewicht und die Bedeutung einer Heimat bekommen hatte.

(…)

Paul Auster, Bogen 30. Edmond Jabès Schreiben als Exil, „Dieser Text ist verschwunden.“, 1989

Carl Hanser Verlag, 1989

„Es gibt immer ein Buch im Buch im Buch…“

– Paul Auster im Gespräch mit Edmond Jabès. –

Paul Auster: Die Leser halten Sie für einen französischen Schriftsteller, aber tatsächlich wurden Sie in Ägypten geboren und kamen erst 1956, während der Suez-Krise, im Alter von 44 Jahren nach Frankreich. Ich habe mir oft überlegt, daß Das Buch der Fragen wohl nie geschrieben worden wäre, wenn Sie in Ägypten hätten bleiben können.

Edmond Jabès: Ja, ich denke, es ist wichtig, das zu erwähnen. Außer den paar Jahren, die ich als Student in Frankreich verbrachte, habe ich immer in Ägypten gelebt. Ich bin in Ägypten aufgewachsen, ich habe in Ägypten geheiratet, und ich habe in Ägypten Gedichte geschrieben… Ich habe sozusagen immer an den Rändern gelebt, obwohl meine frühen Gedichte den Surrealisten sehr nahe standen und viele meiner Freunde Surrealisten waren. Eluard zum Beispiel wollte unbedingt, daß ich mich der Gruppe anschließe, aktiv an ihrer Bewegung teilnehme. Aber ich habe mich immer geweigert, mich welcher Gruppe auch immer anzuschließen. Schon von den allerersten Anfängen an fühlte ich, daß man die Risiken des Schriftstellers allein tragen muß. Die Vorstellung, diese Risiken teilen zu können, empört mich. Damit wird einem etwas sehr Wichtiges genommen, denn was mich betrifft – wo kein Risiko ist, da ist auch kein Schreiben.

Auster: Aber als Individuen waren die Surrealisten wichtig für Sie, als individuelle Schriftsteller…

Jabès: Sehr wichtig. Und ich spürte, daß mein Werk dem ihren verwandt war… Ich muß auch sagen, daß Max Jacob mein erstes Vorbild war. Max Jacob gab mir außerordentliche Lektionen in Poesie. Wir trafen uns 1935 und haben bis zum Krieg, bis 1940 korrespondiert. Ich schulde ihm wirklich viel… Natürlich hatten die Surrealisten einen großen Einfluß auf meine Arbeiten, aber es gab auch wesentliche Unterschiede. Wenn ich jetzt auf meine frühen Gedichte zurückblicke, verblüfft es mich, wie sehr sie schon auf Das Buch der Fragen vorauszuweisen scheinen. Zum Beispiel auf die Aphorismen, obwohl ich damals noch keine Ahnung davon hatte… Aber wie Sie sagen, ich glaube, daß ich Das Buch der Fragen nicht geschrieben hätte, wenn ich in Ägypten geblieben wäre. Dieser Bruch in meinem Leben war wichtig für meine Erfahrung von Ägypten, meine Erfahrung der Wüste, damit sie auf diese Weise in mein Schreiben einfließen konnten. Diese Bücher entstanden als Folge jenes Bruches… als Folge meiner Vertreibung aus jenem Land, weil ich Jude war. Eines Tages wurde mir gesagt, so ist es, Sie müssen fort. Gut. Es war eine kleine Tragödie für mich und meine Familie. Auf einer persönlichen Ebene war es sehr ernst, natürlich, aber in einem weiteren, menschheitlichen Sinn, als Teil der Geschichte jüdischer Leiden, war es nur eine kleine Tragödie. Aber da stand ich nun, weder praktizierender, noch gläubiger Jude, aber zur Emigration gezwungen, weil ich Jude war…

Auster: Sind Sie in einer religiösen Familie aufgewachsen?

Jabès: Nein. Unsere Familie war sehr bürgerlich. Wir haben uns immer als Juden betrachtet, aber nicht mehr. Mein Vater hat nicht wirklich an Gott geglaubt, und er hat nur wenige jüdische Bräuche befolgt. Wir wuchsen in einer Atmosphäre völliger Freiheit auf…

Auster: Erhielten Sie keine jüdische Unterweisung?

