eingerollt hat sich der tag, der erste
der richtig hell wurde; jetzt
liegen flächen im dunkel und die häuser
halten den schnee
die erinnerung einzuholen
jenseits der weißen dachkanten
stimmen, geräusche
aus dem hintergrund
der geschichten, die kurz
in der dämmerung aufleuchten
kahl sind die flächen, kaum sichtbar
unter der luft
die ränder verschieben sich täglich
Nico Bleutge liest und führt ein Gespräch mit Thomas Lehmkuhl. Ursula Haeusgen eröffnet die Veranstaltung im Lyrik Kabinett München.
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Das Gedächtnis ist ein stummes Archiv, in das nur die Erinnerung und die Wörter Leben hineinbringen. Doch das Erinnern liefert keine festen Bilder oder Geschichten, es sind nur Späne, Sprachsplitter und kleine Impulse, die aufleuchten, um sich bald schon zu verändern. Nico Bleutges Gedichte folgen dieser Bewegung mit ihrem Rhythmus und ihrem Klang, immer nah an der Wahrnehmung, immer nah an den Rißlinien von Sprache und Welt:
was sich da häutet,
schichtet, nah sich aufeinander schiebt.
das kriecht die wirbel noch entlang,
drückt nach in den knochen
In seinem zweiten Band erkundet der junge Lyriker zwischen eigener Geschichte und Landschaften das Terrain der Erinnerung, über die Uwe Johnson einmal geschrieben hat, sie gleiche einer mächtigen grauen Katze hinter Fensterscheiben, unnahbar, stumm und verlockend. Und er knüpft da an, wo er mit seinem vielgelobten Erstling klare konturen aufgehört hat. Seine neuen Gedichte führen in die Vergangenheit hinein, machen historische Schichten und Stimmen lesbar, von der Zeit des Barock bis zu den Resten des Zweiten Weltkriegs auf der Insel Sylt.
In einem unverwechselbaren Ton zeigen die Verse so, was ein Gedicht eigentlich leisten kann: Feineinstellungen an Sprache und Wahrnehmung.
Das sprechende Auge
– Auf der Höhe: Nico Bleutges Gedichtband fallstreifen. –
Mal freundschaftlich, mal grob rivalisieren sie derzeit in der deutschsprachigen Lyrik um den Vorrang: das Auge und das Ohr. Der Rhythmus zieht alle Register, um im Poetry Slam zu punkten. Vor Publikum wird er gern zum Schlagzeuger, der die Sprache im schnellen Beat über die Bühne treibt, tänzelnd über halsbrecherischen Reimen. Aber auch auf dem Papier umschmeichelt er die inneren Ohren seit geraumer Zeit wieder mit allem, was er aufzubieten hat. Und dazu gehören längst auch wieder die alten Strophenformen und klassischen Versmaße, bis hin zum Alexandriner.
Der Lyriker Nico Bleutge, 1972 in München geboren, hat schon in seinem Debütband keinen Zweifel daran gelassen, wo er hinwill: Klare Konturen (2006) hieß das schmale Buch. Nicht nur in den Gedichttiteln – „peilung“, „nachmittag, wechselnde sicht“, „honigwarme pupillen“ – war das Auge allgegenwärtig. Die Gedichte selber traten so auf, als gäbe es das imaginäre Wesen, das in der modernen Lyrik souverän jedes Metrum und jeden Reimzwang außer Kraft setzt: das sprechende Auge.
Diesem Fabelwesen der klassischen Moderne schien in Bleutges Debüt alles zum Bild zu werden:
wolkiger himmel, am bildrand liegen äste aus
gestreckt über dem wasser…
Da war in der Landschaft der Rahmen schon mitgesehen, und in den Bildgedichten auf Gemälde von Edward Hopper glitten die Worte an den Umrissen der Platzanweiserin im Kino entlang oder an den Beinen der Frau, die aus dem Fenster schaut. Aber zugleich war in diesen Gedichten die Einsicht enthalten, dass sie selbst Bild im Wortsinn nie werden können.
Wäre es anders, so wäre Nico Bleutge ein schlechterer Dichter. Einer, der an den Mythos vom sprechenden Auge glaubt und sich darauf verlässt, es reiche aus, die Aneinanderreihung von Worten, denen in der sichtbaren Welt ein Objekt entspricht, als „lyrische Momentaufnahmen” zu verkaufen. Mit solchen Treuherzigkeiten verschont Bleutge seine Leser. „aufgeblitzt” heißt die erste Sequenz in seinem neuen Gedichtband fallstreifen. Aber sie betreibt nicht Mimikry mit dem Flashlight einer Kamera.
Das Partizip Perfekt ist hier ernst gemeint, das Aufblitzen, von dem die Rede ist, längst vergangen:
… sie sagte schnee
die stimme, aufgeblitzt. das bild
sackte in sich zusammen, flackerte
noch einmal auf…
Eine Kindheitserinnerung umschreibt das Gedicht, mit einem knisternden Bildschirm an Sonntagnachmittagen. Um Nachbilder geht es diesem Autor, nicht um die Unmittelbarkeit der Momentaufnahme.
Selten nur ist das scheinbar sprechende, scheinbar mit Erinnerung begabte Auge dabei mit sich allein. Dem genauen Hinschauen entspricht als zweite Voraussetzung dieser Gedichte das Horchen und Lauschen, die Empfindlichkeit für Geräusche, wie am Beginn der eindringlichen Schilderung eines Besuches im Krankenzimmer:
an hände denken, an das netz,
derweil die schwester, unbesprochen,
ins nebenzimmer geht. die stille, fremder
atem durch die wand, der sonntagstee,
der auf dem tisch schon auskühlt,
trübe wird.
so liegt sie da, die augen
offen, und jedes wort zieht unberührt
an ihr vorbei.