Jabès: Nein, keinerlei. Aber die Tatsache, plötzlich einer Bedingung unterworfen zu sein, der Bedingung, jüdisch zu sein, hat alles für mich verändert. Ich wurde mit neuen Problemen konfrontiert, und das brachte mich auf eine völlig neue Art des Fragens. In gewissem Sinne war es der Ursprung der Bücher, die dann folgten…

Auster: Man könnte Ihre Situation mit der der amerikanischen Juden vergleichen. Sie wußten, was geschah, aber Sie waren nicht unmittelbar bedroht…

Jabès: Ja, genau so war es. Das ist ein sehr guter Vergleich… In Ägypten haben sich die Dinge erst nach Kriegsende verschlechtert. Nach der Proklamation des Staates Israel 1948 wurde die Situation der Juden sehr schlecht. Die Propaganda-Attacken begannen. Zunächst gegen die „Zionisten“, doch sehr schnell wurde das Wort „Zionisten“ durch das Wort „Juden“ ersetzt. Das Volk, das ägyptische Volk begriff eigentlich gar nicht, was geschah. Wenn Sie aufgerufen wurden zu demonstrieren oder jüdische Geschäfte anzugreifen und anzuzünden, taten sie es, natürlich, aber nur, weil sie in großer Armut lebten und dies ein sozusagen offiziell genehmigter Weg war, ihrem Unmut Luft zu machen. Aber ich kann nicht wirklich behaupten, daß das einfache Volk zutiefst antisemitisch gewesen wäre. Die Anführer waren die Intellektuellen und die Studenten… mit einer wirren Mischung aus Marxismus, Nazismus und einem Mischmasch anderer Ideen. Die Juden waren natürlich die ersten, die angegriffen wurden, weil Israel als Feind des ganzen Mittleren Ostens, aller arabischen Länder galt. Da die arabischen Länder untereinander nicht zurechtkamen, kam ihnen Israel als Sündenbock gelegen. Und nach und nach wurden in diesen Köpfen alle Juden zu Israelis… Man machte keinen Unterschied mehr. Mit jedem Krieg wurde die Situation schlimmer. Und 1956 war es nicht länger möglich zu bleiben.

Auster: War die Idee des Staates Israel eine Versuchung für Sie? Haben Sie, zum Beispiel zwischen 1948 und 1956, daran gedacht, dorthin zu ziehen?

Jabès: Nein, niemals. Ich habe Israel nie für eine Lösung des Problems gehalten. Nicht weil ich gegen Israel wäre… ganz im Gegenteil. Aber ich halte es für falsch, darin die einzig mögliche Antwort zu sehen… Auf der einen Seite gibt es das Israel der jüdischen Geschichte, den uralten Traum von Israel, und auf der anderen Seite gibt es den Staat Israel, ein Land unter vielen anderen Ländern der heutigen Welt. Das ist nicht dasselbe…

Auster: So fiel Ihre Wahl unvermeidlich auf Frankreich.

Jabès: Es war unvermeidlich, weil Französisch meine Sprache ist, die Sprache meiner Bücher. Ich wurde überall in Frankreich sehr freundlich empfangen. Aber ich könnte unmöglich behaupten, daß Frankreich mein Land ist, daß es meine Landschaft ist… Ich fühle mich ein bißchen verloren in Paris, obwohl ich hier von Freunden umgeben bin und es mir gut geht. Es ist nicht meine Landschaft, nicht mein Ort, mein wahrer Ort. In einem gewissen Sinn durchlebe ich jetzt die historische Bedingung des Jude-Seins. Das Buch ist mein wahrer Platz geworden… praktisch mein einziger Platz. Diese Idee ist für mich äußerst wichtig geworden, so sehr sogar, daß die Bedingung, ein Schriftsteller zu sein, nach und nach für mich fast dasselbe geworden ist wie die Bedingung, Jude zu sein. Ich empfinde es so, daß jeder Schriftsteller auf eine gewisse Weise diese Bedingung des Jude-Seins durchlebt, weil jeder Schriftsteller, jeder Schöpfer, in einer Art von Exil lebt. Und für den eigentlichen Juden, den Juden, der unter der Bedingung des Jude-Seins lebt, ist das Buch nicht nur zu dem Ort geworden, wo er am ehesten sich selbst finden kann, sondern auch der Platz, an dem er seine Wahrheit findet. Das Befragen des Buches für den Juden ist, wie Sie wissen, eine Suche nach der Wahrheit. Und diese Wahrheit ist auch die Wahrheit des Schriftstellers. Wenn der Schriftsteller das Buch befragt, so allein, um in die Wahrheit des Buches einzudringen, die seine Wahrheit ist…