Was hier ins Auge fällt, ans Ohr dringt, ist als Situation und Atmosphäre nachgezeichnet. Die Alternative wäre: eine Situation nacherzählen. Alles, was er kann – und er kann viel –, bietet Nico Bleutge auf, um diese Alternative abzuweisen.
Man sollte meinen, wer so sehr auf das genaue Hinschauen, auf das Nachbild setzt, der müsste vor allem auf Evidenz, auf das suggestiv visuelle Reizwort setzen. Aber es steht bei Nico Bleutge nicht im Zentrum. Ja, er hat ein großes Wörterbuch, und es gibt darin, wie in den Gedichten über Vogelschwärme und Küstenlandschaften oder im Abschnitt „wetterzone“ die speziellen Begriffe der Natur- und Wetterkundigen. Einer, die „fallstreifen“ aus dem Gedicht „schnell ziehende wolken“, gibt dem ganzen Band den Titel. Aber die Intensität, mit der hier Lebensmomente, Situationen nachgezeichnet werden, kommt nicht aus dem Wortschatz, schon gar nicht aus dem Einzelwort. Sie kommt aus der unaufdringlichen Rhythmisierung, aus verschatteten Jamben, aus taktvoll im Hintergrund bleibenden, wechselnden Metren, gelegentlich auch aus sparsam verwendeten Reimen.
Nicht nur das Partizip Perfekt, das Partizip überhaupt, spielt dabei eine Hauptrolle. Ins dritte Glied haben demgegenüber die Konjunktionen zurückzutreten. Mit den kausalen verschwindet ein ganzes Prinzip der Konstruktion von Zusammenhängen, mit den temporalen, von denen allenfalls einmal ein „derweil“ auftaucht, verschwindet das Klima des Narrativen, möglichst knapp und unverschachtelt kommen die wenigen Relativsätze daher. Selbst das Komma verzichtet oft darauf, als Verbindung zwischen Sätzen aufzutreten, und doch entsteht nicht der Eindruck parataktischer Reihung:
kurven am himmel
zwei vögel
die sich betasten im flug
der eine tänzelt, schwebt
es zirpt
der andere
dann schlägt er zu
Mit vielen Dichtern – darunter H.C. Artmann und Amy Clampitt, Thomas Kling und Gunnar Ekelöf – dialogisiert Bleutge. In den Anmerkungen sind sie benannt. Besondere Beachtung verdienen die barocken Dichter. Denn zu den Küsten-, Gebirgs- und Industrielandschaften treten in diesem Band die Kriegslandschaften, etwa Spuren des Winters 1939/40 in norddeutschen Dünen. Die Augen werden zu „Brennespiegeln“ wie bei Daniel Caspar von Lohenstein, über das zum „darin“ verknappte „in dem“ und das Partizip eröffnet sich die Sprachlandschaft von Gryphius:
dies endlich stille tal, darin der wind sich dreht
darin das kraut, genährt, zum sitzen
lädt. mich treibts doch auf…
In diesem schmalen Buch ist ein junger deutscher Dichter auf der Höhe nicht nur seiner Zeit.
Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 27.9.2008
Aus der Luft gegriffen
– Kraut und Rüben gleich Gedicht? Rühmkorf irrte: Nico Bleutge triumphiert mit Naturlyrik. –
„Dieser Text ist verschwunden.“
Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2008
Eine Geschichte des Sehens
– Wie Staub riecht (und klingt). –
Das Interesse Nico Bleutges gilt nicht den schönen, vom Vorgefundenen, der Empirie abgelösten Bildern, die durch Einschmelzung seiner Teile gewonnen werden und vom Verstand an übergeordnete Sinnzusammenhänge gebunden werden. Sein erster, vor zwei Jahren erschienener Gedichtband löste sich von Wahrnehmungsformen, die sich der Distanz vom Gegenstand und der Wahl eines Ausschnitts aus dem Blickfeld verdanken. Seine Gedichte verabschieden eine auf Erkenntnis beruhende Sehform und Imaginationstätigkeit, die zur ästhetisch geschauten Natur des Landschaftsbildes hinzuführt, zur auf innere Einheit, Wahrheit und Sinn dringenden Gemäldestudie, Porträt oder Großstadt- und Alltagsbild.
Die Abkehr von der Perspektive, die Befreiung des Blicks und Entdeckung der freien Landschaft sind nicht Bleutges Erfindungen. Aber kaum ein zweiter junger Lyriker vollzieht mit solcher Konsequenz eine Geschichte des Sehens nach, die ins 18. Jahrhundert zurückgeht und mit der Entdeckung der Bewegung im Landschafterlebnis einherging. Damit kam die Ebene menschlicher Zeit ins Spiel, das bewegte Auge, der von Affekten, Gemütsschwankungen mitgesteuerte Wahrnehmungsvollzug, der die Mannigfaltigkeit dessen, was ist, entdeckt, und die Ohnmacht des Auges, die Unzulänglichkeit der Sprache. Beispielhaft für Bleutges Marginalisierung des Zentrums ist sein dem Debütband entstammendes Gedicht „bild der landschaft“, das den Landschaftsprospekt an den Rand schiebt und in die ungegenständlichen Regionen des Räsonnements hinüberschiebt.
Sein nun erschienener zweiter Gedichtband geht einen Schritt weiter. Die programmatische Aussage des Buchs steckt im Eingangsgedicht „aufgeblitzt“, einem 22 Verszeilen langen, kleinteilig zusammengeflickten komplexen Gebilde, dessen Formgedanke noch die Mikrostrukturen der Interpunktion erfasst. Die erste Zeile ruft im Blankvers einen Erinnerungsfetzen auf: „es war von schnee die rede, seiner härte“. Was folgt, ordnet sich um kein Zentrum, lässt keine metrische, rhythmische, syntaktische, klanglich-phonetische Einheit erkennen; jede Zeile hat ihre eigene Struktur. lediglich die Ordnung zu einem breiten Fallstreifen ist erkennbar, der auf den metrisch beschwerten Schlussstein zuläuft: „staubgeruch“.
Die Zersprengtheit und Vielgestaltigkeit der Verse entspricht der Zusammengesetztheit der Zeit-, Sprach- und Redeformen des Gedichts auf der semantisch-morphologischen Ebene. Erinnerung, heißt das, teilt mit dem Staub seine Ungestalt, Ungreifbarkeit und seine nicht unumschränkt zugängliche Stofflichkeit, seine Unverfügbarkeit. Was an Erinnerungen aufblitzt, sind Trümmer, Scherben, Späne, ein zuckender Farbhauch, Geräuschtropfen, ein hauchiger Rest, hautlos, farblos, spurlos an den äußersten Rändern des Sehens, Hörens, Tastens, Riechens. Das Gedächtnis ist bei ihrer Rückholung auf den Zufall angewiesen, den Glücksaugenblick der Madeleine-Episode bei Proust. Das Gedicht „libellenkörper, wie erlegt…“ untersucht in zehn, penibel gegliederten, paarigen Strophen den poetischen Ordnungsvorgang, in dem das Rohmaterial des Gedächtnisses geformt wird. „die nadel wartet schon“ lautet das Resumee des letzten Verses: der poetische Formungsakt ähnelt der Präparierung eines Libellenkörpers, bevor er zuletzt aufgespießt wird. Das letzte Gedicht im letzten der sieben Abschnitte schlägt den Bogen zurück zum Schneemotiv des Beginns. Das Thema der Einkapselung und Unzugänglichkeit von Erinnerungen fasst das Gedicht ins Bild eines am Abend sich einrollenden Tages. Die Erlebnisse des Tages treten den Weg ins Innere der Rolle an oder, im Bild des Gedichts, breiten eine Schneedecke über sich. Das Archiv aber ist unzuverlässig. Das gespeicherte Erinnerungsmaterial wird bearbeitet, die Rohstoffe in die Merkform der „Geschichte“ gebracht: „die ränder verschieben sich täglich“, meldet die letzte Zeile. Das Gedächtnismaterial, das im Tauchvorgang des Erinnerns ans Licht gehoben wird, hat einen Alterungsprozess hinter sich. Es gilt, hinter die „Geschichten“ zurückzugehen und den Hintergrundstimmen und -geräuschen der Geschichten nachzuspüren. Dort warten die authentischen Späne, Splitter, Fetzen, Trümmern, Scherben auf den Gedächtniskünstler. Der Gedichtband Nico Bleutges ist das poetologische Werk eines wunderbar formsicheren, hochreflektierten Lyrikers, der seine Schritte in die Zukunft mit Bedacht setzt und auf den Schultern der Riesen, die vor ihm das Feld der Poesie bestellten. Das zeigt die Liste seiner Hausheiligen im Anhang des Bandes.
Sybille Cramer, Frankfurter Rundschau, 9.12.2009
Sinnliche Präsenz und sprachliche Genauigkeit
– Der 1972 in München geborene Nico Bleutge gehört zu den talentiertesten deutschen Lyrikern seiner Generation. Die FAZ empfand seinen ersten Gedichtband klare konturen aus dem Jahr 2006 als die „bedeutendste Lyrikveröffentlichung in diesem Jahr“. Der mehrfach preisgekrönte Bleutge legt nun seinen zweiten Gedichtband vor. fallstreifen heißt er.
„Fallstreifen“ heißen jene dunkelgrauen Fäden aus Regen, die man aus der Ferne unter schwarzen Wolken am Himmel beobachten kann, Regenfäden, die unter dem Einfluss des seitlichen Windes fortschreiten und zu Schlieren verdunsten, die aussehen wie Kohlestaub, der in Kolonnen schnurstracks zur Erde fällt. Nico Bleutge wählt dieses selten zu sehende Naturphänomen als Titel für seinen neuen Gedichtband. In dem viel von Landschaften und Naturphänomenen die Rede ist. Was kann bei ihm ein Gedicht auslösen? Das ist ganz unterschiedlich. Also es gibt bei fast allen Gedichten irgendwelche Notizen mit kleinen Sprachsplittern, die sich oft abspalten. Oder tatsächlich auch Wahrnehmungen, Beobachtungen, die sich so aus dem alltäglichen Wahrnehmen irgendwie absprengen und die können dann als kleine Notiz ein Impuls sein für ein Gedicht. Das ist aber eine Notiz, die dann oft sehr grobschlächtig noch ist und gar nichts mit dem Gedicht letztendlich zu tun hat, aber vielleicht eine bestimmte rhythmische Struktur schon hat, die ich dann vielleicht versuche für ein Gedicht irgendwie zu übernehmen.
dann, gegen mittag, kommen die ersten
geräusche von der straße herauf. das klopfen von händen
auf stoff, die schnellen kinderstimmen. im gelände
zwischen den wohnblocks, ruhigere
bewegung. flecken wandern, luft schiebt umher
der blick zieht die umrisse nach
auf der hangfläche längs der garagen. Holzzäune
schmale nesselfelder, dahinter das glitzern
der neubaufassaden. kurz nur
hebt wind an, ballt sich
weht sand in die hügelschneisen
hell und markiert bis zum rand
mit signaltafeln, dicht an der sicherheitszone
die sich ausstreckt über die ebene, an den kontrollstellen
kaum mehr zu sehen ist. baumreste bleiben
maschendrahtweiten, der schatten des windrads, der seitlich
über die hausdächer flappt
Nico Bleutges Gedichte sind Landschaftsgedichte in ihrer besten Art. Viel ist von Licht und Schatten die Rede, die Umrisse von Menschen oder Dingen erscheinen oder verschwinden, ein genauer Beobachter hält diese Bewegungen fest. In einer beeindruckenden Intensität. Das meiste wirkt auf den ersten Blick überwältigend schön, spontan und gekonnt und ist doch das Ergebnis harter Arbeit.