Auster: Was dem Leser Ihrer Bücher zuerst auffällt, ist die Typographie… Sie setzt den Rhythmus des Werkes und verstärkt das Gefühl der Aufsplitterung, das Sie im Text selbst erschaffen. Ist diese typographische Differenzierung systematisch angelegt, oder entsteht sie mehr oder weniger unbewußt?

Jabès: Manchmal ist sie einfach da, aber meistens erfordert sie richtige Arbeit. Ich habe mir das nicht vorher überlegt, aber wenn der Text fortschreitet, kommen Dinge aus immer weiterer Ferne, wie aus einem anderen Buch oder aus dem Buch im Buch… und das sind die kursiven Texte. Die längeren Passagen gehören im allgemeinen zum eigentlichen Buch, zum Buch, das geschrieben wird, und sie sind da, um die Geschichte fortzuführen oder das Fragen fortzuführen… Aber die kursiv gesetzten Texte sind ebenfalls ein Buch, eines, das zur gleichen Zeit geschaffen wird, während das andere Buch geschaffen wird. Es gibt immer ein Buch im Buch im Buch…
Was die Verteilung der langen und kurzen Passagen betrifft, so ist dies eine Frage des Rhythmus. Das ist sehr wichtig für mich. Ein abgeschlossener Satz, eine lyrische Phrase, das ist etwas mit einem langen Atem, das erlaubt einem, tief zu atmen. Dann gibt es andere Stellen, an denen das Werk sich auf sich selbst bezieht, und der Atem wird kürzer, das Atmen wird schwierig. Man sagt, daß Nietzsche Aphorismen schrieb, weil er unter furchtbaren Kopfschmerzen litt, die es ihm unmöglich machten, viel auf einmal zu schreiben. Ob das wahr ist oder nicht – ich glaube, daß ein Schriftsteller mit seinem Körper arbeitet. Jeder Mensch lebt mit seinem Körper, und das Buch ist vor allem ein Buch seines Körpers. In meinem Fall entsteht der Aphorismus, Sie können es auch den nackten Satz nennen, aus der Notwendigkeit, die Worte mit weißem Raum zu umgeben, um sie atmen zu lassen. Wie Sie wissen, leide ich unter Asthma, und das Atmen fällt mir manchmal sehr schwer. Indem ich meinen Worten Luft gebe, habe ich das Gefühl, leichter zu atmen…

Auster: Was das erzählerische Element im Buch der Fragen betrifft… die fragmentarische Art des Erzählens: ist das eine bewußte Wahl, oder halten Sie es einfach für unmöglich, eine Geschichte in traditioneller Weise zu erzählen?

Jabès: Weder das eine noch das andere. Meiner Meinung nach bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, sie zu verlieren. Wenn ich Ihnen zum Beispiel detailliert über mein Leben erzähle, entflieht es in die Details, die ich für diesen Bericht ausgewählt habe. Im Leben haben Sie keine Wahl. Woher wissen Sie, was am wichtigsten ist? Eine Geschichte begrenzt das Leben einer Person auf das, was ein anderer über diese Person sagen kann. Er ist groß, er ist klein, er ist dies, er ist das. Selbst wenn das alles wahr ist, bleibt noch etwas anderes. Und da man nicht alles sagen kann, bleibt immer noch etwas anderes. Aber wenn ich sage: Er ist hier geboren, er ist hier gestorben, beginnt sich ein ganzes Leben abzuzeichnen, ein Leben, das man sich vorstellen kann…

Auster: Was Sie sagen, bedeutet doch, daß das traditionelle Erzählen Sie nicht interessiert.