Die eigentliche Arbeit die spielt sich dann natürlich schon am Schreibtisch ab und ist sehr viel trockener und viel „langweiliger“ als man sich so vorstellt. Das hat sehr viel mit dem Abklopfen von rhythmischen Strukturen, von Klangmustern zu tun. Auch so mit einem Warten, wohin der Rhythmus denn einen weiterführt, den man sich jetzt für dieses Gedicht vorstellt. Das hat sehr viel auch mit der Arbeit an Wörterbüchern zu tun. Mit Begriffen, die man nachschlagen und vielleicht erst finden muss, erfinden teilweise auch, um so nach und nach – ich arbeite da sehr langsam – den Text in den Griff zu bekommen und so Stück für Stück herauszumeißeln.
„das gleiten empfindlicher stoffe“ heißt es an einer Stelle, und so könnte man Nico Bleutges poetisches Prinzip benennen: Ein empfindliches Auge trifft auf ein Fluidum, Licht oder Luft, nimmt die kleinsten Bewegungen an Gegenständen und im Schattenspiel wahr, an Wäldern, Wellen, Bäumen, an alten Bunkern, Wohnbaracken, Hochspannungsleitungen oder an Regenfäden. Immer entsteht der Eindruck erst im Auge des Betrachters. Das Schauen ist hier das eigentliche Ereignis:
auf den see hinausfahren, nachts, wenn die strömung
die farbe des wassers bestimmt. luft wandert, breitet sich aus
das land gibt nach unter dem druck der wirbel
die wellen durchdringen einander, weiße
lautlose strukturen, von den schatten der reling begleitet
nimmt die fähre kurs auf das andere ufer
was bleibt, rückt das auge weiter hinein
in die dünung hinter den planken. lichtflecken, hafenumrandung
der pegel beginnt zu steigen
erst das schauen entdeckt die bewegung
die das boot zu teilen scheint, ein zweiter umriß, der sich langsam
aus der dunkelheit löst, gehalten, ansichtig gemacht
vom blick. während die fähre ruhig, kaum merklich
in ihrem gegenstück verschwindet
wieder auftaucht, mit dem bug in der schwemmzone
die luft ist dünner, als das boot an der kaimauer anlegt
wasser sickert und die farben
gehen zurück, in der schicht zwischen land und wellen
in der brechung der wasserfläche, dort
wo die kälte sich sammelt, aufgestiegen vom grund
von der strömung ans ufer gezogen
Mir ist ja immer diese Wechselbeziehung des Wahrnehmenden, Sprechenden und der Szenerie, mit der er es zu tun hat, wichtig. Also es geht mir nicht darum, eine Landschaft einfach so zu beschreiben, sondern diese Wechselwirkung immer. Was passiert eigentlich? Wie stellt sich so etwas wie Welt überhaupt erst her? In diesem Zusammenspiel von Sprechen, Wahrnehmen und den Dingen, mit denen man es irgendwie zu tun hat. Und da ist gerade die Landschaft durch den Rhythmus des Schauens zum Beispiel sehr anregend, weil sich alleine schon so etwas wie dieser Rhythmus des Wahrnehmens in einen Rhythmus der Sprache übersetzt.
Das wandernde Auge tastet die feinsten Verästelungen der Landschaft und der Gegenstände ab, es hält die kleinsten Veränderungen des Wetters und des Lichtspiels fest. Und zwar ohne dass es eines lyrischen Ichs hierfür bedürfte. Nur in einer Abteilung, benannt „drei stimmen“, gibt es ein „Ich“, das von seinen Eindrücken berichtet:
KARBID
ich bin wieder unterwegs in die steppe, ich bin
an den rand der metallwand gedrängt, die geräte
drücken den beutel ins kreuz, vor dem fenster die zweige
huschen vorbei, und die kellervorräte
gehen allmählich zur neige. minus zwanzig grad
der andauernde schneefall hier hat die laune
nicht gerade verbessert, wolldecken werden verteilt
der schlafsack spannt sich, bis zum gesicht
nur eine kleine öffnung über mund und nase
die kohle, der karbidgeruch, ich atme langsam
vor mich hin, wie ein stück wäsche, das die luft
die durch die gänge zieht, verschluckt. die gedanken
schon wieder voraus im gelände, bodensondierung
das warten auf nachschub, immerzu hofft man
dass es wieder vorwärts geht, und hundert kilometer
weiter steht die grenze unter beschuß. Verrußte
stimmen, aus dem nebenwagen, knistern, nichts
bleibt verborgen, nur die manschetten, druckverbände
halten dicht, während im kopf, bei notbeleuchtung
das tauwasser rieselt. froststellen auf den bänken
die gelenke eingeknickt, sogar die beine seitlich fest-
gefroren, die brust macht einfach nicht mehr mit
Man hört es, die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate. Nico Bleutge weist in seinen Anmerkungen am Schluss darauf hin, dass ihm Gedichte von der Barockzeit bis heute als Resonanzboden für seine eigenen Verse gedient haben. Das Ergebnis ist ein Band mit 45 außergewöhnlichen und bemerkenswerten Gedichten, die mal in der Langform prosaisch, meistens jedoch in Strophen und manchmal auch als Fünf- oder Sechsszeiler daherkommen. fallstreifen ist in seiner sinnlichen Präsenz und in seiner sprachlichen Genauigkeit ohne Frage einer der besten Lyrikbände dieses Jahres.
Oliver Seppelfricke, Deutschlandfunk, 29.12.2008
Verführerische Ruhe
– Ein lyrisches Ich registriert ein zartes Lichtspiel: Häufig ist es äußerst still in den Gedichten, die Nico Bleutge in dem Band fallstreifen vorlegt. Mit seinem zweiten Gedichtband hat der 1972 in München geborene Autor, der 2006 mit dem Gedichtband klare konturen debütierte, bewiesen, dass er nicht mehr länger nur zu den außergewöhnlichen Talenten seiner Generation zählt. Ecce poeta! –
Häufig ist es äußerst still in den Gedichten, die Nico Bleutge in dem Band fallstreifen vorlegt. Ein lyrisches Ich registriert ein zartes Lichtspiel oder merkt auf, wenn ein leises Knistern an das hellhörige Ohr dringt. Blicke durchsuchen Landschaften, sie tasten sich behutsam in Gegenden vor und verweilen lange dort, wo sich Linien abzeichnen und leichte Wölbungen hervortreten. Manchmal irritiert ein Weißton das Auge. Es herrscht in diesen Gedichten eine verführerische Ruhe.
Ganz unaufdringlich wählt das lyrische Ich Perspektiven aus, die sich an winzigen Erscheinungen festmachen. Nichts Spektakuläres ereignet sich. Das „stumme sitzen“, von dem das Gedicht „aufgeblitzt“ spricht, scheint programmatisch für Bleutges neue Verse zu sein. Er lässt die Augen zu Sammlern werden und gestattet ihnen die Freiheit, sich zu nehmen, was sie interessiert.
Doch strebt dieses Erkunden nicht nach Besitz, sondern gefeiert wird der Augenblick des Sehens. „Aufgeblitzt“ ist auch der Titel des ersten von insgesamt sieben Teilen, die mit einem Minimum an Aktion auskommen. Dafür finden sich immer wieder Verweise auf Hand, Haut, Blick und Bild.
In den Räumen, die Bleutge in den ersten sieben Gedichten entwirft, passiert scheinbar nichts und dennoch herrscht in ihnen eine einzigartige, hochartifizielle Spannung. Das Wenige, was die Augen als Ertrag mitgebringen, reicht bis auf „die knochen“ und wird als ein „ziehen der glieder“ erfahren.
Der sieben Kapitel aufweisende Band ist klug und äußerst einfühlsam komponiert. Nachdem im ersten Teil Räume der Stille erkundet werden, öffnen sich mit dem Gedicht „dann, gegen mittag“, dem ersten, des mit „luft“ überschriebenen zweiten Teils, die Fenster zur geschäftigen Außenwelt:
dann gegen mittag, kommen die ersten
geräusche von der straße herauf, das klopfen von händen
auf stoff, die schnellen kinderstimmen. im gelände
zwischen den wohnblocks.
Dass die Luft dem lyrischen Ich diese Geräuschkulisse nicht erspart, sieht er ihr nach. Denn er verdankt der großen Bewegerin auf der anderen Seite Wolkenformationen und das Schauspiel von Wellenbewegungen am Meer. Angetrieben von „erkundungen / in der luft“, wie es in dem Gedicht „stadküste“ heißt, schaut sich Bleutge mit Vorliebe in Gegenden um, die kaum etwas herzugeben versprechen. Umso erstaunlicher sind seine lyrischen Erträge.
Wenn dem „stummen sitzen“ des anfangs erwähnten Gedichts ein gelassenes Unterwegssein folgt: „bin wieder unterwegs in die Steppe“, wie es in „karbid“ heißt, dann wird in „glas“ – „und langsam nur geht aus und wieder ein / was in die brennspiegel fällt, in seine augen“ wieder Kontakt zu den erkundenden Augen hergestellt.
Auf der Zitat-Ebene knüpft Bleutge in seinen Gedichten Kontakte zu Autoren wie Gunnar Ekelöf, Walter Benjamin, H.C. Artmann, Michael Hamburger oder Walter Kempowski. Die Berührungsstellen sind unscheinbar. Wie eingefroren liegen Zitate der schreibenden Kollegen in Bleutges Gedichten. Sie sind aufgehoben und eröffnen zugleich auch neue Räume, indem sie in Beziehung treten. Es handelt sich um Einladungen zum Gespräch.
Mit seinem zweiten Gedichtband hat der 1972 in München geborene Autor, der 2006 mit dem Gedichtband klare konturen debütierte, bewiesen, dass er nicht mehr länger nur zu den außergewöhnlichen Talenten seiner Generation zählt. Ecce poeta!
Michael Opitz, Deutschlandradio Kultur, 3.12.2008
Einsteins Kleiderschrank
Es hält sich die Anekdote, dass Einstein mehrere Garnituren der gleichen Kombination besaß, um so keine Gedanken daran verschwenden zu müssen, welchen Anzug es denn anzuziehen gelte. Es gab schlicht den nächsten Satz von der Stange. An eben jene Garderobe erinnert „fallstreifen“ bedauerlicherweise in weiten Teilen ungemein.
„die dinge, töne schienen ähnlich“
Das Sprachfeld ist recht eng gefasst, bewegt und wiederholt sich zwischen allzu vertrauten Vokabeln wie „rändern“, „flächen“, „licht“ und „farbe“, die bereits in klare konturen so prägend angeklungen sind. Selbst „rillen und wölbungen“ finden sich erneut. Haut und Häute, dicht an dicht. Ja, sogar die Blätter in ihrem altbekannten Zappeln und Zucken sind vertreten, ohne dass sich der Kontext ihrer Einbindung wirklich ändern würde.