Jabès: Das Buch der Fragen beruht auf der Idee, daß wir alle mit Wörtern leben, die von uns Besitz ergreifen. Es besteht kein Zweifel, daß emotional besetzte Wörter wie „Tod“ oder „Liebe“ nicht für jeden genau dieselbe Bedeutung haben. Hinter diesen Wörtern sehen wir unsere eigenen Geschichten von Tod und Liebe. Um auf die Geschichte in dem Buch zu kommen – ich wollte nur das Leben und die Tragödie dieses Paares aufzeigen. Es ging nicht darum, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, denn letztendlich war es nicht ihr Leben, das mich interessierte…

Auster: Sie sprachen von besitzergreifenden Wörtern. Es gibt etwa ein Dutzend Wörter und Themen, die beständig wiederholt werden, auf fast jeder Seite Ihres Werkes: Wüste, Abwesenheit, Schweigen, Gott, Nichts, die Leere, das Buch, das Wort, Exil, Leben, Tod… und es fällt mir auf, daß jedes dieser Wörter in gewissem Sinn ein Wort jenseits des Sprechens ist, eine Art Grenze, etwas fast nicht Sagbares.

Jabès: Genau. Aber zugleich, auch wenn es Dinge sind, die man nicht ausdrücken kann, sind es doch Dinge, die eine Bedeutung haben. Wir können sie nicht loswerden. Für mich ist es zum Beispiel unmöglich, mich von dem Wort „Jude“ zu befreien, oder dem Wort „Gott“. Das hat anfangs zu beträchtlichen Mißverständnissen geführt. Wozu Gott, fragten die Leute, wenn Sie nicht an Gott glauben? Wie Sie wissen, gibt es in Frankreich Leute, die sich Materialisten nennen und Angst haben, Worte wie „Gott“ auszusprechen. Ich finde das idiotisch. Das Wort „Gott“ steht im Lexikon, es ist ein Wort wie jedes andere. Ich habe keine Angst vor dem Wort „Gott“, weil ich keine Angst vor diesem Gott habe… Was ich in meinem Werk mit Gott meine, ist etwas, auf das wir stoßen, ein Abgrund, eine Leere, etwas gegen das wir machtlos sind. Es ist eine Ferne… die Ferne, die immer zwischen den Dingen ist… Wohin wir gehen, wohin wir kommen, immer bleibt noch diese Entfernung zu überbrücken: Und einmal kommt der Moment, wo man die Entfernung nicht mehr überbrücken kann; man kommt an und sagt sich, es ist zu Ende, es gibt keine weiteren Worte. Gott ist vielleicht ein Wort ohne Worte. Ein Wort ohne Bedeutung. Und das Außerordentliche ist, daß Gott in der jüdischen Überlieferung unsichtbar ist, und um diese Unsichtbarkeit zu unterstreichen, hat er einen unaussprechbaren Namen. Was ich wahrhaft phantastisch finde, ist, daß man, wenn man etwas „unsichtbar“ nennt, etwas benennt, und das bedeutet, daß man damit fast eine Darstellung des Unsichtbaren gibt. Anders gesagt, wenn man „unsichtbar“ sagt, weist man auf die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren; dafür gibt es Worte. Aber wenn man das Wort nicht sagen kann, steht man vor gar nichts. Und für mich ist das sogar noch gewaltiger, weil letztlich etwas Sichtbares im Unsichtbaren ist, so wie etwas Unsichtbares im Sichtbaren ist. Und das, das hebt alles auf…

Auster: In gewissem Sinn werden alle diese Worte zu demselben Wort, und enden damit, sich gegenseitig zu zerstören.