Letztlich tönen nicht nur eine Vielzahl von Begriffen bekannt, auch ihr Passepartout ist häufig in kaum modifizierter Strich- und Farbführung angelegt: So streut sich e.g. Bleutges Passion für Lichtszenarien und die damit einhergehende direkte wie immanente Gestaltung von Bild und Text ein. Der Einfallswinkel der jeweiligen Ausleuchtungen aber gleicht dem Debütband wiederum zu sehr. „ein anderes licht, ein anderes schauen“ ist selten aufzutun – eher findet der Leser probate Lichtpausen.
Und dennoch entdeckt man gelöst davon zuweilen einen Sprachfluss, der weitaus assoziativer und sprungfreudiger wirkt, als im vorherigen Band. Es ist jedoch wieder der sprachliche Rahmen, der diese Sprünge schwerlich über ein vorskizziertes Spielfeld hinauskommen lässt:
es war von schnee die rede, seiner härte
schnee, der sich in spalten frißt und risse
im gelände hinterläßt, ich sagte schnee
[…] das bild sackte in sich zusammen
Setzt Bleutge dagegen dazu an, einen Schritt aus diesem Karree hinaus zu wagen, kommt es verschiedentlich zu eigentümlichen, teils unfreiwillig kuriosen Darstellungen:
das glühen in den achseln, fieber-
Gefühl
ist beispielsweise als Bild genauso unstimmig wie widerwillig amüsant.
Echolot Emphasen
Das Konzept des bewährten Konzeptes vollzieht sich zudem noch auf einer anderen Ebene: Es ist weniger ,Ausgehfleisch‘ und mehr Sitzfleisch, wenn sich auch das intertextuelle Dickicht erneut als Verästelung durch viele Stücke zieht. So sind in der Vielzahl der eingebauten Fragmente u.a. Bezüge zu Walter Kempowski, Thomas Kling und Michael Hamburger aufzulesen, die als Impulsgeber eingebaut werden. Zwar funktionieren die entsprechenden Zitate innerhalb der Texte gut, wirken wohl platziert und nicht so laut ansagend, als dass sie den mitunter versteckten ,Sprecher‘ vor dem Souffleur überlagerten oder ihm eine Interpretation der Szene aufdrängten. Allerdings ist es über den gesamten Band bemessen nicht nur das bekannte und geübte Schema des Einbindens, sondern gerade die Masse der Einschübe, die sowohl kritisch wie über-frachtend anmutet. Sicher kann gerade das manchen Lesern oder Rezensenten einen „intellektuellen Spaß“ bieten („FAZ“), nur sollte sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen lassen, ob man es mit solcherlei Bespaßung nicht überreizt, wenn der Großteil der Texte mit diesem Prinzip spielt und ob ein solches Ausmaß nicht als unnötiges Kokettieren verstanden werden kann.
„und was, wenn sich die möglichkeit nicht zeigt“
Überraschend positiv ist zunächst, dass Nico Bleutge stellenweise das „Ich“ von seiner bei ihm oftmals hintergründigen Position in fallstreifen vermehrt als ausgeschriebene Sprechinstanz agieren lässt, das außenstehende Subjekt zum direkt integrierten Ich teils explizit ausschreibt. Leider aber befremden einige der entsprechenden Gedichte mehr, als dass sie in Gänze überzeugen können. Nicht nur Formulierungen wie „mir wird noch afrikanischer zumute“ fallen für sich betrachtet und in ihrer Stellung innerhalb eines Gedichtes, das ein Kriegsgeschehen nachzeichnen mag, fraglich bis ungelenk auf. Überdies ist hier unklar, für was dieses bizarre, ,kontinentale‘ Befinden denn zu stehen gedenkt.
Insgesamt fehlt leider eine kritischere Auseinandersetzung mit den Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg, die Bleutge als Hintergrund für die besagten Zyklen angibt. Als Ausflug zu den „Resten des Zweiten Weltkrieges“ verkauft, als ein „Führen in die Vergangenheit“ ausgestellt, scheinen sie mehr undifferenziertes Geleit: Insbesondere Passagen wie „immer noch dreht sich der frontgedanke durch den kopf. ich taste nicht danach. ich lausche“ stehen par excellence für ein Nichthinterfragen und einen allzu harmonisch verklärten Übertrag fremder Kriegserinnerungen.
Auch wenn eine nahezu durchgehende und sehr gute Kältemetaphorik mit all ihrem Klirren und aufgeplatzten Lippen dagegen hält, so sind es doch die Natur- und Umgebungsbeschreibungen in ihrer Weichzeichnung, die – Auszügen, wie dem obigen direkt angestellt – für eine teils verstörende Poetisierung der Front sorgen:
fast spür ich mich als habicht,
fern dem ziesel, behaucht
Das lyrische Ich steht zudem, obwohl ausgeschrieben, wieder auf Distanz; nur in anderer Weise. Diesmal geschieht das nicht durch sein Auftreten über die bloße Wahrnehmungsinstanz, ohne dabei selbst genannt zu werden. Es ist eben jener Weichzeichnungsfilter in Flora und Fauna, der das Subjekt trotz Nennung bisweilen in die Unschärfe rückt. Aus dieser Perspektive heraus und nach dem Kontrast geurteilt, hat sich die Distanzschule des Ichs bei Bleutge in Ansätzen gehalten und trotzdem entwickelt.