Jabès: Sie zerstören sich gegenseitig, indem sie sich gegenseitig befragen, indem sie sich auf die Leere zubewegen. An einer Stelle schreibe ich: „Die Wahrheit ist vielleicht diese Leere“, und ich meine damit das, was es auch immer sei, was an der Grenze zur Wahrheit steht. Es gibt ein ständiges Zurückweichen, ein ständiges Abschälen von Schichten, ein Entblättern des Namens, bis der Name ein unaussprechlicher Name wird… Das hat nichts mit Nihilismus zu tun, obwohl verschiedene Leute mich des Nihilismus bezichtigt haben. Es ist das innerste Wesen meines Werkes… dieses ständige Befragen der Dinge, um schließlich zu sagen: Was ist Identität? Was sind wir? Was ist der Name? Dieser Name, den wir tragen, was bedeutet er?…
Ich behaupte nicht, Antworten zu haben; ich stelle Fragen. Wenn ich der Frage einen besonderen Rang einräume, so deshalb, weil ich in der Natur der Antwort etwas Unbefriedigendes finde. Sie kann uns nie vollständig enthalten. Außerdem, und das empfinde ich als sehr wichtig, bedeuten Antworten immer eine gewisse Form von Macht. Während die Frage eine Form von Nicht-Macht ist. Aber eine sehr subversive Nicht-Macht, etwas… das die Macht erschüttern wird. Macht schätzt keine Diskussionen. Macht bestätigt, und sie hat entweder Freunde oder Feinde. Während die Frage dazwischen steht…
Ein junger Student, der eine Arbeit über meine Bücher schrieb, hat mich einmal gefragt, ob man eine Lehre aus meinem Werk ziehen könne. Keine, wie auch immer, war meine Antwort. Ich glaube, wenn meine Bücher dem Leser etwas sagen, dann das, daß er die Last, die ihn bedrückt, auf sich nehmen, daß er sein Fragen bis zum Ende weiterführen soll. Und das heißt, sich selbst in Frage zu stellen, nicht wahr? Bis zum letzten.