Und doch: Sprühregen
Bei aller Kritik – es gibt sie: die feinen und versierten Gedichte, die so sehr nach Bleutge klingen, ohne sich im typischen und bekannten Vokabular zu verfangen, dies aus der Bewährung heraus schlicht wieder aufzugreifen oder eingesessene Konzepte aufzubacken. Texte wie „dann, gegen mittag“, „libellenkörper, wie erlegt“ oder „brennessel-schatten“ sind die anmutigen Stücke, denen man nachschaut, die begeistern können. Aber während sie als Sprühregen noch den Boden erreichen, schafft das fallstreifen insgesamt leider kaum:
nichts
will sich lösen, zeichen sein, was sich bewegt
scheint doch zu verharren […]
Simone Kornappel, titelmagazin.com, 17.11.2008
Hinterm Fenster
– Eine beeindruckend souveräne Neubelebung der Naturlyrik: Nico Bleutges Gedichtband fallstreifen. –
wind,
der die baumflächen angeht, die äste
in bewegung bringt, fest an den stamm
zurück mit wirbelnden Blättern
Ein Gespräch über Bäume? Und das in Zeiten von Klimawandel, globaler Finanzkrise und islamistischem Terror! Fast ein Verbrechen.
Zugegeben: Wer heute Naturlyrik schreibt, wird vielleicht nicht mehr ganz so scheel angesehen wie noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Doch die „Bewisperer von Gräsern und Nüssen und Fliegen“, wie der großstadterprobte, in Weinhäusern statt Weinbergen heimische Gottfried Benn seine Kollegen von der Abteilung Naturpoesie abschätzig nannte, gelten noch immer als eine etwas befremdliche, eskapistische Spezies. Und nicht einmal mehr das Etikett „Ökolyrik“ kann sie aus ihrer Randständigkeit ins Zentrum der politischen Tagesaktualität bugsieren.
Zum Glück ist der 1972 geborene, in Tübingen lebende Nico Bleutge mit allerlei poetischen Wassern gewaschen. Zum einen lebt seine Lyrik, die nicht nur Natur zum Thema hat, aber bemerkenswert menschenleer ist, von der Versiertheit im mündlichen Vortrag, was ihm unter anderem 2001 den Sieg beim Open Mike in Berlin eingebracht hat. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist –, merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind:
diesiger Mittag, die krähe
schwingt sich vom dach
ihr gezogener anflug
bindet die flächen der luft, nur
verzögert die landung
das haarfeine rucken
des blicks
hinterm fenster
Das beginnt ganz statisch, „diesig“ und träge, schwingt sich dann daktylisch vors Auge des Betrachters, verharrt im längsten Vers unmittelbar vor der Landung, ein kurzes Stocken durch das Enjambement zwischen „nur“ und „verzögert“, ehe das „rucken“ des Kopfes in den kürzesten Vers mündet, in dem sich das Auge der Krähe und das des Betrachters begegnen. Der Schlussvers trennt die beiden dann wieder in ein „vor“ und ein „hinter dem Fenster“, und das Bild kommt sanft ausschwingend zur Ruhe.
Zum Zweiten ist Nico Bleutge trotz seiner noch jungen Jahre das, was man als Poeta doctus bezeichnen könnte. Er kennt sich bestens aus in der lyrischen Tradition, und die umfasst keineswegs nur die literarische Moderne oder gar nur die Nachkriegszeit. Am Ende des Bandes nennt er die „Hintergrundstimmen“, die mit zum Teil expliziten Zitaten die Gedichte begleiten. H.C. Artmann, T.S. Eliot und Gunnar Ekelöf gehören ebenso dazu wie Jürgen Becker, Inger Christensen oder Thomas Kling. Aber auch Walter Kempowskis Echolot diente als Ausgangsbasis einiger Gedichte, ebenso wie Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Daneben sind es vor allem die Dichter des Barocks und der frühen Aufklärung, bei denen Bleutge in die Lehre gegangen ist, Andreas Gryphius, Albrecht von Haller und natürlich Barthold Heinrich Brockes, der Urvater aller modernen Naturpoesie. In seiner opulenten Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748) hatte er erstmals den Versuch unternommen, die in der Natur ablaufenden Prozesse nicht mehr allegorisch auf das Wirken Gottes zurückzuführen, sondern sie mit einem rein immanenten, „physikalischen“ Blick zu beschreiben. Natürlich verwiesen Schönheit und Reichtum der Natur letztlich noch immer auf eine göttlich fundierte ordo, die nun aber bereits pantheistisch angehaucht war. Der Herrgott war damit ein gehöriges Stück ferner gerückt.
Die Ordnung der Natur und der Welt in Bleutges Gedichten hat natürlich nichts mehr mit der Weisheit irgendeines Schöpfers zu tun. Sie entsteht einzig und allein im Auge des Betrachters, oder genauer: in den Sinnesorganen. Schauen, horchen, spüren – Bleutges Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das berühmte lyrische Ich auskommen. Der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in seine Wahrnehmungen, und von einem Ich ist bezeichnenderweise allenfalls in Zitatform die Rede, nämlich im „Fremdmaterial“, das Bleutge in seine Gedichte einbaut. Die Wahrnehmung ist dabei eine wissenschaftlich geprägte: Sie spricht von „sichtgrenze“, „wetterzone“, „strandlinien“, „fallstreifen“, und das eingangs unvollständig zitierte Gedicht über Bäume endet mit den Versen:
ein system von verbindungen
über dem winterasphalt
Doch anders als die „eisberichte“, die lediglich die „dicke der schichten“ festhalten, erzählen Bleutges Gedichte „vom schauen, vom horchen auf den zustand der luft“. Es geht hier schon längst nicht mehr um den Gegensatz Natur vs. Zivilisation. Die „stadtküste“ kann genauso schön sein wie die „strandhalme über der dünung“, und der „libellenkörper, wie erlegt“ wird nach eingehender mikroskopischer Betrachtung mit einer Nadel durchstochen und der Insektensammlung hinzugefügt. Der Blick reicht aber auch „weit hinein / in die schichten der landschaft“ und führt die historischen Dimensionen des Sichtbaren vor Augen: „und immer rollt mit / das gedächtnis“. „dies endlich stille tal, darin der wind sich dreht“ wird so zum Ort, an dem Idyll und Tod zugleich anwesend sind.