Bogen 30. Edmond Jabès Schreiben als Exil, „Dieser Text ist verschwunden.“, 1989

Carl Hanser Verlag, 1989

Wissen ist Fragen

– Über Edmond Jabès. –

Seit langem schon ist die französische Lyrik der Gegenwart für uns eine große Unbekannte. Vereinzelten Initiativen von Übersetzern und Verlegern verdanken wir die Kenntnis ebenso vereinzelter Namen, die teilweise Namen geblieben sind: Yves Bonnefoy, Eugène Guillevic oder Philippe Jaccottet. So wäre ohne den Wagemut des vor drei Jahren gegründeten Berliner Alpheus Verlages wohl auch nicht so bald ein Band von Edmond Jabès übersetzt worden – ein Autor, auf den vorher hierzulande allenfalls Leser von Jacques Derridas Essaysammlung Die Schrift und die Differenz hätten aufmerksam werden können.
Jabès ist Jude (Jabès heißt die Stadt in Gilead, die König Saul, dem Alten Testament zufolge, von der Belagerung durch die Ammoniter befreite). Er wurde 1912 in Kairo geboren und erhielt, obwohl italienischer Abstammung, eine französische Erziehung. Nach der Suezkrise mußte er Ägypten 1957 verlassen und lebt seitdem in Paris. 1949 veröffentlichte er die Gedichtsammlung La Voix de l’encre (Die Stimme der Tinte), zehn Jahre danach Je bâtis ma demeure (Ich baue meine Wohnstatt) und 1963 Le Livre des questions, Das Buch der Fragen – das erste von sieben Büchern eines zusammenhängenden großen Werkes (das 1973 abgeschlossen worden ist).
Anfang 1980 hat Jabès ein zweites lyrisches Großprojekt beendet, das dreiteilige Buch der Ähnlichkeiten, aus dem Felix Philipp Ingold zweimal Übersetzungsproben vorgelegt hat. Sie waren mit Hinweisen auf einen Schriftsteller verbunden, dessen Werk zwar zyklische Geschlossenheit anstrebt, zugleich aber als eine fortlaufende Demonstration der Unmöglichkeit gelesen werden muß, einen literarischen Text jemals abzuschließen, und das in mehrerlei Hinsicht. Dieses scheinbare Paradox, das jedem Schreiben zugrunde liegt, über jedem Schreiben schwebt, ist ein durchgehendes Thema von Edmond Jabès. Es wird durch die Bedeutung verstärkt, die er dem Buch beimißt, dem Buch, wie es Stéphane Mallarmé in einer äußersten Überhöhung des L’Art pour l’art-Gedankens zum Endzweck allen Weltgeschehens erklärt hatte.
Während jedoch bei Mallarmé vom Absolutheits-Status des Buches auch auf den Dichter ein starker Abglanz fällt, ist bei Jabès – ähnlich wie bei dem schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer – der Dichter zum Verschwinden verurteilt, zum Verschwinden hinter seinem Text. „Das Leben des Schriftstellers“ – so heißt es im Buch der Fragen – „erhält seinen Sinn durch das hindurch, was er äußert, was er schreibt, und was von Generation zu Generation überliefert werden kann. / Und was übrigbleibt, ist manchmal in einem Satz, in einem Vers zusammengefaßt. / Da ist die Wahrheit. / Aber welche Wahrheit? / Wenn ein Satz, ein Vers das Werk überlebt, ist es nicht der Autor, der ihnen, auf Kosten der anderen, diese einzigartige Möglichkeit gab, sondern der Leser. / Da ist die Lüge. / Der Autor erlischt vor dem Werk, und das Werk ist dem Leser tributpflichtig.“ Anders gesagt: Der Text des Buches, das Geschriebene, erhält seinen Sinn erst durch die und in der Arbeit des Lesers, dem der Dichter so etwas wie eine Partitur liefert. „Einzig der Leser ist wirklich“, schreibt Jabès in Je bâtis ma demeure.
Der Gedanke ist nicht neu; er ist sogar schon zum Topos moderner Linguistik und Texttheorie mit ihren Kommunikationsmodellen geworden. Neue und einmalige Aspekte verleiht Jabès ihm dadurch, daß er ihn mit der Überlieferung jüdischer Schriftgelehrsamkeit und Gotteskunde verknüpft. Denn einesteils bringt das Fragen nach Gott bestenfalls Teilantworten, erweist sich somit als unzulängliches Annäherungsmittel („Fragen stellen […] bedeutet, den Weg der Verzweiflung einzuschlagen“, vermerkt Jabès) – andernteils macht erst ständiges Fragen den Menschen und den Dichter aus:

Eine Existenz ist eine Zeichenbefragung.

Und umgekehrt, auf das Ziel des Fragens, auf Gott bezogen, heißt es:

GOtt ist eine Befragung GOttes.

Solche Überlegungen zu Poetik und Poetologie werden beherrscht von Zweifeln am Vermögen der Sprache und der Wörter – der Wörter, von denen Jabès meint, ihre Seele sei das Schweigen, was gleichfalls an ästhetische Paradoxe Mallarméscher Prägung gemahnt. Doch ist Das Buch der Fragen kein Traktat. Die Intellektualität rabbinischer Traditionen verschmilzt darin mit dem sinnlichen Lyrismus des Hohenliedes, und Edmond Jabès selber nennt es den „Bericht von einer Liebe, zerstört von den Menschen und von den Wörtern“; er nennt es den „Roman von Sarah und Yukel“.
Über die beiden, über Sarah Schwall und Yukel Serafi, erfährt der Leser, daß Sarah die Tochter eines Antiquitätenhändlers, eines französischen Juden, ist und daß sie als junges Mädchen Lehrerin werden wollte. Ihre Eltern sind von den Deutschen verschleppt und vergast worden, während sie selber zwar der Massenvernichtung entkommen und nach Frankreich zurückkehren kann, aber geistesgestört bleibt. Yukel Serafi hingegen ist keine konkrete Person der Erzählung, keine, der genaue biographische Daten zugeordnet werden. Schon Sarahs Vater hat ihr von ihm erzählt, und Yukels Gespräche mit ihr, die man zutreffender als Wechselgesänge bezeichnen könnte, scheinen in Sarahs Wahnwelt geführt zu werden. Yukel ist, mit den Worten von Edmond Jabès, „der Zeuge“; er ist einer, der „oft zum Eingreifen aufgerufen“ wird und der von sich sagt:

Ich habe kein Land. Ich bin Yukel Serafi, dessen Leben die Geschichte ist.