Als 2006 Bleutges erster Gedichtband, klare konturen, erschien, war das ein großes Versprechen. fallstreifen löst dieses Versprechen mit bewundernswerter Souveränität ein. Es wäre fast ein Verbrechen, diese Gedichte nicht zu lesen.
Andreas Wirthensohn, die taz, 18.10.2008
Ein anderes Schauen
Wenn Stille einkehrt in verlassenen Landschaften, wenn nur noch ein Flimmern oder Vibrieren der Luft zu registrieren ist – dann beginnt dieser Dichter seine „Sichtlinien“ zu ziehen. Nico Bleutge ist ein Dichter der feinen Wahrnehmungsnuance, ein skrupulöser Augenmensch und Ohrenzeuge, der sich bevorzugt an kaum sichtbare, kaum hörbare Dinge herantastet. Es sind oft nur Lichtwechsel, Schattenspiele, Wellenbewegungen und „das Gleiten empfindlicher Stoffe“, denen er mit seinem suchenden Blick folgt. Als 2006 Bleutges erster Gedichtband klare konturen erschien, staunte man über die Intensitäten dieser Wahrnehmungspoesie, in der es kein klar identifizierbares Ich mehr zu geben schien, sondern nur noch, so der Autor in einem Essay, einen „Kollektor von sinnlichen Eindrücken“. Tatsächlich ist es das fast trancehafte „Schauen“ selbst, der seine Objekte stetig suchende und fokussierende Blick, der in dieser Poesie zum Hauptakteur wird.
Dieser ganz an die Naturphänomene hingegebene Blick kehrt nun wieder im neuen Gedichtbuch Bleutges, das eine meteorologische Eigentümlichkeit in den Titel hebt: „Fallstreifen“ sind hauchdünne Schleier aus Regentropfen, feinste Feuchtkristalle, die noch vor Erreichen des Bodens verdunsten. Und auch diesmal fängt die hochempfindliche Wahrnehmungsapparatur des Subjekts kleinste Partikel ein, Luftströmungen, „ziehende flächen aus dunst“ oder „die wechselnden schatten der haut“. Dieses „andre schauen“ verwischt oft die Grenzen zwischen dem Subjekt der Wahrnehmung und den von ihm beobachteten Objekten, die in einem „andren Licht“ aufstrahlen.
In gleich drei Kapiteln erweitert Bleutge dieses Wahrnehmungsprogramm, in dem er den Oberflächenpositivismus überschreitet und auf alte sprachmagische Techniken zurückgreift. So evoziert das Gedicht „aufgeblitzt“, das den neuen Band eröffnet, einen eminent romantischen Vorgang der Verwandlung. Die Wetterzustände, Lichtverhältnisse und taktilen wie akustischen Erfahrungen, von denen der Dichter spricht, werden mystisch aufgeladen. Und für einen Moment scheint sich eine alte Utopie zu erfüllen – das Zusammenfallen von Name und Ding. Es ist die Erfahrung realer Präsenz:
es war ein wehen,
nahe, ungesprochen, das lauschen
wob sich tiefer ein.
Und obwohl das Gedicht deutlich auf einen technischen Apparat verweist, auf die mediale Präformierung der Wahrnehmungen auf einem Fernsehbildschirm, kommt es zu einer romantischen Verschmelzung à la Brentano und Eichendorff.
In seine Erkundung von „Wetterzonen“ hat Bleutge aber auch die Reflexion auf zeitgeschichtliche Erschütterungen eingeschrieben. So wird an einer Stelle der zarte lyrische Entwurf einer Küstenlandschaft mit der kühlen Darstellung von Befestigungsarbeiten verbunden. Die „eisberichte“ von einem „Weststrand“ im Winter 1939/40 werden zum diskreten lyrischen Geschichtsreport. In „drei stimmen“ ist auch das zuvor verschollene lyrische Ich wieder da. Hier nutzt Bleutge die Möglichkeiten des Rollengedichts und der Zitatmontage, um sich ganz nah an die aussichtslose Lage erfrierender oder verhungernder Soldaten und Partisanen heranzuschreiben.
Nico Bleutge hat sich nicht mit der blossen Variation seines Erstlings begnügt. In fallstreifen regiert nicht mehr nur ein Blick, „der in der landschaft suchen geht“. Das „Zeichnen nach der Natur“ hat seine Unschuld verloren, und Geschichte drängt sich vor:
und immer noch dreht sich der frontgedanke durch
den kopf. Ich taste nicht danach. Ich lausche.
Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 13.10.2008
Weitere Beiträge zu diesem Buch:
Jens Zwernemann: Jenseits der „klaren konturen“
literaturkritik.de, Januar 2010
Jochen Jung: Die Reibung der Luft
Der Tagesspiegel, 5. 10. 2008
Herbert Wiesner: Bleutge hört die Stimmen knistern
Die Welt, 27. 12. 2008
Beate Tröger: Kühle Romantik – Über die Lyrik von Nico Bleutge
literaturblatt für Baden-Württemberg, November/Dezember 2014
Paul-Henri Campbell spricht über Nico Bleutges Gedicht „[dicht noch gefächert vom licht]“
Mit Nico Bleutge One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG + Archiv + PIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Dirk Skibas Autorenporträts + Galerie Foto Gezett + IMAGO + Keystone-SDA
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Nico Bleutge liest zum Tag der Poesie und Wein in Ptuj, August 2013.








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