Zum Erzählen wird Yukel immer wieder von imaginären Rabbinern aufgefordert, und so durchzieht das Buch ein mehrstimmiges Wechselgespräch, in dem Yukel bald als Verkörperung des Dichters, bald als Verkörperung des Juden schlechthin spricht. Tatsächlich besteht nach Jabès zwischen beiden eine sehr enge Verwandtschaft, zumal auf dem historischen Hintergrund der Judenermordung durch die Nationalsozialisten (Auschwitz sei für ihn nicht nur der Gipfel des Grauens, sondern auch die Falliterklärung unserer Kultur, hat er 1981 in einem Zeitungsinterview geäußert). So spricht er im Buch des Abwesenden von der Schwierigkeit, „Jude zu sein, die sich mit der Schwierigkeit, zu schreiben, vermischt, denn Judentum und Schreiben sind das gleiche Warten, die gleiche Hoffnung, die gleiche Abnutzung“. Für das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Juden und Dichtern findet Jabès eine Fülle poetischer Formeln. Der einleuchtendste Begriff, auf den sie sich bringen lassen, ist der Begriff der Auserwähltheit, im Positiven wie im Negativen. Wie Jacques Derrida geschrieben hat:

Der Jude, der die Schrift wählt, die den Juden auserwählt, in einem Austausch, durch den die Wahrheit vollauf in Geschichtlichkeit übergeht und sich die Geschichte in ihrer Empirizität bestimmt.

Zugleich ist der Jude immer wieder der auserwählte Verfolgte der Geschichte gewesen. Und auch der Dichter ist auserwählt und verfolgt in einem, verfolgt nämlich durch die Wörter. In Jabès’ Buch der Ähnlichkeiten heißt es dazu:

Ich glaube. Ich schreibe; glaubt aber das Buch an mich? Käme man doch nur so weit, daß einen die Wörter für glaubhaft hielten. Man muß ihnen ein Unterpfand bieten.

Obwohl der Dichter die Wörter selber hervorbringt, ist er ihnen Rechenschaft schuldig, er verdankt ihnen seine Existenz; und das ließe sich dahin zuspitzen, daß der Text den Dichter nur erschafft, um ihn abzuschaffen – genau dasselbe, was die Geschichte mit dem Juden tut.
Die zwei umfangreichsten Teile des Buches der Fragen heißen Das Buch des Abwesenden und Das Buch des Lebenden. Sie sind, wie auch die zwei einleitenden Teile, mehrfach untergliedert, und zwar in vorwiegend kurze formale Einheiten: teils Dialoge, teils aphorismenhafte Prosaabschnitte. Obwohl Jabès zur Charakterisierung seines Werkes annäherungsweise die Wörter „Bericht“ und „Roman“ verwendet, fehlt ein durchgehend erzählerischer Zusammenhang. Wie es seiner Vorstellung vom mitschaffenden und ergänzenden Leser entspricht, setzt er vielmehr in sehr weitgehendem Maße auf die Assoziationen und Verbindungen, die ein solcher facettenhafter Aufbau zwischen den Einzelteilen und -zeilen schafft. Was das Buch an begrifflichen Implikationen, an Querverbindungen und Rückverweisen auf die poetologischen Topoi aus der Tradition französischer Lyrik enthält, ist mehr angedeutet als ausgedrückt. Einem auch nur flüchtig vorinformierten Leser dürfte es allerdings nicht leichtfallen, ganz davon abzusehen, ebensowenig wie von den Deutungen, die Edmond Jabès und sein Werk inzwischen erfahren haben – diejenige Jacques Derridas ist nur eine davon, wenn auch sicherlich die in intellektueller Hinsicht anspruchsvollste.
1975 hat Jabès den schmalen Band Es nimmt seinen Lauf (Ça suit son cours) veröffentlicht. Er ist Ende 1981 auch auf deutsch erschienen, und im Klappentext des Suhrkamp Verlages steht, er sei „als Selbstkommentar des Autors zum Buch der Fragen zu lesen“. Tatsächlich hat Jabès in den dreizehnten, den letzten Teil des Bandes (mit der Überschrift „Die Absolutheit des Todes“) einen „Brief Sarahs an Yukel“ und einen „Brief Yukels an Sarah“ aufgenommen; an anderer Stelle ist von einem „Rabbi Av“ die Rede, „der seinen Platz in meinem Buch der Fragen nicht gefunden hat“, und auch sonst enthält Es nimmt seinen Lauf Aufzeichnungen, die als Nachträge oder als Erläuterungen zum Buch der Fragen gedeutet werden können – großenteils freilich nicht sehr viel mehr als in dem Maße, wie sich das von allem sagen läßt, was Jabès schreibt.
Durch sein ganzes Werk nämlich läuft jene Bewegung „unablässigen Befragens der Letter und des Zeichens“, von dem er selber in Es nimmt seinen Lauf spricht. Allerdings gibt er ihm darin eine besondere Wendung: Jabès befragt zeitgenössische Autoren, führt Zitate von ihnen an und gibt damit Themen vor, denen er – sozusagen als Variationen – seine eigenen Gedanken dazu folgen läßt. Es sind Autoren, die bei uns unterschiedlich gut bekannt sind; zu den bekannteren gehören Georges Bataille, Maurice Blanchot (aus einem Zitat von ihm stammt der Titel Ça suit son cours), ferner Gabriel Bounoure, Roger Caillois, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Emmanuel Levinas, Maurice Nadeau (ihm ist der Band gewidmet) und Jean Starobinski.
Auffallend breiten Raum nimmt der Teil ein, der Michel Leiris gewidmet ist. Unter dem Titel „Die Bedingung des Spiels“ stellt Jabès Leiris-Zitate zusammen, die vor allem dessen Metapher von der Literatur als Stierkampf in Erinnerung rufen. Danach gibt es kein ernsthaftes Schreiben ohne „ethische Idee“; ein literarisches Werk enthält erst dann Verbindlichkeit, wenn es vom ständigen Bewußtsein der Präsenz (oder wie Jabès formuliert; der „Absolutheit“) des Todes getönt und getragen ist. Wie der Torero hat der Schriftsteller gewisse Regeln zu befolgen; wie der Torero auch muß er im entscheidenden Augenblick – dem Augenblick des Todesstoßes – seine Deckung verlassen und sich in die tödliche Nähe des Stierhorns begeben, das heißt, er muß seine Selbstentblößung auch und gerade dann noch weitertreiben, wenn sie in Selbstzerstörung übergeht. Bei Jabès klingt das nach in Zeilen, worin er von der „Wunde“ spricht, „welche das gerächte Horn hinterließ“, und in einer zweiten lyrischen Sequenz schreibt er:

Mit zwei Federn schreiben,
mit zwei gemeisterten Hörnern.

Es spricht für den künstlerischen Rang von Edmond Jabès, daß sich Werke wie Das Buch der Fragen auch ohne Parallelen zu solchen literarischen Zeitgenossenschaften mit ihrem theoretischen Hintergrund erschließen. Er gebraucht Metaphern aus einer Bilderwelt, die im Umkreis der Bibel liegt, und was er über sein Volk und über das Schicksal dieses Volkes in jüngerer und jüngster Vergangenheit sagt, trifft uns nicht nur deshalb auf so unmittelbare Weise, weil wir darein so tief verwickelt sind; es erreicht uns, weil es nicht Rede geblieben, sondern Sprache geworden ist. 

Hanns Grössel, Merkur, April 1982

 

 

Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

 

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Wolfgang Matz: Mit fremden Blick, Die Zeit, 2.12.1994

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Felix Philipp Ingold: Innere Echos
Neue Zürcher Zeitung, 14.4.2012

 

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Nachruf auf Edmond Jabès: NZZ

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